The Project Gutenberg EBook of Ferien vom Ich by Paul Keller



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Title: Ferien vom Ich

Author: Paul Keller

Release Date: May 23, 2009 [Ebook #28938]

Language: German

Character set encoding: US-ASCII


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FERIEN VOM ICH***





                       Paul Keller / Ferien vom Ich





                             _PAUL KELLER_

                             Ferien vom Ich

                                _ROMAN_


                       Deutsche Buch-Gemeinschaft
                                 _GMBH_

                                 _BERLIN_





                  Einbandentwurf von Hanne Maria Rudert





    Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, der Verfilmung, der
  Dramatisierung, des Nachdrucks und der Wiedergabe durch den Rundfunk,
                               vorbehalten

                            _Copyright 1915_
           _by Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn / Breslau I_
                           _Printed in Germany_





                            INHALTSVERZEICHNIS


     Nach meiner Heimkehr                 5
     Die feindlichen Staedte              12
     Das Modebad                         28
     Auf dem Weihnachtsberg              33
     Luise                               58
     Samariterdienste                    69
     In den Tagen des Werdens            77
     Das Kind                            88
     Vorarbeiten                         95
     Die "Neustaedter Umschau"           104
     Joachim                            116
     Weihnachten                        131
     Fuegung                             136
     Bauernanwerbung                    142
     Der Journalist                     161
     Die ersten Kurgaeste                181
     Sommerabend                        197
     Lorelei                            220
     Die "krummbeinige Medizin"         227
     In der Genovevenklause             233
     Die Schlacht bei Waltersburg       241
     Herbst                             248
     Von der weiblichen Putzsucht       271
       und Herrn Pieseckes Leiden
     Abschiedsabend                     281
     Gerichtliches                      288
     Aufklaerungen                       302
     Vom Bruder und seiner Frau         320
     Freund Stefenson                   343
     Der Fuchs und die Sibylle          355
     Advent                             367
     Hochzeit und Ende                  375






                           NACH MEINER HEIMKEHR


Der alte Johannisbrunnen rauscht wieder vor meinem Fenster. Hoch ragt das
Bild des Taeufers; aus der ehernen Schale, die seine erhobene Hand haelt,
plaetschert das Wasser hinab ins steinerne Becken. In alter Zeit soll ein
heidnisches Heer an diesem Brunnen voruebergezogen sein; die Recken haben
den rauhen Nacken gebeugt und sind hier getauft worden. Am naechsten Tage
fielen alle in der Schlacht. Ihre Leichname blieben liegen unter den
dunklen Baeumen der Waldschlucht, da die Krieger heimtueckisch erschlagen
wurden; aber am Abend, als die Sonne rot am Himmel brannte, kamen weisse
Schemen zum Stadttore herein, die hatten Kraenze um die Stirnen und
laechelten wie Kinder. Als sie am Brunnen vorbeizogen, liess der heilige
Baptista die eherne Taufschale fallen und faltete die Haende; denn diese
reinen Seelen brauchten kein Wasser der Gnade mehr. Die Gekraenzten zogen
langsam zum Stadttore hinaus, den Weihnachtsberg hinauf, und als sie auf
der goldglaenzenden Hoehe standen, winkten sie noch einmal herab ins Tal und
zogen dann fort, weit ueber die rote Sonne hinaus, und der Heilige am
Brunnenplatz schaute ihnen nach. Erst als es Nacht war, bueckte er sich
nach der verlorenen Taufschale, und nun haelt er sie wieder in erhobener
Hand seit vielen Jahrhunderten.

Das ist eine der vielen Sagen und Legenden von Waltersburg. Die
Waltersburger haben ganz eigene Geschichten. Sie borgen nicht von fremden
Gauen und Staedten; ihr romantisches Tal war immer so reich, dass sie
Fremdes nicht noetig hatten.

Der Johannisbrunnen! In seinem Becken liess ich als Kind meine Schifflein
schwimmen. Sie schwammen nach Amerika, nach Jerusalem oder gar bis ins
Riesengebirge. Mein Bruder Joachim, der mit auf dem Brunnenrande sass,
laechelte oft veraechtlich ueber diese Reiserouten. Er war drei Jahre aelter
als ich und schon Gymnasiast. Da verachtete er meine
Abcschuetzen-Geographie. Mit Schifflein spielte er nicht mehr; er liebte
nur wissenschaftliche Unterhaltung. So warf er Fische aus Blech, die ein
eisernes Maul hatten, ins Wasser und angelte mit einem Magneten nach
ihnen. Er hatte ein Senkblei, und wenn seine Fische nicht bissen, sagte
er: es laege am Wetter oder ich staende mit meinem infam weissen
Spitzenkragen zu nahe am Wasser und verscheuchte die Fische.

Unterdes fuhren meine Schiffe nach Jerusalem oder ins Riesengebirge, und
oben auf dem gruenen Balkon am Brunnenplatz sass unsere Mutter bei ihrer
Handarbeit und schaute manchmal zu uns herunter.

Wie kommt es doch, dass Menschen von einem solchen Brunnenrand fortziehen
koennen, dass er ihnen nicht lieber und groesser ist als alle Kuesten des
Ozeans?

Mein Bruder und ich sind fortgezogen, und die gute Frau auf dem gruenen
Balkon ist allein geblieben. Als Studenten kamen wir noch regelmaessig zu
den Ferien. Joachim aber war kaum mit seinen Studien fertig, als er seine
Ehe schloss mit jenem unselig schoenen Maedchen, dem die Schoenheit zum Fluche
gegeben war. Nach einem Jahre wurde das Kind geboren, und nach nur wieder
einem halben Jahre war ich dabei, als die Frau vor Gericht die Aussage
machte, sie habe sich selbst mit einem Revolver in die Brust geschossen,
weil ihr Mann sie nach einem furchtbaren Streit verlassen habe.

Nur meine Mutter und ich wussten, dass sie log. Der Fluechtige aber kam nicht
heim, auch dann nicht, als es uns endlich gelang, ihm mitzuteilen, dass er
ausser gerichtlicher Verfolgung sei.

Er floh nicht vor dem Gefaengnis; er floh vor dem Grauen, das ihm sein
junges Weib bereitet hatte und das auch die Rettung, die ihm ihre Aussage
brachte, nicht tilgen konnte.

Der Bruder verscholl in weiter Fremde, und die Mutter lehnte am
Balkonfenster und hoerte auf das Plaetschern des Johannisbrunnens. Sie
traeumte von fernen Ufern, an denen ihr Herzenssohn weilen wuerde, von
Gestaden, zu denen es keine andere Verbindung gab als die sehnsuechtig hin
und her gehenden Gedanken.

Als nun auch ich mein medizinisches Staatsexamen beendet hatte, sagte ich
zur Mutter, ich wolle bei ihr in der Heimat bleiben und ihr Trost sein.
Sie sah mich still an und schwieg, und es zuckte ein wenig um ihren Mund.
Da bat ich sie, zu reden und mir ihren tiefsten Wunsch zu sagen, und sie
sprach mit Worten, die sie sich aus dem Herzen riss:

"Geh fort ... in die Welt ... suche Joachim ... bringe ihn wieder!"

So bin ich fortgezogen, um meinen Bruder zu suchen. Und weil ich nicht
Geld genug hatte, jahrelang um die Erde zu reisen, wurde ich Schiffsarzt,
jetzt bei dieser, dann bei jener Gesellschaft, und kam fast in alle grossen
Haefen der Welt.

Ich fand ihn erst im fuenften Jahre meiner Wanderfahrt und waere bei
fluechtiger Begegnung wohl an dem veraenderten harten Mann mit dem fremden
Namen vorbeigegangen; aber ich traf ihn an Bord zwischen Rio und
Montevideo, da das Schiff tagelang nicht anhaelt, und wurde meiner Sache
gewiss, als der Fremdling sich ploetzlich scheu verbarg und weder an Bord
noch bei den Mahlzeiten mehr sichtbar wurde. Da suchte ich ihn in seiner
Kajuete auf. Er oeffnete auf mein Klopfen und bebte zusammen, als er mich
sah. Ich draengte ihn ohne weiteres in die Kajuete und schloss die Tuer.

"Ich will nur ein wenig mit dir reden, Joachim", sagte ich und wunderte
mich ueber meine ruhige Stimme; "du wirst es mir nicht abschlagen koennen,
da ich an die fuenf Jahre hinter dir her bin. Und dass ich auf dein Leben
und deine Entschluesse keinen Einfluss habe, weiss ich von vornherein. Also
versteck dich nicht!"

"Was willst du?" fragte er muehsam heraus.

"Ich will nicht viel. Ich will dich nur bitten, du moechtest von Zeit zu
Zeit, so alle Jahre einmal um Weihnachten, an die Mutter schreiben."

Da fiel er auf sein Bett und weinte rasend. Ich trat an das kleine runde
Kajuetenfenster, an das die Wellen klatschten, und schaute hinaus auf die
rollende See.

                                    *

Vorgestern bin ich nun heimgekommen nach Waltersburg zu meinem und seinem
silbernen Muetterchen. Ich muss schon "silbernes Muetterchen" sagen; denn
nicht nur die Haare sind silbern, auch das Gesichtchen, auch die schmalen
Haende. Alles ist kostbar, edel und weiss an ihr.

Sie fragte mich nur das eine: "Ist er gesund?"

Ich sagte ihr, was ich wusste, auch dass er ein braver Mensch geblieben sei,
woran wir beide niemals gezweifelt hatten. Dann, dass er in einer
geachteten Stellung und wohl ein reicher Mann sei oder es doch werde.
Darauf hoerte sie kaum, sondern schlug die Haendchen zusammen und jammerte:

"Warum? Warum?"

Das war die schwere Frage, ueber deren richtige Beantwortung ich mir auf
der Heimreise den Kopf zerbrochen hatte. Ganze Abhandlungen hatte ich in
meinem Hirn ausgearbeitet, schlagende psychologische Begruendungen fuer eine
Mutter, die fragt: Warum gibt mein Sohn keine Nachricht? Warum kommt er
nicht zurueck? Warum laesst er mich in dieser furchtbaren Einsamkeit und
Qual?

Da sagte ich ihr nur die wichtigsten Saetze, die Joachim gesprochen:

"Ich hab wohl hundertmal geschrieben und tausendmal schreiben wollen. Aber
ich hab keinen Brief abgeschickt. Ich hatte eine schreckliche Angst, dann
schreibt ihr wieder, und dann halte ich's nicht aus in der Fremde, dann
muss ich zurueck in diese verfluchte Heimat."

Sie war ein wenig betaeubt ueber diese Worte; aber dann glomm eine Hoffnung
auf in ihren Augen, und sie sagte:

"Aber jetzt wird er schreiben?"

"Ja, jetzt wird er schreiben; das ist das einzige, was ich nach meinem
langen Suchen erreicht habe."

"Ich danke dir, lieber Fritz", sagte sie und drueckte mir schuechtern die
Hand.

                                    *

Nun bin ich beinahe eine Woche zu Hause und fange an, mich gluecklich zu
fuehlen und zu freuen. Ich glaube, zu den Freuden, die schwer zu tragen
sind, gehoert die Heimkehr aus fremden Landen. Und nicht bloss mir in meinem
besonderen Falle wird es so gehen, nein, allen, die lange draussen waren
und wieder nach Hause kommen. Es ist viel Scheu, viel Bangigkeit in der
Seele, die Quellen der Lust und des Schmerzes fliessen zusammen wie in
einen tiefen Bronnen, aus dem erst langsam, wenn sich der zitternde
Spiegel beruhigt hat, das Himmelsgesicht des Gluecks auftauchen kann. Es
gibt wohl keinen Heimkehrenden, der laut lachte, tanzte oder spraenge. Ich
habe in fremden Laendern viele robuste Burschen gesehen, die in ihre Heimat
zurueckkamen, und es war ganz gleich, welcher Farbe oder Rasse sie waren -
sie waren schuechtern und verlegen, gingen alle ein wenig mit
zusammengezogenen Schultern, sprachen seltsam leise und traten nicht fest
auf, als ob sie der Heimaterde nicht weh tun wollten. Sie mussten sich alle
in der Heimat erst wieder heimfinden. Es ist auch ganz natuerlich: der
Star, der aus dem Sueden an den heimischen Kasten kommt, pfeift auch nicht
am ersten Tage. Er schuettelt in der entwoehnten Luft erst sein Gefieder
zurecht.

                                    *

Die Mutter steht immer am Fenster und schaut nach dem Brieftraeger aus.
Aber der Brief, auf den sie wartet, kommt nicht. Er koennte laengst da sein.
Ich telegraphierte schon zweimal heimlich nach Rio. Es kam aber keine
Antwort.

Und die Mutter steht und wartet. Ich versuchte es mit der alten Ausrede,
ein Brief koenne verlorengehen, zumal auf so langem Wege. Aber die Mutter
schuettelte den Kopf und sagte:

"Einen solchen Brief wuerde Gott behueten."





                          DIE FEINDLICHEN STAeDTE


Ich muss versuchen, wieder lustiger zu sein. Herrgott, ich bin doch ein
junger Mensch, ich habe meine Aufgaben, und meine Kraft darf nicht in
sehnsuechtigem Suchen, am Trotz des Bruders zerschellen. Also will ich
heute gar nichts von ihm aufschreiben, sondern einmal die naerrische
Geschichte von der Feindschaft der Waltersburger und der Neustaedter zu
erzaehlen beginnen.

Waltersburg ist eine in einem wunderschoenen Talkessel gelegene Stadt von
2967 Einwohnern. Solches besagte die letzte Zaehlung. Der Personenstand
wies im letzten Jahrhundert immer ziemlich dieselbe Hoehe auf; auf runde
3000 kam er nie hinauf. Da machte unser Buergermeister, Herr Wilhelm
Bunkert, eine bedeutsame Stiftung: der dreitausendste Einwohner, der
Waltersburg Anno 1904 geschenkt wuerde, solle eine goldene Uhr bekommen,
Herrenuhr oder Damenuhr, je nachdem es ein maennliches oder ein weibliches
Wesen betraefe, und diese Ehrengabe wolle er, der Buergermeister, aus
eigenen Mitteln bestreiten. Die Sache stand im Stadtblatt und wurde viel
bewundert. Im naechsten Jahre kamen viele Kinder zur Welt; die Zaehlung
wurde nicht bloss vom Magistrat, sondern auch von der Buergerschaft sehr
eifrig betrieben, und da die Einwohnerschaft auf 2998 stieg, entstand in
der zweiten Haelfte des Dezember zwischen der Frau Schneidermeister Lembke
und der Frau Schuhmachermeister Abelt eine bittere Feindschaft, da beide
hofften, noch vor Ablauf des Jahres eines Kindleins zu genesen. Am
30. Dezember gebar Frau Lembke eine Tochter. Ihr Mann, anstatt sich des
bluehenden Toechterchens zu freuen, ging in die Schenke und betrank sich vor
Aerger, wie er sein Lebtag sich nicht betrunken hatte. Dem Ehepaar Abelt
aber klopfte das Herz. Am Silvesternachmittag gebar die Frau einen Sohn,
und der entzueckte Vater stuerzte nach dem Rathause und schrie: "Der
dreitausendste Einwohner! Der dreitausendste Einwohner!" Im Vorzimmer des
Buergermeisters aber begegnete dem Siegestrunkenen eine schwarze Gestalt.
Es war die Frau des Webers Michalke, die soeben den Tod ihres Mannes
angemeldet hatte. Da waren es wieder nur 2999. Der arme Schuster torkelte
gegen die Wand, und dumpf hallten die Silvesterglocken in die Nacht ueber
diese so wenig vom Glueck beguenstigte Stadt.

Der Buergermeister hielt sein Angebot auch fuer das kommende Jahr aufrecht,
und einige werdende Muetter wiegten sich in goldenen Hoffnungen. Aber der
Tod hielt reichere Ernte als sonst, auch zog der Barbier mit seiner
siebenkoepfigen Familie nach Neustadt, und nun hielt der geizige erste
Ratsmann, Baeckermeister Schiebulke, es fuer den richtigen Zeitpunkt, sich
als einen Goenner der Stadt zu bezeigen und auch seinerseits fuer den
dreitausendsten Einwohner eine Praemie auszusetzen, und zwar ein neues
Fahrrad, je nachdem ein Herren- oder Damenrad. Die Sache kam ins
Stadtblatt, und die Buerger lachten. Ob Schiebulke vielleicht meine, ein
neugeborenes Kind koenne radeln, wurde der Stifter befragt. Ob die andern
vielleicht meinten, ein neugeborenes Kind koenne von einer Uhr die Zeit
ablesen, gab Schiebulke giftig zurueck. Da setzte der Wirt vom "Goldenen
Loewen", der ein reicher Mann und ein wenig ruhmsuechtig ist, einen
erschrecklich hohen Trumpf auf:

"Goldene Uhr und Fahrrad", sagte er, "sind gute Dinge. Nur leider die
Kinder wachsen langsam, und solche Dinge veralten schnell. Was allein
nicht veraltet, ist das Geld. Ich will meiner Vaterstadt meine Liebe
beweisen und lege 5000 Mark in die staedtische Sparkasse fuer den
dreitausendsten Buerger, den Waltersburg in diesem Jahre erhaelt." So
lautete die Stiftung, die im Stadtblatt publiziert wurde und ungeheure
Aufregung hervorrief.

Und da kam das Unerwartete, wie in solchen Faellen ueberhaupt meist etwas
Unerwartetes geschieht.

Die Einwohnerschaft von Waltersburg hatte die Hoehe von 2993 erreicht, als
der vor kurzem nach Neustadt uebersiedelte Barbier Arthur Heilmann mit
seiner Frau und seinen fuenf Kindern sich wieder in Waltersburg ansiedelte
und glueckstrahlend die goldene Uhr, das Fahrrad und die fuenftausend Mark
fuer sich in Anspruch nahm, da mit seinem Zuzug die Zahl dreitausend
erreicht war. In Waltersburg brach eine Revolte aus. Man wollte den
frechen Barbier samt Weib und Kindern lynchen. Man schrie, das sei Betrug,
das gaelte nicht, das sei ja ganz anders gemeint gewesen. Der Barbier, der
zuvor bei einem Rechtsanwalt in Neustadt gewesen war, bewahrte seine Ruhe,
und Amtsrichter Knopf, der angesehenste Jurist in Waltersburg, erklaerte im
Magistratskollegium, am Stammtisch und wo immer man es hoeren wollte, unter
Hinweis auf verschiedene Gesetzesparagraphen: es handle sich hier um eine
oeffentliche Auslobung, deren Inhalt durch den Barbier Heilmann erfuellt sei
und dem daher unzweifelhaft die drei ausgesetzten Praemien zufielen.

Aller Ingrimm der Welt haette an der Tatsache nichts geaendert: Heilmann
bekam die Preise.

O unglueckliches Waltersburg! In der Stadt war dumpfe Trauer, Zorn und Hass,
und alle Maenner gelobten, bei diesem Barbier sich nie den Bart schaben
oder die Haare schneiden zu lassen.

Darauf rechnete aber der abgefeimte Schaumschlaeger gar nicht, sondern er
zog schon nach Ablauf eines Vierteljahres wieder nach Neustadt zurueck und
nahm die Preise mit.

Waltersburg zaehlte nach diesem Abzug 2993 Bewohner. Die Auslobungen wurden
nicht erneuert. Das ist nun einer der Faelle, aus denen das feindselige
Verhaeltnis zwischen Waltersburg und dem benachbarten Neustadt schon
einigermassen erhellt.

                                    *

Die Zeit meiner Abwesenheit hat an dem feindlichen Verhalten der beiden
Staedte Waltersburg und Neustadt nichts geaendert. Und doch ist Neustadt
eine Tochterstadt von Waltersburg, die beiden Orte sind in der Luftlinie
kaum drei Kilometer voneinander entfernt und nur durch den maessig hohen
Weihnachtsberg getrennt. Nicht nur, dass die beiderseitigen
Gemeindekollegien miteinander in Hader liegen und sich die zwei
Stadtblaettchen staendig befehden, der Hass gegen die Nachbarstadt bringt
auch noch heute die Koepfe der Waltersburger Stammtischphilister in
Gluthitze und uebertraegt sich sogar auf die Frauen und Kinder.

Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sich Waltersburg
eines geradezu paradiesischen Friedens erfreut. Die Hussiten sind an ihm
vorbeigezogen, die Horden des Dreissigjaehrigen Krieges haben vergessen, die
Stadt auszupluendern, so dass Waltersburg mit seinen damals 2000 Bewohnern
nach dem Westfaelischen Frieden eine der volkreichsten Staedte Deutschlands
war, ein Umstand, ueber den in der Stadtchronik des weiten und breiten
geredet wird; von den Fritzeschen Regimentern hat nur eines einmal drei
Tage lang in Waltersburg Station gemacht, was den Stoff fuer ein weiteres
Viertel der Chronik bildet, und auch die Siegerscharen Napoleons haben
keine besondere "_gloire_" darin erblickt, die Stadtmauern von Waltersburg
zu berennen. So war das weisse Lamm in gruenem Felde ein sehr angebrachtes
Wappentier fuer die friedfertige Stadt, und es gehoerte schon die ganze
boshafte Niedertracht der Neustaedter dazu, zu behaupten, weiland der
geistvolle Hohenstaufe Friedrich II. haette den Waltersburgern das Lamm fuer
ihr Stadtwappen nur darum verliehen, weil er ihre ureigentuemliche und
unausrottbare Schafkoepfigkeit wohl erkannt habe.

Solch grobe Beleidigung strafen die Waltersburger mit eiskalter
Verachtung; dagegen erhitzen sie sich noch heute sofort, wenn die Rede
einmal auf den Bahnbau kommt.

Als nach dem siebziger Kriege sich in Deutschland die Eisenbahnen mehrten
wie nach einem fruchtbaren Regen im Garten die Wuermer, hatte die Regierung
dem Rat angeboten, eine neue Hauptstrecke ueber Waltersburg zu fuehren, ja
die Stadt zu einem Eisenbahnknotenpunkt zu machen. Dieses Anerbieten hatte
die Buergerschaft in die allerschwerste Sorge gestuerzt. Sie sandten zum
Kaiser nach Berlin eine Deputation mit der Bitte, der Landesvater moege das
schwere Unheil, das den Frieden und die Ruhe der treuen Stadt Waltersburg
bedrohe, allergnaedigst abwenden. Die Deputation wurde zwar nicht
empfangen, brachte aber in aller Stille ein kraeftiges Wort mit heim, das
ein Geheimer Rat im Eisenbahnministerium gesprochen hatte, und das nicht
viel schmeichelhafter klang als die Neustaedter Auslegung des Waltersburger
Wappentieres.

Die Hauptsache war: die Bahn kam nicht nach Waltersburg. Sie wurde
jenseits des Weihnachtsberges, etwa sechs Kilometer von der Stadt
entfernt, vorbeigefuehrt. Daselbst wurde auch ein grosser Bahnhof angelegt,
da sich in der Tat die Notwendigkeit herausgestellt hatte, an diesem Orte
einen Kreuzungspunkt zu errichten, und die Station fuehrte, da sie doch
benannt werden musste, den Namen "Waltersburg-Neustadt".

Die Waltersburger lachten. Sie hatten jetzt eine Eisenbahnstation, aber
diese Station konnte ihnen nichts anhaben. Spaeter hat ein Dichter in der
"Neustaedter Umschau" ein Poem veroeffentlicht, in dem es hiess:

  _"Die Waltersburger, die sind gar pfiffige Leut,_
  _Sie sind nicht nur pfiffig, sie sind grundgescheut,_
  _Sie haben eine Bahn, die woanders 'rum geht,_
  _Sie ham einen Geldschrank, der im Nachbarhaus steht;_
  _Sie fuettern der Hasen und Rehe wohl viel,_
  _Doch treiben sie alle dem Nachbar vors Ziel;_
  _Sie sperr'n ihren Fluss, dass kein Fisch hineinschwimmt_
  _Und zuviel von dem sehr guten Wasser wegnimmt;_
  _Und waer' mal ein Maederle gerne gekuesst,_
  _Da wartet's, bis auswaerts ein Kirmestanz ist."_

Fuer dieses Gedicht hat sein Verfasser von den Neustaedtern viel Lob und von
den Waltersburgern gelegentlich recht ordentliche Pruegel geerntet.

Neustadt verdankte seine Gruendung einem trutzigen Buerger von Waltersburg,
dem Baumeister August Bunkert, der als einziger in der ganzen Stadt
Waltersburg Tag und Nacht geredet hatte, die so guenstige Gelegenheit,
einen grossen Bahnhof an die Stadt zu bekommen, nicht zu verpassen. Als er
mit seinen Ideen nicht durchdrang, im Gegenteil viel Anfeindung erfuhr,
die bis zu persoenlichen Feindschaften ausartete, und sich insonderheit mit
seinem einzigen Bruder, Wilhelm Bunkert, der jetzt Buergermeister von
Waltersburg ist und damals zu der Berliner Deputation gehoerte, in bitterem
Hader entzweite, zog der Baurat aus dem Hause seiner Vaeter aus und baute
jenseits des Berges dicht neben den neuen Bahnhof ein grosses Hotel, dem er
den Namen "Zur guten Hoffnung" gab. Die "gute Hoffnung" erwies sich
zunaechst als schlecht; denn da das Hotel auf blossem Felde stand, alle
Eisenbahnpassagiere aber fanden, dass sie in der menschenleeren Wald- und
Wiesengegend nichts zu suchen haetten und darum immer schleunigst
weiterfuhren, stand das Hotel Jahr und Tag leer, die wenigen Bahnbeamten
abgerechnet, die am Abend ihr Schoepplein tranken, und an August Bunkert
kroch langsam die Pleite heran. Die Waltersburger meinten, dass der
neuerungssuechtige Trotzkopf dieses Schicksal wohl verdient habe, aber zu
ihrer Ehre muss gesagt werden, dass Bunkert vielen leid tat und dass man dem
verlorenen Sohne gern verziehen und ihm auf die eine oder andere Art
wieder auf die Beine geholfen haette, wenn es dem Ausreisser nur eingefallen
waere, zurueckzukommen, seinen Irrtum einzugestehen und die vorsichtige Art
der Waltersburger zu loben, die er ehedem so heftig angegriffen hatte.
August Bunkert aber dachte nicht daran, den Reuigen zu spielen, und auf
einen Brief seines buergermeisterlichen Bruders, worin dieser fragte, ob er
denn auch den Rest seines schoenen vaeterlichen Erbes noch vollends
verschleudern wolle, gab er keine Antwort. Da wurde er seinem Schicksal
ueberlassen. Dieses Schicksal gestaltete sich guenstig. Die grosse
Bahnhofswirtschaft, die August Bunkert uebertragen wurde, hielt ihn
zunaechst ueber Wasser, und endlich gelang ihm der grosse Schlag. Er brachte
eine Gesellschaft von bedeutenden Geldleuten der Grossstadt zusammen und
kaufte als deren Funktionaer oder Generaldirektor, wie er sich lieber
nannte, alles Waltersburger Gelaende auf, das jenseits des Weihnachtsberges
gelegen war. Die Waltersburger schlugen die Haende ueber den Koepfen
zusammen. Hundert Taler ueber den ortsueblichen Preis hinaus gab Bunkert fuer
jeden Morgen Feld-, Wald- oder Wiesenland, und die Besitzer beeilten sich,
ihre entlegenen Laendereien unter so glaenzenden Bedingungen loszuwerden.
Innerhalb von eineinhalb Jahren besass kein Waltersburger mehr jenseits des
Berges auch nur einen Halm.

Die ganz Gewissenhaften aber schuettelten die Koepfe und sagten: Dieser
Bunkert lockt seinen Auftraggebern das Geld aus der Tasche; er ist ein
Hochstapler, und man sollte doch sehr ueberlegen, ob man den unangebrachten
Preis annehmen duerfe, den die neuen Besitzer aus dem Wald- und Wiesenland
nie und nimmer herauswirtschaften koennten. Doch auch diese ganz
Gewissenhaften beruhigten sich und nahmen das Geld.

O du grossmaechtige Verwundernis! In dem prachtvollen Hochwald, den August
Bunkert erworben, an den gruenen Wiesen, am Flussufer, den Weihnachtsberg
hinauf, entstand ein schmuckes Landhaus nach dem anderen,
Einfamilienhaeuser, Sommerwohnungen, Baderaeume, ein Kurhaus, eine
"Wandelhalle" bauten sich auf, ein Basar fuer Lebensmittel, ein anderer fuer
"Bekleidungs- und Gebrauchsgegenstaende" wurde errichtet, Hunderte und aber
Hunderte von Arbeitern waren das ganze Jahr beschaeftigt. Und alle Haeuser
baute der Baumeister August Bunkert und wurde ein schwerreicher Mann.

Noch staunten die Waltersburger, noch lachten einige spoettisch und
veraechtlich, aber manch einer schwieg schon nachdenklich und dachte bei
sich: Was tut sich? Da erschien in den grossen hauptstaedtischen Blaettern
ein Inserat: "Waltersburg-Neustadt, entzueckend am Suedabhange des 450 Meter
hohen Weihnachtsberges gelegen, mitten in prachtvollem Hochwald, in gruenes
Wiesen- und Flussland gebettet, ein Paradies der Gesundheit und des
Naturgenusses, bei vorlaeufig nur fuenf Mark pro Quadratmeter Bauland
(Anzahlung von 3000 Mark an) fuer alle, die sich ein Eigenheim gruenden
wollen, eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Nur fuenfviertel Stunden von
der Hauptstadt entfernt. Grosser Eisenbahnknotenpunkt. Haltestelle aller
Schnellzuege. Taeglich zwoelfmal Verbindung mit der Hauptstadt. Anfragen an
Generaldirektor Baumeister August Bunkert in Neustadt erbeten."

Die Proklamation des Deutschen Reiches kann seinerzeit in Berlin keinen so
grossen Eindruck gemacht haben wie dieses Inserat in Waltersburg. Die Leute
lachten, wimmerten, fuchtelten mit den Armen und waren voll neidischer
Beklommenheit. Am Abend sass ein ganzer Stammtisch im "Goldenen Loewen" mit
der Kreide vor der Schiefertafel und wollte ausrechnen, wieviel ein Morgen
Land koste, wenn das Quadratmeter auf fuenf Mark komme. Niemand kriegte es
heraus, und alle schimpften auf die neumodische Rechnungsart. Selbst den
Amtsrichter Knopf verliess seine akademische Bildung; er knurrte, er habe
ja nicht Mathematik studiert, und solche Aufgaben koenne ueberhaupt immer
nur ein Volksschullehrer herauskriegen. Also schickte man nach dem Lehrer
Herder, und der erklaerte:

"Ein Morgen altes Mass ist ungefaehr ein Viertel Hektar. Ein Hektar hat
10 000 Quadratmeter; ein Viertel Hektar ist also 2500 Quadratmeter gross.
Kostet ein Quadratmeter fuenf Mark, so kostet ein Morgen 2500 mal soviel,
also 12 500 Mark."

Als der Lehrer Herder dieses Resultat nannte, schlugen die zehn Maenner,
die noch mit am Tische sassen, heftig mit den Faeusten auf den Tisch, und
zwar alle wie auf Kommando mit einem Hieb. Man schrie den Lehrer an, er
muesse sich taeuschen. Der aber sass mit der Wuerde eines Mannes, der von der
Unverletzlichkeit und Beweiskraft der Zahl ueberzeugt ist. Sein ganzes
Wesen sagte: meine Rechnung stimmt.

Da wurde zunaechst eine grosse Stille. Dann sagte einer: "Wenn das wahr ist,
sind die Kerle grosse Gauner; 1000 Mark haben sie fuer den Morgen gegeben,
12 000 Mark verlangen sie."

Schweigen. Nach fuenf Minuten griff Amtsrichter Knopf die letztgenannten
Ziffern auf und sagte:

"Sie arbeiten mit elf Prozent."

"Elf Prozent gibt ja das Gesetz nicht zu", bemerkte der
Erbscholtiseibesitzer Hirsemann mit einem Blick auf den Amtsrichter.

Der schuettelte den Kopf, was in diesem Falle "ja" und "nein" heissen
konnte. Da ergriff der Lehrer Herder wieder das Wort und sagte:

"Entschuldigen die Herren, wenn man mit 1000 Mark kauft und mit 12 000
Mark verkauft, so sind das nicht elf Prozent, sondern elfhundert Prozent
Gewinn."

Sie starrten ihn alle an wie leblos. Nur Baeckermeister Schiebulke, der
gerade trank, verschluckte sich. Der Amtsrichter geriet ins Gruebeln. Seine
Seele wanderte zurueck bis etwa in die Tertianerzeit, und dann sagte er:

"Ja, natuerlich, es sind nicht elf, sondern 1100 Prozent."

Da hoben sich die Faeuste, um auf den Tisch zu donnern, aber diese
Ueberraschung war zu gross und schwer; die Haende sanken still herab ...

Was die allergroesste Hauptsache war: Neustadt, das den Namen Waltersburg
zum grossen Ingrimm der Mutterstadt nach und nach ganz abgestreift hatte,
war auf dem besten Wege, ein aufbluehender Badeort zu werden. Zwei
"Quellen" waren entdeckt worden, von denen die eine "Kaisersprudel", die
andere "Felsensprudel" hiess, und die beide nach dem Gutachten eines
sachverstaendigen Professors aus der Hauptstadt "hervorragend radioaktiv"
waren. Die Neustaedter feierten Siegesfeste, waehrend die Waltersburger vier
Wochen lang brauchten, ehe sie das Wort "radioaktiv" richtig aussprechen
konnten, und natuerlich auch dann noch nicht wussten, was das sei.

Humbug sei es, meinte der Amtsgerichtsrat, und wenn man dieser Auslegung
auch viel Beifall zollte, so verschafften sich doch einige Waltersburger
heimlich je drei Flaschen von den neuen Sprudeln, und abends wurde im
"Loewen" statt der sonst so beliebten Weinprobe eine Wasserprobe
abgehalten. Der Pfropfen der ersten Flasche flog mit einem Knall gegen die
Decke.

"Wie - wie bei Champagner", stammelte Herr Hirsemann.

"Bloedsinn", knurrte der Amtsgerichtsrat; "das is Kohlensaeure; die is dem
Wasser eingepumpt; alles kuenstlich, nichts natuerlich; ich kenn doch die
Wasserpfuetzen drueben - Betrug is es, glatter Betrug!" So wartete man, bis
sich die Kohlensaeure verfluechtet hatte, dann trank der Baecker und sagte:

"'s schmeckt 'n bissel salzig."

"Weil Sie heut abend wieder Salzhering gegessen haben", grollte der
Richter.

"Salzig kann man nicht sagen", meinte der Getreidekaufmann Schneider,
"sondern so mehr saeuerlich!"

"Ja, weil Sie von gestern noch 'ne saure Schnauze haben", zuernte Herr
Knopf.

Unter solchen Umstaenden haette der Loewenwirt, der auch mit probierte, mit
seiner Aeusserung, das Wasser scheine ihm aber stark nach Schwefel zu
schmecken, zurueckhalten sollen; denn der schlecht gelaunte Richter fuhr
ihn an: "Mensch, wenn Sie tagaus, tagein nischt anderes rauchen als Ihre
eigenen Zigarren, muss Ihnen natuerlich alles nach Schwefel schmecken."
Darauf einigte man sich endlich: dieses Wasser schmecke wie jedes andere
gewoehnliche Brunnenwasser und sei keinen Pfifferling wert.

Ganz kurze Zeit darauf gab es in Waltersburg eine neue Aufregung. Die
Neustaedter hatten sich fuer ihr Bad einen Propagandachef engagiert.

"Propagandachef!" - Dieses Wort war in Waltersburg seit Erschaffung der
Welt noch nicht einmal ausgesprochen worden. Die Neustaedter aber wussten
nicht bloss, dass es so etwas gaebe, sie engagierten es sogar. Und der
Propagandachef war ein Jude. Als das bekannt wurde, sagte der Baecker
abends im "Loewen":

"Die Kerle in Neustadt verlieren den letzten Rest von Schamgefuehl."

Aber da widersprach der Amtsgerichtsrat, hauptsaechlich deswegen, weil er
immer widersprach:

"Jude hin, Jude her! Es is 'n alter Witz, dass in den ganzen Antisemitismus
nich eher 'n richtiger Schwung kommen wird, ehe ihn nicht die Juden selbst
machen. Wenn die Neustaedter ihre faule Sache deichseln wollen, mussten sie
'n Juden nehmen, 'n Christ ist viel zu daemlich dazu."

Der Baecker stand auf und ging. Wenn freigeistige Reden gehalten wurden,
verliess er das Lokal.

Nach etwa sechs Wochen erschien der erste Prospekt von dem Bade Neustadt.
Es war ein entzueckend ausgestattetes Heftchen von Kunstdruckpapier, mit
reizenden bunten und Lichtdruckbildern ausgestattet, und das Werkchen
pries Neustadt in so berueckender Form, dass eigentlich jeder Mensch zu
bemitleiden war, der nicht augenblicklich seine Koffer packte und nach
Neustadt abreiste ...

                                    *

Die feindlichen Staedte! Vielleicht, dass mir der lustige Hader die Zeit
verkuerzt. Von Zeit zu Zeit will ich etwas von ihm im Tagebuch
vermerken ... Joachim hat an die Mutter ein Telegramm gerichtet. "Ich kann
nicht mehr schweigen; ich gruesse dich und Fritz. Aber schreibt mir keine
Briefe, telegraphiert nur, ob ihr gesund seid."

Mit diesem Telegramm sass die Mutter am Tisch, als ich heute abend nach
Hause kam. Sie sprach nicht, sondern uebergab mir nur wortlos die Depesche;
aber sie sah mich stolz und verklaert an, als wollte sie sagen: "Sieh,
solch einen guten Sohn habe ich!" "Ich freue mich ueber Joachim", sagte ich
und liess sie allein. Von meinem Zimmer sah ich nach dem Johannisbrunnen
hinunter, dessen Wasser einfoermig rann.

Die Seele des fernen Bruders war immer noch krank. Er vertrug keine
Nachricht aus der Heimat. Heimat war ihm in Hoelle gewandeltes Paradies. Es
gab einmal ein Weib, das er mehr liebte als alles, die Mutter mit
einbegriffen; es war einmal ein Freund, der ihm naeher stand als der
Bruder, und es war eine schoene Stadt, die ihm lieber war als der
Geburtsort; das war Heidelberg.

In Heidelberg hat ihn die Frau mit dem Freunde betrogen.

Darueber kommt nun der Mann, der zwischen Rio und Montevideo hin und her
faehrt, nicht mehr hinweg.





                               DAS MODEBAD


Dieser 5. April war ein sehr merkwuerdiger Tag. Ich war drueben in Neustadt
und besah mir den neuen Badeort; denn ich war mir immer noch nicht ganz im
klaren, ob ich Badearzt in Neustadt werden oder lieber die Praxis des
alten Sanitaetsrats in Waltersburg uebernehmen solle. Der Alte will sich zur
Ruhe setzen. Um die Wahrheit zu sagen, er sitzt eigentlich schon sein
ganzes Leben lang zur Ruhe. Den Waltersburgern faellt es niemals ein, krank
zu werden. Der alte Pfarrer hier, der etwas derber Art ist, sagt: "Wenn
einer nicht gerade unverschuldet verunglueckt, ist es eine Schweinerei,
krank zu werden. Denn wenn einer vernuenftig lebt, wird er eben nicht
krank, ebenso wie keiner ins Zuchthaus kommt, der nicht was ausfrisst." So
erschien dem Pfarrer der Sanitaetsrat immer hoechst ueberfluessig, wie
andererseits dem Sanitaetsrat, der ein Freigeist ist, der Pfarrer
ueberfluessig erscheint. Persoenlich aber vertragen sie sich recht gut,
spielen auch manchmal Karten miteinander, was ihrer lebenslangen
gegenseitigen Abneigung keinen Eintrag tut. Der Dritte im Bunde ist der
Amtsrichter, den Pfarrer und Sanitaetsrat beide fuer ueberfluessig halten;
denn ausser dem Schneider Hampel wird in Waltersburg niemals jemand
eingesperrt, und bei Hampel kommen in mageren Jahren auch hoechstens drei
Wochen heraus. Der Amtsrichter und der Schneider Hampel stehen auf dem
"Gruessfuss", und der Sanitaetsrat behauptet, dass der Richter seinem einzigen
"Kunden" immer zu Neujahr gratuliere. Es ist also fuer einen, der keine
Sinekure sucht, nicht verlockend, Arzt oder Richter in Waltersburg zu
werden. Im Herzen waere es mir aber immer noch lieber, mich in Waltersburg
niederzulassen, als nach Neustadt zu gehen, dessen Wunderquellen ich nicht
traue, und mich also dort gewissermassen mitschuldig zu machen, den Leuten
das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Heute war ich drueben in Neustadt. Waehrend der fuenf Jahre meiner
Abwesenheit ist der Ort um das Doppelte gewachsen. Er ist mit
amerikanischer Rapiditaet emporgeschossen. Ich sah die Marmortempel ueber
den "Sprudeln", die "Promenade" mit ihren unendlich gepflegten, unendlich
bunten und unendlich langweiligen Blumenanlagen, die Kapelle, die das
"Polnische Lied", den "Einzug der Gaeste in die Wartburg", das
"Fruehlingslied" von Mendelssohn, den neuesten Wiener Walzer und ein
unendlich albernes Potpourri spielte, das von allen Darbietungen dem
Publikum am besten zu gefallen schien, sah auch, wie der erste Geiger und
der Floetist an der Rampe des "Musikpavillons" wie ueberall mit den
vorbeiflanierenden Maegdelein liebaeugelten; ich sah auf den Estraden leerer
Restaurants Kellner lauern, die wie Braeutigame gekleidet waren oder wie
Leichenbitter, fuenfunddreissig Gerichte auf ihrer Speisekarte, von denen
sicherlich nicht eines halb so gut schmeckte wie das, was Mutters alte
Koechin bereitet; ich sah eine "Wandelhalle" mit Schaulaeden, in denen die
schoenen und ach so "preiswerten" Broschen prangen, die man den
Dienstmaedchen als "Mitbringe" schenkt und deren Goldglanz mindestens
anhaelt, bis das Maedchen am naechsten Quartal abzieht, sah schreiend bunte
Glaeser mit der Aufschrift "Zum Andenken" oder "_Souvenir de Neustadt_",
Holzarbeiten, vom geschnitzten Hirsch bis zu dem Kinderspielzeug, wo zwei
Baeren auf einem Amboss pinken oder ein Affe am Reck turnt, und noch viele
Kunstgegenstaende, bis ich zum Theater gelangte, wo ein Zettel verkuendete,
dass ein vielversprechender Dichter (alle vielversprechenden Dichter
debuetieren in Badetheatern) sein Erstlingswerk "Geheimnisse von Neustadt"
zur Auffuehrung bringe und Herr Georgio Calzolaio (zu deutsch: Georg
Schuster), der vielbeliebte erste Liebhaber der Buehne, die Hauptrolle
kreieren werde, auch an diesem Abend sein Benefiz habe. Darauf ging ich in
ein Cafe und trank zwei Kognaks. Ein Zeitungsjunge erschien und schrie mir
das neueste Berliner Mittagsblatt ins Ohr; ein Herr am Nebentisch, der
schon immerfort nervoes hin und her zappelte, knurrte den Kellner an, wie
lange er zum Donnerwetter noch auf die telephonische Verbindung mit
Breslau warten solle; ein Herr an einem anderen Tisch erzaehlte mit
unertraeglicher Weitschweifigkeit seinem Nachbar alle Erscheinungen seiner
Krankheit, wofuer sich dieser so interessierte, dass er waehrend der Zeit des
Zuhoerens das ganze Mittagsblatt durchschmoekerte; drueben an der Wand
stritten zwei rote Koepfe laut ueber Nietzsche; eine voruebergehende Mutter
machte ihrer bleichsuechtigen Tochter Vorwuerfe, dass sie ihren Brunnen statt
um fuenf erst um fuenfeinhalb Uhr getrunken habe, was natuerlich furchtbar
schaden koenne; Gents und noch viel mehr Pseudogents taenzelten vorueber, und
in der Kapelle drueben blies der Waldhornist zum Herz- und Steinerweichen:
"Das Meer erglaenzte weit hinaus im lichten Abendscheine".

"Auch Sie, Fraeulein Trude", hoerte ich einen vorbeiwandelnden Primaner zu
seiner sechzehnjaehrigen Begleiterin sagen, "haben mein Herz vergiftet,
zwar nicht durch Ihre Traenen, wohl aber durch Ihr Lachen."

"Aber Herr Lempert", sagte sie, und sie waren vorbei ... Ich bekam Heimweh
nach Waltersburg und ging. Draussen auf den Promenadengaengen das gewohnte
Publikum; die galizische Juedin mit etwas schmierigen Spitzen am
Halsausschnitt und den grossen Brillanten in den Ohren; der Herr in dem
hocheleganten weissen Flanellanzug, der 23 Mark gekostet hat; der
"Kuenstler", dessen Kraft wie bei Samson in der Fuelle der Locken sitzt und
der sich vor dem Spiegel die wirkungsvollen Gerhart Hauptmannschen
Mundwinkel eingeuebt hat; das knurrende Eheoberhaupt, das wo anders
hinstrebt, weil man auf dem Kurplatz nicht rauchen darf (warum, weiss weder
er noch sonst jemand; denn der Platz ist weit, und der Himmel ist hoch);
die flirtende Strohwitwe; der melancholisch und langsam schreitende
Einsame, der keinen Anschluss findet; das laute Maedchen, das immer zehn
Verehrer um sich hat und nie einen Mann kriegt; die Geschaeftsfreunde, die
auch hier ueber ihre Alltagssorgen nicht hinauskommen; fachsimpelnde
Oberlehrer und lebenslustige Backfische, dazwischen die "Patienten", die
gewissenhaft aus geschliffenen Glaesern das Neustaedter Wunderwasser
schluerfen, als koennte es in vier Wochen gutmachen, was in vielen, vielen
Jahren krank ward.

Ich war im klaren: Ich wollte nicht Badearzt werden. So wollte ich nach
Hause und waehlte als Heimweg den Pfad ueber den Weihnachtsberg, der als
Grenzscheide zwischen Waltersburg und Neustadt liegt.





                          AUF DEM WEIHNACHTSBERG


Auf dem Weihnachtsberg steht ein altehrwuerdiges Gasthaus. Es sieht aus wie
eine Burg, hat auch einen grauen verwitterten Turm, eine Zugbruecke,
Butzenscheiben und was so dazu gehoert. Das echteste von dem ganzen
romantischen Nest war der Wirt, der Eberhard hiess, weil er einen langen
Bart hatte, oder der sich einen langen Bart hatte wachsen lassen, weil er
Eberhard hiess. Die Waltersburger besuchten ihn an allen regenfreien
Sonntagnachmittagen, und er lebte auf seiner luftigen Hoehe so gute Tage,
dass ihm der Humor niemals ausging. Dieser Eberhard war fuer die
Waltersburger Kinder der Knecht Ruprecht. Jeden Weihnachtsabend lugten sie
aengstlich, sehnsuechtig und neugierig nach dem Gipfel des Weihnachtsberges
hinauf, und wenn endlich die blaue Winternacht ihren Duftschleier um den
Gipfel huellte, flammte da oben ein maechtiges Bergfeuer zum Himmel, und
eine Trompete blies langsam und feierlich herab ins Tal: "Vom Himmel hoch,
da komm ich her."

"Er kommt, er kommt!" stiessen da die Kinder heraus, und die kleinsten
zitterten in seliger Angst. Vom Berge herab aber kam mit silbernem Gelaeut
der Knecht Ruprecht gefahren. Er thronte auf einem mit Tannenreis
prachtvoll verzierten Schlitten, und andere Schlitten folgten ihm, die
wurden von seinen Knechten gelenkt und waren mit Hunderten von Paketen und
Paketchen beladen. Vom Stadttor an bildeten alle Kinder Spalier, die
reichen wie die armen, die grossen wie die kleinen. Die Eltern, Tanten und
Grossmuetter standen hinter ihnen, und wenn der Knecht Ruprecht ankam,
winkten die Kinder mit den Haenden, die Vaeter nahmen die Muetzen ab, und die
Tanten und Grossmuetter machten tiefe, ehrfuerchtige Knickse. Der Knecht
Ruprecht aber sass da auf seinem tannenbekraenzten Thron wie ein Koenig und
nickte nach rechts und nickte nach links, winkte mit der rechten Hand und
winkte mit der linken Hand, verteilte seine Gaben an die Armen und
Reichen, an die Gerechten und Ungerechten.

Nach der Feier bestieg der Knecht Ruprecht seinen Schlitten. Die
Fackeltraeger, die Ehrenjungfrauen und alles Volk begleitete ihn bis ans
Tor. Mit lustigem Klingeling fuhren die Schlitten den Weihnachtsberg
hinauf, und die Leute kehrten heim, alle im Herzen froh und reich.

Das war der Weihnachtsberg bis vor acht Jahren. Da kamen die Neustaedter
und kauften Herrn Eberhard, der damals gerade ein wenig in Sorgen war,
sein Gasthaus fuer einen guten Preis ab. Die Neustaedter machten aus der
alten edlen Burgherberge ein "Etablissement mit Burgruine, Aussichtsturm
und im uebrigem allem Komfort". Es wurden hoelzerne Veranden mit grossen
Fenstern an das alte Mauerwerk geklebt, der ganze schablonenhafte oede
Hotelbetrieb eingerichtet, und die Badezeitung faselte vom Fortschritt der
modernen Zeit.

Dass schweres, reines Altgold in duennes Flitterblech gewalzt wurde,
empfanden am meisten die Waltersburger Kinder, die am Weihnachtsabend
vergebens ausspaehten nach dem leuchtenden Hoehenfeuer und der suessen,
verheissungsvollen Melodie: "Vom Himmel hoch, da komm ich her."

In Gedanken an alte, schoene Zeit stieg ich den Weihnachtsberg hinauf. So
sentimental war ich aber nicht, um dem neuen "Etablissement" auszuweichen;
dazu war ich denn doch zu weit in der Welt herumgekommen und hatte zu viel
Schifflein scheitern sehen, um so eine Ungluecksstelle feig zu umsegeln.
Ich kehrte in dem "Etablissement" ein. In der grossen Glasveranda waren
drei Kellner und ein Gast anwesend.

Dieser einzige Gast sass am Fenster und guckte nicht auf, als ich zur Tuer
hereintrat. Daraus erkannte ich, dass er kein Deutscher war. Im uebrigen
genuegte mir ein Blick zu meiner Orientierung. Ich erkenne den
Nordamerikaner so leicht unter allen Nationen heraus wie den Star unter
den bunten Finken.

Soll ich hier das Bild wiederholen, das deutsche Karikaturisten malen,
wenn es gilt, einen "Uncle Sam" zu zeichnen? Das kurzgeschorene Haar, den
glattrasierten, rasiermesserduennen Mund, die etwas schlottrige Figur mit
den langen Beinen und fuchtelnden mageren Armen, die Stummelpfeife, den
karierten Anzug und diesen anderen Kram? Nein! Ich ging zweimal durch die
Stube, stellte fest, dass achtzehn Tische unbesetzt und einer besetzt war,
und setzte mich dann an den besetzten, dem Gaste gegenueber, ohne ihn zu
gruessen. Der andere blickte auch jetzt nicht auf. Er sah gelangweilt ins
Tal. Ich beachtete ihn auch nicht.

Der Kellner kam, und ich machte meine Bestellung. Darauf war es ganz
still.

Endlich blickte der Mann mir gegenueber auf und sagte, indem er nach
Neustadt hinunterwies:

"Das ist ein sehr albernes Nest da unten!"

Er sprach englisch; aber ich entgegnete deutsch:

"So kann man schon sagen. Es gefaellt mir auch nicht."

"Aber bei uns in Amerika werden Sie auch dumme Badeorte gefunden haben."

"Woraus schliessen Sie, dass ich in Amerika war?"

"Ich denke es mir."

"So, so!"

Darauf schwiegen wir. Erst nach einem Weilchen nahm "Uncle Sam" das
Gespraech wieder auf:

"Sie halten nichts von unseren modernen Kurorten?"

"'Nichts' kann ich nicht sagen. Es gibt zehn gute Kurorte und neunzig
unnuetze. Das sage ich."

"Und wie denken Sie sich einen ganz guten Kurort?"

Ich zuckte die Achseln.

"Ich habe mir manchmal ein Bild ausgemalt, wenn ich als Schiffsarzt die
noetige Musse zu solchen Traeumen hatte."

"Sie sind Schiffsarzt?"

"Ich war es."

Ich fand es nun angemessen, mich vorzustellen. Darauf wippte auch er ein
wenig vom Stuhle auf und sagte:

"Mister Stefenson. Oel und Naphtha. Neuyork, Milwaukee, St. Louis und
Trinidad. Nun, wie ist das mit Ihrem Kurort?"

"Es ist gar nichts. Es ist ein Traum, eine verrueckte Idee!"

"Verrueckte Idee ist schoen. Deutschland ist ein gutes Land, aber es leidet
einen sehr grossen Mangel an verrueckten Ideen. Es ist zu brav, es macht
zuviel nach. Den deutschen Unternehmungen fehlt die ueberraschende Pointe.
Der Amerikanismus ist besser."

"Das sagen Sie so!"

"Es ist so."

Ich war verstimmt und schwieg.

"Nun?" fragte er ungeduldig.

"Mister Stefenson, wenn ich Ihnen meine Idee entwickeln wollte, wuerden wir
viel Zeit brauchen; am Schluss wuerden Sie mich doch nicht verstehen. So was
liegt Ihnen nicht."

"Wir haben Zeit, ich werde Sie verstehen, und es liegt mir", gab er zur
Antwort.

Da kam ich in Laune und sagte:

"Ich will es Ihnen in ganz kurzen Linien umreissen. Ich will mal annehmen,
meine Heilanstalt bestaende schon und Mister Stefenson kaeme zu mir als
Kurgast."

"Das ist gut! Das ist instruktiv!" rief er. "Wie heisst Ihr Sanatorium?"

"Ferien vom Ich."

"Wie?"

"Ferien vom Ich."

"Das ist kein guter Name. Dabei kann man sich nichts denken. Das zieht
nicht."

"Mister Stefenson, wenn Sie mir schon von vornherein widersprechen, werde
ich Ihnen kein Wort ueber meine Heilanstalt sagen. Dass Sie den Namen nicht
ohne weiteres begreifen, ist doch eben das Neue und Gute."

"_Well_; ich sage nichts mehr. Ich hoere."

"Also: Irgendwo auf der Welt, sagen wir auf dem Ostabhang dieses
Weihnachtsberges bei Waltersburg, liegt die Heilanstalt 'Ferien vom Ich'.
Auch Mister Stefenson, der schon in vielen Kuranstalten und nie ganz
zufrieden gewesen war, hat von der Anstalt gehoert und hauptsaechlich darum,
weil es etwas Neues war, beschlossen, sie aufzusuchen. Er reist nach
Waltersburg. Mister Stefenson kommt mit sieben Koffern und zwei Dienern
an."

Mein Gegenueber nickt.

"Stimmt. Sie sind ein Gedankenleser."

"Der Ankoemmling findet in der Naehe von Waltersburg ein Gelaende von Wald,
Huegeln, Gaerten, ganz von einer hohen Mauer umschlossen, ueber die kein
Mensch hinwegsehen kann. Er merkt gleich: ah, an dieser Mauer ist die Welt
alle, hier ist eine Welt fuer sich. Die Mauer hat nur ein einziges Tor.
'Ferien vom Ich' steht darueber. Mister Stefenson, der mit drei Wagen
ankommt, zieht die Schelle an der Pforte. Eine tiefe Glocke schlaegt einmal
an. Da kommt von drinnen her ein Diener, der oeffnet das Tor. Er ist nicht
in der weltueblichen Tracht, er traegt Pluderhosen, Sandalen an den Fuessen,
eine weite, am Hals ausgeschnittene Bluse und ist barhaeuptig. Vor
Stefenson macht er keine Verneigung, sondern sagt: 'Lieber Freund, Sie
sind wohl wenig unterrichtet, sonst kaemen Sie nicht mit solch unnoetigem
Kram hier an. Seien Sie so gut, lassen Sie Ihre Diener und Ihr Gepaeck
unten in Waltersburg oder sonstwo auf der Welt Unterkunft suchen und
kommen Sie ganz allein, wie Sie hier stehen, mit mir.'

Mister Stefenson aergert sich nicht wenig ueber diese Ansprache des
dienstbaren Geistes, aber er will hinter den 'Trick' kommen, deshalb winkt
er seinem Gefolge ab und geht in das grosse Ferienheim des Lebens. Die
Pforte faellt hinter ihm zu. Sein Begleiter fuehrt ihn eine Lindenallee
bergan. Rechts und links sind Wiesen und einige bebaute Ackerstuecke. Am
Ende der Allee steht ein von Efeu umsponnenes Haus, so klein wie eine
Einsiedlerhuette. Das Haeuschen hat nur ein einziges Zimmer, aber das ist
bequem hergerichtet, hat ein gutes Bett, einen Schreibtisch, schlichte,
aber geschmackvolle Moebel und gute Bilder an den Waenden. In dieses Zimmer
fuehrt der Torwart den Mister Stefenson und sagt: 'Hier bleiben Sie, lieber
Freund, zwei Tage und zwei Naechte. Lesen Sie die wenigen Blaetter, die auf
dem Schreibtisch liegen, gut durch und schreiben Sie Ihre eigene Lebens-
und Leidensgeschichte auf, schreiben Sie auf, was Ihnen an sich selbst
nicht gefaellt und warum Sie hierhergekommen sind. Nach zwei Tagen wird der
Arzt zu Ihnen kommen, wird lesen, was Sie geschrieben haben, und wird den
ganzen guten Mannes- und Freundeswillen haben, Ihnen zu dienen und zu
helfen. Das Essen wird Ihnen inzwischen durch mich gebracht werden. Finden
Sie sich mit den Blaettern, die auf dem Schreibtisch liegen, nicht ab,
koennen Sie nicht den Willen aufbringen, Ferien vom Leben zu machen, so
haengt hier am Nagel an der Tuer ein Schluessel, der die Pforte unten an der
Allee aufsperrt. Lassen Sie den Schluessel von innen stecken und schlagen
Sie die Pforte von aussen zu. Zu bezahlen haben Sie fuer das, was Sie
inzwischen genossen, nichts; wir freuen uns, dass Sie einmal dagewesen
sind.'

So sagt der Torwart, und dann laesst er den verwunderten Herrn Stefenson
allein.

Der setzt sich, noch im Reisemantel, an den Tisch und beginnt zu lesen.
Ich kann hier nicht den ganzen Inhalt dieser Blaetter aufsagen, sondern nur
einige wenige Saetze hervorheben. 'Betrachte dein Leben mit allem, was es
gebracht hat: Arbeiten, Erholungen, Genuessen, Suenden, als eine
Anstrengung, die dich muede gemacht hat und deine Kraefte zermuerben wird.
Mache dich los von diesen Anstrengungen, spanne aus, mache Ferien. Loese
dich zunaechst los von dem Goetzen, dem du alle Tage opferst, von deinem von
dir so zaertlich geliebten Ich. Entkleide diesen Goetzen allen Tandes, den
du ihm mit grossen Entbehrungen verschafft hast, seines wohlklingenden
Namens, seiner Genusssucht, seiner Herrschsucht ueber Geld und andere
Machtmittel.'"

Hier unterbrach mich mein Zuhoerer.

"Bitte, sagen Sie das nicht mit so phrasenhaften, abstrakten Worten; sagen
Sie es einfacher und instruktiver!"

"Schoen! Nehmen wir also an, dass jener Herr Stefenson die zwei Tage und
zwei Naechte in dem Einsiedlerhaeuslein ausgehalten hat, ohne fortzulaufen.
Nach zwei Tagen kommt der Arzt. Herr Stefenson wird ihm entgegenrennen und
ohne jede Einleitung sagen: 'Ich habe Ihre Blaetter gelesen und muss Ihnen
sagen, Herr Doktor, dass mir die Sache zum Teil sehr abenteuerlich, zum
Teil sehr langweilig vorkommt. Warum soll ich zum Beispiel hier in dem
Ferienheim nicht mehr Stefenson heissen, sondern einen anderen Namen
haben?'

'Setzen Sie sich', wird der Arzt antworten und Herrn Stefenson auf die
Bank neben der Haustuer druecken.

'Holen Sie Ihre Lebensbeschreibung.'

Herr Stefenson gehorcht, und der Doktor beginnt zu lesen, was Herr
Stefenson in den Tagen einsamer Einkehr in sich selbst ueber sein Leben
niedergeschrieben hat. 'Ich werde die Blaetter mitnehmen', sagt der Doktor,
'und sie zu Haus noch einmal lesen, dann bekommen Sie Ihr Manuskript
zurueck und koennen es selbst vernichten.' 'Das ist so aehnlich wie bei
Lahmann', sagt Stefenson. 'Ja', nickte der Doktor, 'ich habe vieles von
Lahmann, der wieder vieles von Priessnitz und anderen hat. Wenn einer
hochkommen will, muss er immer auf die Schultern anderer steigen.'

Der Arzt unterhaelt sich nun lange mit Mister Stefenson und erklaert ihm
auch, warum er im Ferienheim des Lebens seinen Namen ablegen soll. 'Sie
sind hier nicht Mister Stefenson, Sie sind irgendein Mensch, der - sagen
wir - John heisst; dieser John hat mit Herrn Stefenson gar nichts zu tun.
Herr Stefenson ist irgendwo in Neuyork, Milwaukee oder auf Trinidad,
zermartert sich dort sein Hirn um neue Gewinne, wird gelobhudelt,
befeindet, belogen, betrogen - arbeitet und amuesiert sich halb zu Tode,
hat mancherlei Schwaechen, die sein Leben und vor allen Dingen seine Freude
am Leben verkuerzen, kurz, ist trotz seiner Millionen ein armer, gehetzter
Mensch, waehrend dieser John hier keinen liebedienernden Tross, keinen
vorteilssuechtigen Freund, aber auch keinen Feind hat, froh und sicher
unter seinesgleichen lebt und, wenn er mit einem Genossen im Garten
arbeitet, nicht weiss, ob dieser Mann draussen in der Welt ein Fuerst oder
Minister oder ein kleiner Beamter ist. Sehen Sie, John, das ist ein ganz
koestlicher Humor, den wir hier betreiben. Wenn die Leute ihren Namen
abgelegt haben und auch alle die gleiche Tracht haben, kennt man den
Grossen vom Kleinen nicht mehr heraus. Der Geist verraet sie nicht. Dass der
Patient waehrend der Dauer der Kur seinen Namen ablegt, ist fuer den Erfolg
fuer uns eine grosse Hauptsache. Der Name ist meist die staerkste Kette, die
mit der Last und Lust des Alltags verbindet, sie muss in Ferientagen geloest
werden. Und waere der Name auch ein Schmuck, wie ja der Name eines guten
Kaufmanns gewiss ein kostbarer, schwer erworbener Schmuck ist - wer richtig
ruhen will, legt allen Schmuck ab. Weniger wichtig ist das Ablegen der
gewohnten Tracht, aber doch wichtig genug, bei uns zur Bedingung gemacht
zu werden. Und fuer uns hat es noch das eine Gute: Es haelt uns alle
albernen Pfauen des Lebens vom Halse, vor allen Dingen eitles Weibervolk;
wer zu uns kommt und bei uns bleibt, der meint es ernst mit sich selbst.
Im uebrigen hoffe ich, dass Ihnen unsere bequeme, gesunde Tracht gefallen
wird; auch unsere Damen sind sehr zufrieden mit ihr.

Wovon Sie weiterhin erloest werden muessen, ist das Geld. Sie haben waehrend
Ihres ganzen hiesigen Aufenthalts mit Geld nichts zu tun. Was Sie bei sich
tragen, geben Sie an der Kasse ab, es wird Ihnen verwahrt und verzinst bis
zu Ihrem Austritt, abzueglich des Betrages fuer Ihren Kuraufenthalt. John,
der Feriengast, besitzt nicht einen Pfennig. Er braucht auch keinen
Pfennig, und er ist schon nach kurzer Zeit gluecklich, nicht den ganzen Tag
ueber sich Haende entgegenstrecken zu sehen, auf die er Geld legen soll, wie
es Herrn Stefenson geschieht, bei dem die Bewegung nach der Brieftasche
schon automatisch geworden ist. John hat nur eine Tasche fuers Taschentuch
- Geld hat er nicht, Schluessel, Messer, Taschentoilette, Fuellfederhalter,
Notizbuch, Brieftasche, Taschenapotheke und aller andere Ballast wird ueber
Bord geworfen.

Auch die Uhr!

Es geht John gar nichts an, wie spaet es ist, es ist gaenzlich ohne
Interesse fuer ihn, ob es dreizehn Uhr siebzehn oder vierzehn Uhr
sechsundzwanzig ist, er braucht nicht zu hetzen, sich nicht zu aengstigen,
er hat Zeit, er kommt immer zurecht. Nur die Mahlzeiten darf er nicht
versaeumen; aber zu ihnen ruft eine Glocke. Oh, Mister Stefenson, Sie
werden sehen, wie wohltuend das ist, wenn man nicht am Tage sechzigmal
nach der Uhr sehen muss! Die Uhr, die ueber dem Herzen schlaegt, schlaegt
schneller als das Herz, als wollte sie wie ein Schrittmacher zu immer
groesserer Eile anspornen - und der Weg fuehrt doch ans Ende des Lebens.
Warum sollen wir es so eilig haben, dorthin zu gelangen? Der Schrittmacher
wird bei uns ausser Taetigkeit gesetzt.

Da nun John mit Mister Stefenson rein gar nichts zu tun hat, geht es ihn
auch rein gar nichts an, was diesen amerikanischen Grosskaufmann von
Weltereignissen aufregt und interessiert. Es geht John nichts an, ob
Stefensons Kurse fallen, was in den Parlamenten gekohlt wird oder was im
'Voelkerbund' fuer Schindluder getrieben wird, ja es geht ihn nicht einmal
das mindeste an, wer Weltmeister im Boxkampf geworden ist - kurz, John
liest keine Zeitungen. Auf dem Fragebogen, den Sie, Herr Stefenson,
auszufuellen hatten, steht: 'Wie lange lesen Sie durchschnittlich taeglich
ueber der Zeitung, wie lange also im Jahre?' Sie haben den taeglichen
Zeitverbrauch auf dreiviertel Stunden, den jaehrlichen also auf 274 Stunden
berechnet. Wenn man den Tag mit neun Arbeitsstunden annimmt, verwenden Sie
aufs Zeitunglesen dreissig Tage, also einen ganzen Arbeitsmonat des Jahres.
Und dann kam auf dem Fragebogen die Aufforderung: 'Schreiben Sie kurz
nieder, was Sie von Ihrer Zeitungslektuere aus dem vorigen und aus dem
vorvorigen Jahre noch wissen!' Was Sie vom vorigen Jahre noch wissen,
steht auf fuenf kleinen Blaettern, und Sie geben es ehrlich an, dass es Ihnen
schwere Muehe verursacht hat, diese fuenf Blaetter zu fuellen. Vom vorvorigen
Jahre wussten Sie fast nichts mehr, nur ein paar ganz grosse Ereignisse
standen noch im Gedaechtnis. Nun ist ja sicher, dass durch das Zeitunglesen
viel latenter, nur im Augenblick nicht bereiter Besitz erworben wird. Aber
Sie selbst muessen sich fragen, ob dieser Besitz die Aufwendung eines
ganzen Arbeitsmonats des Jahres wert ist. Das Zeitoekonomische geht uns
uebrigens hier nur in zweiter Linie an. Die Hauptsache ist uns: John darf
sich nicht das Fruehstueck verderben lassen, weil Herr Stefenson in
ebendemselben Augenblick aus der Zeitung einen giftigen Aerger ueber einen
Deputierten saugen wuerde, der nach seiner Meinung eine idiotische Rede
gehalten hat; John betrinkt sich nicht am Abend aus Freude darueber, dass
einer Konkurrenz von Mister Stefenson die Butter vom Brote gefallen ist;
John disputiert nicht eine Stunde lang darueber, ob das Buendnis zwischen
den Staaten Soundso zustande kommen wird oder nicht; kurz: John verzichtet
auf die Peitschenhiebe des Zeitungsstils. Er sagt sich so: Fuer Herrn
Stefenson aus Amerika moegen die nervenanstrengenden Dinge, die taeglich in
der Zeitung stehen, wichtig, ja unerlaesslich sein; denn Herr Stefenson
steht in der harten Schule des Lebens und kann sich um sein Pensum nicht
druecken; aber ich - o ich, John, ich habe Ferien, und die ganze Schule des
Lebens geht mich rein gar nichts an.

Es kommt noch eins hinzu - John erzieht sich. Herr Stefenson meint, ohne
ihn ginge es nicht. Auch wenn er reist, auch wenn er in einem Bad ist,
behaelt er die Hauptfaeden seiner geschaeftlichen Angelegenheiten immer in
der Hand. Er laesst sich ellenlange Berichte schicken, er liest Zeitungen,
er kabelt, er regt sich auf, freut sich, wettert und ist eigentlich auch
auf Reisen immerfort zu Hause, immer im Joch. John pfeift sich eins. John
sagt: Wenn Herr Stefenson tot waere, ginge es auch; folglich geht es auch,
wenn Herr Stefenson verreist ist. Vielleicht geht es sogar besser, als
wenn er zu Haus ist. Nur nicht zu eitel sein! Frisches Blut tut manchmal
gut, und vielleicht kann John Herrn Stefenson zu guter Letzt an der Hand
nehmen und sagen: Sei froh, dass du mal ausgeschieden warst, du hast
inzwischen glaenzende Geschaefte gemacht, so wie ein Spieler meist gewinnt,
wenn er einem Vertreter auf einige Minuten seine Karten ueberlaesst.

Im Ferienheim gibt es taeglich einen Anschlag, auf dem in wenig Zeilen die
Hauptereignisse des Tages mitgeteilt werden. Wer daraus schliesst, dass er
ueber einen Punkt unbedingt weitere Auskunft haben muesse, der geht in die
Kanzlei, dort liegen dreissig Zeitungen. Kann sich der Betreffende bald
beruhigen, dann ist es gut; wenn das nicht der Fall ist, verlaesst er die
Ferien und geht in die Lebensschule zurueck. Bis jetzt sind nur drei
Prozent unserer Feriengaeste nach der Kanzlei gekommen, um Zeitungen zu
lesen; die allermeisten lesen nicht einmal die Anschlaege. Sie sind zu
ernst; sie sind wie auf einem fremden Stern; die Erdenereignisse gehen sie
auf einige Zeit gar nichts an.

Und so wie mit den Zeitungen, ist es mit der Privatkorrespondenz. Sehen
Sie sich an, Herr Stefenson, wie es die Leute in den modernen Kurorten
treiben. Eine der allergroessten Hauptpersonen ist der Brieftraeger. Man kann
sein Erscheinen nicht erwarten. Vor jeder Ausgabe der Post zwanzig Minuten
Nervenvibrieren, innere Unruhe, gespannte Erwartung. Und der Erfolg? Ein
paar freuen sich; aber Herrn Mayer hat seine Frau geschrieben, dass sich
der Hausmeister ruppig benommen habe, und Herr Mayer ist auf Stunden in
menschenfresserischer Laune; das Toechterchen von Frau Ludwig ist vom Tisch
gepurzelt, und die Mutter telegraphiert, man solle gleich den Arzt
befragen, was ohnehin natuerlich schon geschehen ist; Baron Erwin zieht die
Stirn in Falten, weil seine Isolde nicht geschrieben hat; der
Schriftsteller Niessen kriegt ein Romanmanuskript zurueck und bricht fast
in Traenen aus ueber die Idiotie der betreffenden Redaktion; im Herzen der
blonden Else steckt eine Ansichtskarte ihres Referendars ein verzehrendes
Feuer der Sehnsucht an; der Geheime Oberregierungsrat bekommt das
Schreiben eines 'Freundes', das ihm suggeriert, seine Stellung sei
erschuettert, und der Frau von Puttbus schreibt die Schneiderin ab. - Die
Aerzte koennen sicher rechnen, dass das, was sie in einer Woche aufbauen,
manchmal der Brieftraeger in zehn Minuten einreissen kann.

Und deshalb wuenscht das Ferienheim sehnlichst den Brieftraeger zum Kuckuck,
weil er die Ferienruhe stoert, weil in seiner schwarzen Tasche meist nichts
anderes steckt, als ermuedende Aufgaben aus der Schule des Lebens. Deshalb
bitten wir unsere Feriengaeste: Sagt euren Verwandten, gerade, weil wir uns
lieb haben, wollen wir uns einmal auf einige Zeit trennen. Schreibt nur im
Notfall an mich; alles Kleine lasst weg, erzaehlt es mir, wenn ich
heimkomme. Es wird mir dann lieb sein; es wird sein, als ob wir uns neu
gegeben waeren. Bedenkt, dass mir von der Leitung des Ferienheims, wenn ich
in zwei Wochen mehr als einen Brief erhalte, nahegelegt werden wird, das
Heim zu verlassen. Ich kann nicht Ferien machen, ich kann nicht
ausspannen, wenn mir die papierene Last immer am Fuss sitzt.

Das ist eine scheinbar harte Massregel des Ferienheims, die viele gehindert
hat, zu uns zu kommen, alle zu Sentimentalen; aber wir haben die Anordnung
als richtig erkannt und halten an ihr fest. Wer einen grossen Teil seines
Erholungsaufenthaltes an ein Postbuero binden will, soll anderswo hingehen.

Das ist, wenn ich so sagen darf, die negative Seite unseres
Heilverfahrens, das, was wir ausscheiden: Namen, Rang, Titel, moderne
Bekleidung, das Geld, die Uhr, die Zeitung, das unnuetze Briefschreiben
oder, wenn Sie es krasser sagen wollen, Verwandtschafts- und
Bekanntschaftsfesseln.

Sie merken schon, Mister John, dass ich an alte Klosterideale angeknuepft
habe. Nur, dass es sich eben nicht wie beim Kloster um die
Lebenseinrichtung ueberhaupt, sondern nur um eine Ferienpause des Lebens
handelt, und dass wir nicht aus religioesen, sondern aus sanitaeren
Beweggruenden handeln. Zur Seelsorge sind wir weder befaehigt noch berufen.
Aber - um auch diesen wichtigen Punkt zu beruehren - wir empfehlen allen
denen, die noch eine religioese Anschauung haben, aus reinster
Menschenfreundlichkeit, auf Grund dieser Anschauung einen recht tiefen
Herzensfrieden mit ihrem Herrgott zu machen; das ist die allergroesste
seelische und darum auch die allergroesste koerperliche Wohltat. Ein Arzt,
der gehetzten Menschen Erquickung bieten wollte und diesen Punkt ausser
acht liesse, waere ein Stuemper. Deshalb wird all unseren Feriengaesten
Gelegenheit geboten sein, Gott zu dienen, wie sie es beduerfen. Dass wir uns
dabei jeder Einmischung in dieses ureigenste Gebiet des Menschen
enthalten, ist ganz selbstverstaendlich.

Die aerztliche Behandlung wird natuerlich fuer jeden Feriengast individuell
sein; fuer Schwerkranke ist das Ferienheim kaum, mehr fuer die Mueden, fuer
die, die das Leben in seiner Hast und Hohlheit nicht mehr freut, fuer die,
die gern noch einmal mit frischen Kraeften von vorn anfangen moechten.

Fuer die Alkoholkranken, die Morphium- und Opiumsuechtigen hat man jetzt
draussen Entziehungskuren, die grossen Segen bewirken; wir wollen hier allen
denen Entziehungskuren gewaehren, die auf irgendeine Weise vom Leben
vergiftet sind. Ganz generell werden alle erloest von allem Eitlen und
Hohlen ihres bisherigen Daseins, von der drueckenden Last oeffentlichen und
privaten Lebens, von unnuetzen Beduerfnissen; individuell sollen sie erloest
werden von ihren Krankheiten, Lebenssuenden und Lebensschwaechen, von
unfruchtbarer Sorge, Angst und Reue, sollen Kraft im Frieden und die
kostbare Faehigkeit zur Freude wiedergewinnen.

Wir scheiden aus dem Ferienheim die ueblichen Vergnuegungen aus. Sie finden
bei uns keine Rennen, Reunions, Tombolas, Frueh-, Mittags- und
Abendkonzerte, keine Spielsaele, Taubenschiessen, Theater- und
Varietevorstellungen, keine prunkhaften Umzuege und italienischen Naechte -
denn das alles ist nichts als anstrengende hohe Schule des Lebens und
betruegt alle die, die mit neuen Kraeften nach Hause kommen wollen. Wir
suchen die Freude. Das ist die Freude an gesunder Beschaeftigung in
frischer Luft. Sie, lieber John, werden wahrscheinlich einige Gartenbeete
umgraben muessen, auch werden Sie sich gelegentlich am Faellen eines Baumes
oder am Holzsaegen beteiligen muessen; es kann aber auch sein, dass Sie mal
einen Hecht angeln oder ein paar Koerbe Aepfel pfluecken muessen. Da Sie, wie
Ihre Niederschrift ausweist, seit zwanzig Jahren kein schoengeistiges Buch
gelesen haben, werden Sie um das Quantum von drei Romanen, einem Epos und
einem Baendchen Lyrik nicht herumkommen. Waehrend wir bei sogenannten
Leseratten Entziehungskuren machen, muss bei Ihnen in diesem Falle eine Art
Zwangsernaehrung einsetzen.

Die koerperliche Kost wird ganz Ihrem Befinden angemessen und natuerlich gut
und schmackhaft sein. Alle Woche zweimal werden Sie sich das Abendbrot
selbst bereiten. Wie Sie das anstellen, ist Ihrer Phantasie ueberlassen. Im
grossen Kuechen- und Vorratshause finden Sie alle Rohmaterialien. Wir haben
gegenwaertig einen Feriengast, der draussen in der Welt eine Schar von
Dienern hat. Auch er muss sich das Abendbrot zweimal in der Woche selbst
bereiten. Anfangs wusste er nichts anderes, als dass er sich Brotstullen
schnitt, die entsetzlich dick und krumm gerieten, die Stullen mit Butter
beklebte und starke Wurstscheiben mit der Pelle darauf legte. Das naechste
Mal hatte er schon erluchst, wie man Kartoffeln an einem kleinen
Feldfeuerchen kocht, und hatte sich dazu einen Hering verschafft. Dann
ergaenzte er seine Mahlzeit, indem er Radieschen aus der Erde zupfte, Nuesse
und Fruechte von den Baeumen holte, und am vierten Abend, den er sich selbst
bereitete, lud er einen Freund und eine Freundin ein, war sehr stolz auf
sein Mahl und ass mit Genugtuung und Appetit. Das sind Kleinigkeiten, die
vielleicht wie Spielerei aussehen, aber doch einen Sinn haben. So werden
Sie sich z. B., wenn ein kuehler Tag ist, das Feuer in Ihrem Ofen selbst
anzuenden und unterhalten muessen. Hobelspaene und Reisig koennen Sie sich
leicht holen, das Holz muessen Sie selber hacken. Sie werden sehen, Mister
John, wie warm und goldig solch ein selbstentzuendetes Feuer brennt, viel
wohliger, als wenn es ein Diener angefacht haette. Ein volles Dutzend Mal
werden Sie die Kacheln abfuehlen, wie sie nach und nach warm werden, mit
einer heimlichen, stillen Freude im Herzen. Und wenn am Abend Sie ein paar
andere Feriengaeste besuchen, Leute, von denen Sie nicht wissen, wie sie
eigentlich heissen, wer und woher sie sind, von denen nichts anderes
bekannt ist, als dass es eben auch ernsthafte Menschen sind, die sich zu
einer Ferienpause des Lebens aufgerafft haben - wie schoen wird es sein,
mit ihnen zu plaudern oder sich etwas zu erzaehlen und selbst auf das Feuer
zu achten.

Gute Kammermusik werden Sie manchmal zu hoeren bekommen; doch nicht oft und
nicht viel. Aber zur Laute wird oefter gesungen werden, und manchmal wird
irgendwo ein Blaeserchor stehen, und es wird sein, als ob Soldaten in der
Ferne marschierten, oder ein Waldhorn wird ins Tal schallen wie in alten,
romantischen Tagen.

Sport duerfen Sie treiben: Reit- und Schwimmsport, Turnen im Luftbad,
Tennis- und Kegelspielen. Auch Karten spielen duerfen Sie, aber ohne Geld;
denn John hat keinen Pfennig in der Tasche, und wollte er sich mit seinen
Gegnern verabreden, ein Kieselsteinchen bedeute zehn Mark und eine Eichel
zwanzig, und wuerde alles hinterher in bare Muenze sauber umgerechnet, so
wuerde es wohl doch herauskommen, und das Spielernest wuerde energisch
ausgenommen werden.

Tabak und Alkohol, worum Sie sich in Ihrem Selbstbericht zu bangen
scheinen, ganz nach aerztlichem Befund. Wenn Sie mich nun fragen, wie lange
ein solcher Ferienaufenthalt waehrt, so muss ich Ihnen sagen, dass die
kuerzeste Frist sechs Wochen betraegt, dass es aber sehr viel guenstiger ist,
wenn die Ferienpause drei Monate oder noch laenger dauert. Die ersten
vierzehn Tage werden Sie ja doch innerlich gegen vieles revoltieren,
vielleicht am Heimweh leiden nach der eben abgelegten alten Haut. Sie
muessen erst heimisch werden, muessen das grosse Ferienglueck erst ganz
fuehlen, muessen die unaussprechlich suesse Freude empfinden, wie Sie gesuender
und froehlicher werden, dann erst kommt das Heil.

Aber wenn Sie dann in die grosse, schwere Schule zurueckgehen, werden Sie
mehr neue Kraefte, einen groesseren Mut zum Leben mitnehmen, als wenn Sie
unterdes Mineralwasser getrunken, Reunions besucht und hundert Zeitungen
gelesen haetten. Mit einem Wort: Sie werden an die Ferien denken wie ein
Kind an die freie Spielwiese denkt, wenn es wieder in der Etagenwohnung
der Grossstadt hinter seinen Aufgabenbuechern sitzt.'

Mit diesen Worten endete der Arzt, der mit seinem neuen Patienten vor der
Tuer des Einsiedlerhaeuschens sass, seine Belehrung, und damit ende auch ich,
Mister Stefenson, den Aufschluss ueber das Ferienheim des Lebens, das nur in
meiner Phantasie lebt und wohl auch immer nur dort leben wird."

                                    *

Ich schwieg, und der Mann, der mir gegenueber am Gasthaustisch sass, schwieg
auch. Er hatte die ganze Zeit, waehrend der ich sprach, mit halb
abgewandtem Kopfe dagesessen und hinunter nach Neustadt gesehen. Endlich
stand Stefenson auf, nickte kurz mit dem Kopf, sagte: "Danke sehr! Guten
Abend!", nahm seinen Hut und ging aus der Stube, nachdem er den Kellner
bezahlt hatte. Ich liess ihn gehen.

                                    *

Am naechsten Tage liess sich Mister Stefenson bei mir in Waltersburg melden.

"Guten Morgen", sagte er; "ich muss Ihnen sagen, dass mir das gar nicht
passt, dass ich John heissen soll."

"Wieso - wieso?" fragte ich verwundert.

"Ja, das hat mich verdrossen. Ein Kerl namens John hat mich naemlich mal
furchtbar geaergert. Er hat die Frau geheiratet, die ich heiraten wollte.
Ich mag nicht John heissen. Ich habe mir ein Adressbuch geben lassen und
nach einem einfachen, aber nicht zu haeufigen Namen gesucht. Ich will
Zuschke heissen."

"Sie wollen Zuschke heissen? Warum - wieso - wo wollen Sie Zuschke heissen?"

"In Ihrem Sanatorium natuerlich - in Ihrem Ferienheim -"

"Aber, Mister Stefenson, es existiert doch nicht, es ist doch ein
Phantasiegebilde - eine Utopie -"

Da sah er mich fest an.

"Es wird existieren; denn wir werden es zusammen begruenden."

Ich schlug die Haende zusammen.

                                    *

Der seltsame Mann hat mich verlassen. Geschaeftsmaessig, trocken, sogar ein
wenig muerrisch hat er mir auseinandergesetzt, wie er sich die
Verwirklichung der Idee meines Ferienheims denke. Als ich ihm abriet, das
viele Geld, vor dessen Summe ich erschrak, zu wagen, da vielleicht unsere
Zeit, auch das Volk hierzulande nicht geeignet sei fuer romantische
Sonderbarkeiten, wurde er zornig und sagte:

"Wer eine Idee hat, soll an sie glauben, oder er soll gar nicht von ihr
sprechen."

Er nahm mich in den Bann der grossen Kuehnheit und Sicherheit seiner Seele,
und ich willigte endlich ein. Zuletzt sagte Stefenson:

"Einen Kontrakt wollen wir nicht machen. Ich gebe das Geld, Sie geben die
Idee und Ihre Kraft. Erzielt unser Unternehmen einen Gewinn, so werden wir
ihn gerechterweise teilen; wenn nicht, dann sind Sie ein schlechter Arzt,
und ich bin ein schlechter Geschaeftsmann gewesen. Wir werden uns dann ohne
gegenseitige Hochachtung, aber auch ohne feindselige Gesten voneinander
trennen."

Dann ging er. Ich sass an meinem Tisch, starrte die Platte an, lachte mal
auf, trommelte mit den Haenden, lief durchs Zimmer, legte mich aufs Sofa,
rauchte Zigaretten und tat endlich was Vernuenftiges - ich ging an die
frische Luft.

So mag einem Feldherrn zumute sein, der zur Fuehrung einer Kriegsarmee
berufen wird, oder einem Dichter, dessen grosses Stueck ueber die Buehne gehen
soll, oder einer jungen Mutter, die ihr erstes Kindlein geboren hat. Mit
einemmal das verwirklicht zu sehen, was bisher nur ein schoener Traum war,
mit einemmal vor die groesste und liebste Aufgabe des Lebens gestellt sein -
wo waere ein berauschenderes Glueck?

Mein trautes Waltersburg! Wie warm liegt der Sonnenschein ueber deinen
schraegen Daechern und alten Giebeln, wie schoen singen die Spatzen am
Johannisbrunnen, wie freundlich und gesund schauen die Kinder aus!

Warte nur, mein altes Waltersburg, fuer dich kommt, wie fuer das
Dornroeschen, ein selig Erwachen. Ich, dein Sohn, bin dein Ritter. Ich will
dich kuessen mit einem heissen, so lebenspendenden Kuss, dass alle Starrheit
von dir faellt und du mitten in wonnigem Leben stehst!

Ich bin nicht August Bunkert; ich will dich, deutsche Maid, nicht zu einer
weltmodisch aufgetakelten, kokottenhaften Dame machen - der Traeumerglanz
soll in deinen Augen bleiben, der weisse Schimmer auf deiner Stirn, das
schoene, stille Laecheln um deinen Mund, und du sollst doch in allen Landen
beruehmt werden als eine Wohltaeterin der Menschen.

Ja, das will ich, das verspreche ich, das verspreche ich dir! Das, was
wertvoll in mir ist, habe ich ja von dir, du meine teure Heimat! Draussen
in der Welt, drueben in Neustadt, kann ich nicht wirken. Ein Zuschauer nur,
stehe ich vor der bunten Buehne, und weil ich so lange und so oft
zuschaute, taeuscht mich keine Kulisse mehr; ich weiss, hinter den bemalten
Waenden liegt unordentlich Geruempel und geht rauhe Zugluft durch schlecht
schliessende Tueren. Langsam wanderte ich zum Eulentore hinaus. Es geht da
keine Chaussee; eine alte Landstrasse fuehrt ins Gruene. Am Hasenhuegel setze
ich mich auf einen Stein. Mir gegenueber lag der Ostabhang des
Weihnachtsberges. Ueber den Fluss ging der Blick auf ein Hochplateau von
Wiese, Feld und Wald und stieg dann den Berg hinan. Das waere der rechte
Ort fuer mein Ferienheim.

Nur in Waltersburg kann ich den rechten Ort fuer mein Ferienheim finden, in
dieser freundlichen, naerrischen, gesunden Stadt!

Wie Moses schaute ich in mein Gelobtes Land.





                                  LUISE


Es ist ein Brief angekommen, der mir die ueberschaeumende Freude des Tages
genommen hat. Die Pflegeeltern der Tochter Joachims haben geschrieben. Bei
dem Scheidungsprozess wurde die kleine Luise dem Bruder zugesprochen. Da er
aber weltfluechtig wurde, geschah dem Kinde das, was vielen solchen
ueberzaehligen armen Wuermern geschieht - es kam "in Pflege". Ein
"kinderloses, aber sehr kinderliebes, in durchaus geordneten Verhaeltnissen
lebendes Ehepaar in Berlin sucht Kind von besserer Abkunft gegen einmalige
Erziehungsbeihilfe als eigen anzunehmen".

Ich wusste, was fuer Tragoedien sich hinter solchen Inseraten verbergen, wie
oft sie der Deckmantel elendester Gaunerei, schamlosester Ausnutzung sind.
Und damals war es das erstemal, dass ich meine Mutter nicht verstand. Sie
weigerte sich auf das entschiedenste, das Kind zu sich zu nehmen und zu
erziehen, und da ich immer wieder in sie drang und die Unschuld des Kindes
nicht verderben, seinen kleinen Leib nicht frieren und darben lassen
wollte in der Fremde, wurde die Mutter hart wie Eisen und sagte, ich
entehre sie mit meinen Vorstellungen und Bitten. Sie war zu tief gekraenkt
in ihrer Frauenseele, sie hasste das Weib, das dieses Unheil angerichtet,
zu bitter, litt zu furchtbar unter dem Verlust des Lieblingssohnes, als
dass ihre sonst so gute, freundliche Art auch diesmal den rechten Weg haette
finden koennen. Ja, sie sagte mir, dass sie die Bitte vom Vergeben aus ihrem
"Vaterunser" gestrichen habe. Der Bruder war gefluechtet, ich musste hinter
ihm herziehen, ein abenteuerliches Leben beginnen, um ihn zu suchen und
ihn schliesslich nach fuenf Jahren zu finden und zu einer ganz kurzen
Aussprache zu bewegen. Ich konnte mich damals um die kleine Luise nicht
weiter kuemmern, ich wusste nur, dass eine entfernte Verwandte das Maedchen zu
dem "kinderlieben" Ehepaar nach Berlin gebracht, die geforderten
fuenfzehntausend Mark "Erziehungsbeihilfe" als einmalige Abfindung bezahlt
und berichtet hatte, es scheine sich um ausserordentlich honette und
christliche Leute zu handeln.

Als ich Joachim in der Schiffskajuete gegenueber sass, indes draussen die
schwere See rollte, glaubte ich, der Augenblick sei so gewaltig, dass er an
die tiefsten Tiefen des Maennerherzens ruehren, dass er eine der
festverschlossenen Tueren oeffnen, und dass die Frage daraus hervortreten
werde: "Lebt das Kind noch?" Joachim stellte die Frage nicht, und als ich
nach Hause kam und nach etwa zehn Tagen es wagte, die Mutter zu fragen, ob
die kleine Luise am Leben sei, wandte sie sich ab und sagte hart: "Das
weiss ich nicht!"

Da fiel mir auf, dass die Mutter und Joachim sich sehr aehnlich seien. Ich
bin mehr nach dem Vater geschlagen. Der ist ein weicher Mann gewesen. Und
ich selbst bin wohl auch als Mann viel zu weich, stosse mir ueberall leicht
das Herz wund und werde wahrscheinlich einmal viel leichter unter die
Raeder kommen, als es Joachim passieren koennte.

Nun haben die Pflegeeltern der kleinen Luise an Mutter einen Brief
geschrieben. Sie hat ihn aber nicht geoeffnet, wie sie zehn oder mehr
andere Briefe, die von derselben Stelle schon gekommen sind, auch nicht
geoeffnet, sondern ungelesen verbrannt hat. Diesen letzten Brief habe ich
an mich genommen und ihn soeben gelesen.

Mir graut. Schlechtes, fettfleckiges Papier, in elender Rechtschreibung
und noch elenderem Stil die Enthuellung niederster Schakalinstinkte,
Geldgier, Erpressungsversuche, Frechheiten. Was sich wohl sogenannte
feinere Leute einbildeten - sie setzten Kinder in die Welt, kuemmerten sich
aber nicht um sie, sondern liessen sie anderen Leuten zur Last. Ob sich die
feine Gesellschaft je klar geworden sei, was es heisse, ein Kind
aufzuziehen? Zehntausend durchwachte Naechte und bei Tag keine ruhige
Stunde. Ob das mit solchem Lumpengeld wie fuenfzehntausend Mark bezahlt
sei? Sie, die Pflegeeltern, seien brave, sehr christliche Leute, wie das
ganze Stadtviertel bezeugen koennte, und niemand etwas schuldig, aber die
anderen, die zehn Briefe nicht beantworten, was seien die? Das bisschen
Geld, das bezahlt worden sei, sei laengst weg. Das haetten allein Doktor und
Apotheke verzehrt; denn wer weiss, was die Luise von ihren Eltern alles fuer
Krankheiten geerbt habe. Wenn sie, die Pflegeeltern, nicht so kinderliebe
Menschen waeren, laege das Kind laengst auf der Strasse oder im Grabe. Sie
muessten ihr Letztes zusetzen, um das Maedchen zu erhalten. Aber nun habe das
ein Ende. Sie wuerden den ganzen Skandal in die Zeitung bringen und sich
auch an das Vormundschaftsgericht in Waltersburg wenden. Im uebrigen seien
sie bereit, gegen Zahlung von weiteren zehntausend Mark das Maedchen in
Pflege zu behalten, obwohl Luise ein Kind sei, das nur Aerger bereite.

Solches und noch Aergeres enthielt der Brief. Ich trug ihn zur Mutter.

"Lies den Brief!" sagte ich.

Sie schuettelte zornig den Kopf.

"Du musst ihn lesen, Mutter", sagte ich todernst und in hartem Befehlston.

Sie starrte mich an und wurde blass.

Ich legte den Brief auf den Tisch und verliess das Zimmer.

Nach einer Stunde suchte ich die Mutter wieder auf.

Sie lag auf dem Sofa und zuckte wie in Kraempfen.

"Liebe, gute Mutter", sagte ich und streichelte ihren fruehgebleichten
Scheitel.

"Aendere es, Fritz", sagte sie muehsam, "aendere es; tue, was du willst, aber
aendere es - es ist entsetzlich!"

Schmerz und Grauen schuettelten sie.

Ich kuesste ihr die Hand und sagte: "Ich fahre mit dem naechsten Zuge nach
Berlin."

                                    *

Der Zug rollte sein einfoermiges Lied durch die ebene Landschaft. Es regnet
fein, glitzernde Troepfchen zittern an den Fensterscheiben und rinnen
schliesslich in schmalen Baechlein herab. Keiner meiner Fahrtgenossen
spricht ein Wort. Mir ist das recht lieb. Ich bin in einer trostlosen
Stimmung.

Ferien vom Ich! Ein Erloesungswort fuer gequaelte Menschen, eine
Zufluchtsstaette fuer muede Herzen, eine friedliche Insel im brandenden
Ozean, und ich der Lotse, der halb zerschellte Schiffe nach dem Hafen
geleitet. Bitterer Spott ueber mich selbst quillt mir im Herzen auf. Wenn
nun einer meiner Kurgaeste mich einmal befragt: Wie bist du eigentlich dazu
gekommen, solch ein Prophet des Friedens zu sein, wer lieh dir den Talar?
Bist du selber so ein harmonischer Mensch, hast du gesiegt ueber die Unrast
der Zeit und die Kaempfe deines eigenen Herzens? Hast du zunaechst alle
diejenigen, die dir durch verwandtschaftliche Bande nahestehen, so in den
Frieden gerettet, dass du nun ausgehen kannst, um fremdem Volk zu helfen?

Oh, seht ihn nur an, den Propheten, den Friedensapostel! Seht nur, wie er
im Eisenbahnwagen sitzt und endlich versuchen will, ein Kind, das ihm
durch die Bande des Blutes ganz nahesteht, vor voelliger Verwahrlosung zu
retten; fragt ihn nur nach seiner Mutter, die in Traenen zu Hause sitzt,
fragt ihn nach dem einzigen Bruder, der in Gram und Hass verschollen ist -
fragt ihn nach alldem und wundert euch dann, dass dieser Mann einer grossen
Gemeinde freiwillig seine Bauhilfe anbieten will, waehrend ihm der Regen
und der Wind durch die Loecher seiner eigenen Giebel dringen. Wie ein
Geistlicher ist er, der gegen die Suende predigt und selbst ein arger
Suender ist, wie ein Richter, der einen Verbrecher straft und den selber
eine geheime Schuld drueckt, wie ein Arzt, der andere dem Tode entreissen
will und der selber dem Tode geweiht ist!

                                    *

Berlin N. Eine der Proletarierstrassen, von denen jede einzelne mehr
Einwohner hat als ganz Waltersburg. Fuenfstoeckige Haeuser. Im Erdgeschoss
Geschaefte mit billigen Waren, in jedem zweiten oder dritten Hause eine
"Restauration", in deren Fenster Wuerste haengen und Schnapsflaschen stehen.
Auf den Buergersteigen und dem Fahrdamm ein Gewuehl schreiender, blasser
Kinder. Schlecht genaehrte Frauen, dicke Bierkutscher, schmale
Schreiberlein, modisch, aber windig gekleidete junge Maedchen, schwatzende
Weiber, mit Lastkarren daherkeuchende Maenner, hie und da ein Faulenzer,
der zum Fenster herausliegt, die Arme auf ein Kissen stuetzt und den
Stumpfsinn in Reinkultur zeigt, Koeter von unbestimmbarer Rasse, wie
wahnwitzig schellende Strassenbahnen, Autos, Droschken, Lastwagen, Radler,
dicke, stauberfuellte Luft, an jeder Strassenecke ein baerbeissiger Schutzmann
- Berlin N.

Das war das "Milieu", in dem meine Nichte Luise bisher aufgewachsen war.
Ich ging vom Stettiner Bahnhof aus auf die Suche nach ihrer Wohnung. An
einer Strassenecke bot mir ein Kind Schnuerbaender zum Kaufe an. Ein kleines,
blasses Maedchen war es. Ich sah sie an und trat einen Schritt zurueck. "Wie
heisst du denn?"

Das Kind erschrak und sagte aengstlich: "Luise!"

"Wie heisst du noch? Wie ist dein anderer Name?"

Noch ein veraengstigter Blick, und das Maedchen rannte, so schnell es nur
konnte, davon. Ich fuehlte es wie Laehmung in meinen Gliedern, aber ich
eilte dem Kinde nach. Bei einer Tornische holte ich es ein und fasste es am
Arm.

"Fuerchte dich nicht, Luise. Ich tue dir nichts."

Das Maedchen brach in Traenen aus.

"Sperren Sie mich nicht ein!"

"Warum soll ich dich denn einsperren?"

"Weil ich - weil ich - die Schuhbaender - Sie sind ein Geheimer ..."

Das Kind weinte noch lauter.

"Hallo! Seht nur da! Was hat denn der mit dem Maedel? Warum weint denn det
Maedel? Haut ihn! Das is so eener! Wird er gleich das Kind in Ruh' lassen!"

Ich war im Nu von einer Rotte Menschen umstellt. Einige Rowdies nahmen
eine drohende Haltung an, Maenner murrten, ein Weib kreischte mich an:

"Pfui ueber so 'nen Spitzel - 'n armes Maechen, wat sich 'n paar Jroschen
verdient, feste zu nehmen ..."

"Is ja jar keen Jeheimer, is ja 'n solcher! Haut ihn!"

Die kleine Luise entschluepfte mir, ein Schutzmann kam breit wie ein
Hilfskreuzer auf die Gruppe zugesegelt, die alsbald um ihn und mich einen
mehrfachen Belagerungsring schloss.

"Was ist los?" fragte der Gesetzeshueter.

"Er hat 'n kleines Joehr belaestigt - er hat 'n Kind jemisshandelt - er hat
ihr blutig jeschlagen - er hat jesagt, er is 'n Jeheimer, aber er is 'n
Lump."

Der Schutzmann stand wie ein Fels.

"Wer sind Sie?"

Ich zog eine Legitimationskarte heraus.

"Was ist geschehen, Herr Doktor?" fragte der Schutzmann, nachdem er die
Karte gelesen.

"Doktor - 'n Doktor is er - amputieren will er ihr - Versuchskarnickel
braucht er, det Schwein ..."

"Ruhe!" donnerte der Schutzmann. "Was ist geschehen?"

"Ich will es gern sagen", antwortete ich, "aber nicht vor diesen Leuten,
die die Sache nichts angeht."

Ein wuestes Geschrei antwortete mir; immer mehr Volk sammelte sich an.

"Kommen Sie in Ihrem eigenen Interesse mit mir", riet der Sicherheitsmann.

"Jawohl!" sagte ich, und wir durchbrachen die Kette.

Niemand konnte mich schuetzen, dass ich ein paar Pueffe und Stoesse erhielt.
Ein Trupp johlte hinter uns her, wurde aber durch ein Pferd, das auf der
Strasse gefallen, in seinem Interesse abgelenkt, und ich war mit dem
Schutzmann allein. Wir traten in einen Hauseingang, und ich gab ihm eine
kurze Aufklaerung. Als er den Namen der Pflegeeltern Luises gehoert hatte,
sagte der Schutzmann:

"Der Mann is 'n Tagedieb und die Frau 'ne Schlampe. Da sehen Sie man, dass
Sie det Wurm da abkriejen."

Ich dankte ihm, und wir trennten uns. Einen Augenblick ueberlegte ich noch,
ob ich zuvor einen Rechtsanwalt zu Rate ziehen solle, aber dann ging ich
direkt nach Luises Wohnung. Ein Hinterhaus von vielen Stockwerken. Auf dem
Hofe spielten Kinder im Staub der Stubendecken, die geklopft wurden. Die
Treppe war dunkel und schmutzig. Im dritten Stockwerk las ich den Namen
von Luises Pflegeeltern. Ich laeutete zweimal, dann kam ein zaghafter
Kindertritt, die Tuer wurde geoeffnet, ein entsetzter Schrei, die Tuer flog
wieder zu. Ich laeutete abermals. Ein grosser, starker Mann erschien. Er
trug einen Christusbart, ziemlich lange Haare und stak in einem schwarzen,
wenig sauberen Rock. Spaeter erfuhr ich, dass der Mann "Prediger" bei
irgendeiner neuen Sekte war.

Er wollte mich erst mit einer hochmuetigen Miene mustern, aber ploetzlich
wurde sein Gesicht scheinheilig freundlich, und mit oelglatter Stimme sagte
er:

"Ah, Herr Oberkommissar, ich hab schon gehoert - weiss schon - der Herr
Polizeiinspektor haben meine Pflegetochter beim Handel erwischt - aber ich
kann bei meiner Ehre versichern - Herr Inspektor ich bin unschuldig - ich
verbiete dem Maedel aufs strengste - haben es ja auch gottlob nicht noetig -
aber sehen Sie, Herr Inspektor, so'n hergelaufenes Kind von schlechter
Abkunft, das man so aus purem Mitleid (ich bin Oberprediger bei der
Gemeinde der Juenger von Kapernaum), das man so aus christlicher
Barmherzigkeit aufzieht und das doch nicht geraet, weil der Feind sein
Unkraut unter den Weizen saet, das stiehlt sich nun 'n Jroschen, kauft sich
Schuhbaender oder Streichhoelzer oder was weiss ich und verkauft sie, um zu
naschen - natuerlich nur, um zu naschen ..."

Das Geschwafele erstarb an meiner wortlosen Ruhe.

"Was wuenschen der Herr Inspektor - ich wuerde den Herrn Inspektor gern in
die Wohnung bitten, aber meine Frau ist zufaellig heute noch nicht mit dem
Aufraeumen fertig ..."

Da sprach ich endlich.

"Sie irren - ich bin kein Polizeimann - ich bin der Onkel der kleinen
Luise."

"Sie sind - Sie sind - ach so - ach so - der sind Sie ..."

Er brach in ein meckeriges Lachen aus.

"Ich will Sie zur Rechenschaft ziehen, Sie schlechter Kerl!" rief ich
ausser mir.

"Sie wollen mich - was wollen Sie?"

Sein Gesicht veraenderte sich. Eine zynische Frechheit machte sich auf
seinen Zuegen breit.

"Was wollen Sie!" bruellte er. "So 'n Balg - so 'n unsauberer Balg - und
Sie wollen noch - ah, wenn Sie mir was zu sagen haben, schreiben Sie es
mir; ich bin fuer Sie nicht zu sprechen - verstehen Sie - fuer Sie nicht zu
sprechen; denn ich bin ein anstaendiger Mensch!"

Die Tuer fiel ins Schloss. Ich blieb allein stehen; ich fuerchtete, nun wuerde
die kleine Luise drin zu schreien anfangen.

Aber es blieb still. Nur eine Tuer krachte noch zu.

Da eilte ich die schmutzige Stiege hinab.





                             SAMARITERDIENSTE


So lebte das einzige Kind meines Bruders! In einer Umgebung von Schmutz,
Heuchelei, Armseligkeit, Roheit. Ein Glueck, dass dem Weltverbesserer doch
noch das Kehren vor der eigenen Tuer einfiel, ehe er an die grosse Mission
ging, anderen zu helfen.

Fast in jeder Familie gibt es einen, auf den sich die anderen ganz
besonders verlassen, zu dem sie in ihren Kuemmernissen und Noeten kommen,
dem sie es ueberlassen, zu ordnen, was sie selbst schlecht gemacht haben,
der Geld borgen muss, wenn die andern nichts haben, der immer schieben,
immer unterstuetzen, immer aushelfen muss. Den Starken als Stuetze der
Schwachen kann man ihn nennen, wenn man es ideal ausdruecken will; sonst
kann man auch kurz sagen: der Lastesel. Nachgerade kam es mir vor, als ob
ich in unserer Familie diesen Ehrenposten bekleidete.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mit Freundlichkeit an meinen Bruder
dachte, als ich durch den Staub des Hofes nach der Strasse zurueckfluechtete.
Was an diesem Kinde geschah, war jahrelange Suende. Auch an die Mutter
dachte ich nicht ohne Bitterkeit. Sie war in diesem Augenblick nicht mein
silbernes Muetterchen, sie war eine reine, aber selbstgerechte Frau, die
nicht stark genug war, der Schuld mit Herzenstapferkeit ins Auge zu sehen
und auf dem Schlachtfeld der Suende Samariterdienste zu tun, sondern eine,
die sich aengstlich in ihrer wohlumhueteten Sauberkeit hielt, mehr bekuemmert
um sich selbst als um das, was draussen zugrunde ging. Jawohl, ich hatte
nicht Lust, das alles so hinzunehmen, ich wollte meine Meinung sagen. Was
sollte ich denn tun, ich einzelnstehender Mann? Es wuerde schwer genug
halten, das Kind loszubekommen. Der ekle Kerl von Pflegevater war zum
gesetzlichen Vormund und Pfleger bestellt, die Erziehungsrechte waren an
ihn abgetreten. Um ihm das Kind in Guete gewissermassen abzukaufen, dazu
fehlte mir das Geld. Mit gesetzlichen Mitteln aber so einem abgefeimten
Schuft an den Leib zu gehen, wuerde schwer genug sein. Das Naechste war,
einen Anwalt zu befragen.

                                    *

In meinem Hotel suchte ich das Lesezimmer auf, setzte mich in eine Ecke
und gruebelte. Ich mochte wohl schon lange so gesessen haben, da tippte
mich jemand auf die Schulter.

"Sie sollten mal Ferien vom Ich machen, Sie haben es noetig!"

Es war Mister Stefenson, der also zu mir sprach. Ich war ganz erstaunt,
ihn so ploetzlich hier in Berlin zu sehen.

"Ferien vom Ich sollten Sie machen!" wiederholte er.

"Von wem erfuhren Sie denn, dass ich hier bin? Von meiner Mutter?"

"Von wem anders sollte ich es wissen? Sie sind in Familienangelegenheiten
hier - wegen einer kleinen Nichte - wollen sie in eine andere Pension
bringen - ja, lieber Doktor, das gefaellt mir nicht!"

"Was gefaellt Ihnen nicht?"

"Dass Sie Ihre Zeit mit solchem Familienkrimskram vergeuden."

"Erlauben Sie, das ist doch wohl meine Sache."

"Ihre Sache und meine Sache. Sie haben jetzt keine Zeit fuer solche Dinge.
Es passt nicht in unser Programm. Sie haben selber gesagt, zu unserem
Ferienheim gehoere vor allen Dingen die Erloesung von drueckenden familiaeren
Fesseln. Ist das keine Fessel, die Sie am Fuss schleppen? Jetzt, wo wir in
der allerschwersten Gedankenarbeit stehen muessten, fahren Sie einem kleinen
Maedel nach. Was liegt der Welt an dem kleinen Maedel? An Ihrem Ferienheim
soll ihr etwas liegen."

"Ich glaube, Herr Stefenson, so eng sind wir denn doch noch nicht
miteinander verbunden, dass Sie in dieser Weise mit mir reden duerfen."

"Ich darf", sagte er phlegmatisch. "Ich habe in Ihnen so etwas wie einen
Propheten gesehen - die Propheten gehen aber in die Wueste, ehe sie
oeffentlich auftreten, nicht nach Berlin - die Apostel verlassen Weib und
Kind - der Soldat, der in den Krieg zieht, darf nicht rueckwaerts schauen,
er sagt: Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Der Familiensimpel
bleibt immer ein mittelmaessiger Kerl."

Ich erhob mich und wollte ihm grob kommen. Aber ich setzte mich wieder,
sah auf einen Augenblick in seine ehrlichen, quellklaren Augen und sagte
dann: "Sie haben vielleicht in manchem recht, Mister Stefenson, aber im
ganzen sind Sie doch im Unrecht. Wenn ein Soldat in den Kampf ziehen soll
und am Fuss eine Beule hat, wird er danach trachten, dass ihm erst ein Arzt
die Beule oeffnet und die Wunde saeubert und verbindet, ehe er marschiert.
Sonst bleibt er eben am Wege liegen. So geht es mir auch. Ich muss mir erst
diese Angelegenheit mit meiner kleinen Nichte vom Halse schaffen, ehe ich
an unsere Aufgabe gehen kann."

"Gut, so schaffen Sie sich die Angelegenheit vom Halse - morgen vormittag
zwischen neun und elf. Um elfeinhalb koennen wir dann unsere Beratung
haben."

"So rasch geht das nicht."

"Wie lange kann es denn dauern?"

"Wohl einige Wochen oder auch Monate."

Herr Stefenson laechelte sanftmuetig.

"Das ist sehr schoen! Ja, dann sind Sie wohl so freundlich, mich nach
einigen Monaten gelegentlich wissen zu lassen, mit wem Sie schliesslich Ihr
Sanatorium begruendet haben. Ich bin gar nicht abgeneigt, mir dann einen
Prospekt schicken zu lassen. Fuer jetzt, guten Abend!"

Er verliess mich. Ich sah ihm nach, als er aus dem Zimmer ging, und wusste,
dass es aus war mit meinem Lebenstraume. Ich sass ganz still, und ich weiss
jetzt nicht mehr, was ich damals alles dachte. Ich wusste in jener Stunde
nur, es war aus, um eines kleinen Maedchens willen, das ich kaum auf zwei
Minuten lang gesehen hatte - aus! Dieser Mann, der vor zwei Tagen so viel
Geld auf eine Idee von mir setzen wollte, hielt mich nun fuer einen
Schwachkopf. Aber auf so elende Weise durften wir uns nicht trennen. Rasch
warf ich einige Zeilen auf eine Karte, ich muesse Herrn Stefenson noch
einmal sprechen, nicht um ihn umzustimmen, daran daechte ich nicht, sondern
um nicht ganz ungerechtfertigt zu scheiden. Ich schickte Stefenson durch
einen Kellner die Karte, und er kam auch bald persoenlich.

"Mister Stefenson - es ist nichts Geschaeftliches mehr, nur etwas rein
Menschliches. Es ist darum, dass wir uns jetzt ohne gegenseitige
Hochachtung, aber doch auch ohne beleidigende Gesten trennen wollen, wie
Sie selbst einmal gesagt haben. Haben Sie noch zehn Minuten Zeit fuer
mich?"

Er nickte, und ich erzaehlte ihm ohne alle Umschweife die Tragoedie Joachims
und seines Kindes, und wie ich das Maedchen heute draussen auf der
Ackerstrasse getroffen hatte. Mir wurde das Herz warm beim Erzaehlen, aber
Stefenson blieb ganz gleichgueltig. Zuletzt sagte er:

"Es ist eine traurige Geschichte, die Sie da erzaehlt haben, aber sie kommt
alle Tage vor. Es ist gar nichts Neues. Ich habe die Geschichte auch
erlebt. Aber etwas Interessantes ist dabei: Sind Sie wirklich fuenf Jahre
lang hinter Ihrem Bruder her gewesen?"

"Ja, ich fand ihn nicht eher."

"Hm! - Sagen Sie, wollen wir den Abend noch zusammenbleiben? Ich moechte
den "Sommernachtstraum" in der deutschen Auffuehrung ansehen. Kommen Sie
mit? Sie haben es doch wohl nicht so eilig nach Hause?"

Ich wusste, dass ich bei diesem Manne verspielt hatte, aber ich nahm die
Einladung an. Er sagte, er habe nun noch Geschaefte, wir wuerden uns im
Theater treffen. Damit haendigte er mir eine Theaterkarte ein und verliess
mich. -

Mendelssohns Ouvertuere zum "Sommernachtstraum" huschte und zwitscherte an
mir vorueber, Shakespeares unsterbliches Werk reinster Froehlichkeit tat
sich in glaenzender Darstellung vor mir auf, aber ich sass wie ein
Geistesabwesender auf meinem Platze. Der Stuhl neben mir war leer
geblieben. Stefenson war nicht erschienen. Der Maerchenwald, durch den die
Elfen huschten, blaute vor meinen Augen; aber ich dachte an den Wald an
dem Abhang des Waltersburger Weihnachtsberges.

Pyramus und Thisbe trieben ihren grotesken Spass. Da droehnte von meiner
Logentuer her tiefes Gelaechter. Stefenson stand dort. Er beachtete mich
nicht, er schaute nur vergnuegt nach der Buehne und lachte so laut, dass er
die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog.

Die naechste Pause kam. Da setzte sich Stefenson neben mich und sagte zur
Entschuldigung seines spaeten Kommens:

"Manche Geschaefte wickeln sich in Berlin sehr langsam ab."

Nach dem Theater fuhren wir nach einem Restaurant. Nachdem wir gegessen
hatten, sagte Stefenson ganz unvermittelt:

"Die Luise habe ich flottgemacht. Zuviel Schwierigkeiten habe ich mit dem
alten Gauner nicht gehabt. Der Hauswirt war gerade bei ihm und draengte um
die Miete; da machte es der Kerl um dreihundert Mark. Er gab alles
schriftlich, was ich wuenschte. Mit Anwaelten ist das nichts. Das ist teuer
und umstaendlich. Mit dreihundert Mark war alles in zwanzig Minuten
gemacht, und ich hatte das Kind. Dann war ich um eine Pflegeschwester aus.
Das hat laenger gedauert. Das hat unsinnig lange gedauert. Die ganze schoene
Eselsszene habe ich im Theater verpasst. Die Pflegeschwester ist nun mit
der Luise in unserem Hotel. Nummer 187 wohnen sie. Bald fahren sie nach
einem Erziehungsinstitut in Thueringen. Es ist mir empfohlen worden. Da
wird ja wohl die Luise koerperlich und seelisch zurechtgestutzt werden."

Ich schlug wieder einmal die Haende zusammen.

"Guter Herr Stefenson, das haben Sie getan?"

"Ich bitte, exaltieren Sie sich nicht! Eine Zeitlang wird die Luise in dem
Institut bleiben, und dann kann sie zu uns in das Ferienheim kommen - so
als eine Art - als eine Art Einweihungsengel."

Mich wuergte es in der Kehle.

"Sie wollen das Heim doch mit mir gruenden?"

"Ja", sagte er ganz ruhig, "ich will. Es hat mir was an Ihrer Geschichte
gefallen. Natuerlich nicht das Sentimentale, aber dass sie fuenf Jahre lang
die Jagd machten, das zeugt doch von einer gewissen Ausdauer. Und Ausdauer
ist zu gebrauchen."

                                    *

Ich bin wieder im stillen Waltersburg. Berlin N liegt hinter mir wie ein
wuester Traum. Welch Gegensatz! Die kleine Luise ist gut untergebracht.

Stefenson hat mir gestern schriftlich mitgeteilt, dass er mich fuer keinen
Philosophen halte, auch nicht fuer das, was man einen lebensklugen Menschen
nenne, und was ich als Arzt tauge, koenne er nicht beurteilen. Er halte
mich fuer einen Dichter. Meine ganze Idee sei weniger aerztliches Problem
als vielmehr eine Dichtung. Aber Dichtung sei besser als Problem. Dichtung
ist etwas Gezeugtes, Probleme sind etwas Konstruiertes, Dichtung ist
Lebewesen, Problem ist Mechanik. Und so solle ich nur jetzt meine Dichtung
ganz ausgestalten und ihm vertrauensvoll uebergeben. Was ausfuehrbar sei,
werde ausgefuehrt werden, das andere werde als blauer Dampf in die Hoehe
ziehen und auch als Woelklein am Himmel noch schoen sein.





                         IN DEN TAGEN DES WERDENS


Beschaulichen und nachdenksamen Charakters ist Herr Stefenson nicht. Es
geht alles so verblueffend schnell bei ihm, dass er, wenn ein anderer noch
bei den ersten Erwaegungen und Bedenken staende, schon am Ende ist. Freilich
kommt dazu, dass er Glueck hat. Das Gelaende am Ostabhang des
Weihnachtsberges steht zum Verkauf. Es gehoert einem Manne, der, wie Hans
im Glueck, staendig seinen Besitz vertauschte. Dieses Gut hat er gegen
grosse, sehr ertragreiche Steinbrueche umgetauscht, die Steinbrueche gegen
eine Fabrik, die noch besser war, und so ist es langsam bergab gegangen,
und Herr Stefenson mit seinem grossen Geldbeutel hat wenig Schwierigkeiten
gefunden. Achtundvierzig Stunden haben die Verhandlungen gedauert, dann
war das Gut, das mit Wiese und Wald 2500 Hektar gross ist, von Stefenson
gekauft. Um einen Preis, bei dessen Nennung einem frueheren Schiffsarzt die
Gaensehaut ankommt.

"Nun ist das Gelaende da, nun muss die Gemeinde errichtet werden", sagte
Stefenson sehr einfach. "In einem Jahre muessen saemtliche Haeuser stehen."

"In einem Jahre?"

"Ja! Die Deutschen brauchen, wenn sie einen Dom bauen wollen, vierhundert
Jahre, der Amerikaner braucht, wenn er eine Stadt baut, sechs Monate."

"Es ist dann aber auch danach."

"Ob es danach ist oder nicht, ist gleich", erwiderte Stefenson verdrossen.
"Jedenfalls habe ich fuer die ganze Chose nicht mehr Zeit. Ich muss nach
Neuyork, nach Milwaukee, nach Trinidad. Sehen Sie sich das Gelaende an und
machen Sie Ihren Plan. Ich werde auch einen Plan machen. Ich brauche drei
Tage Zeit dazu."

"Ich wuerde drei Jahre dazu brauchen, aber um Ihretwillen werde ich in
sechs Wochen mit meinem Plane fertig sein."

Er wandte sich finster ab. Drei Tage lang lief er auf dem erworbenen
Gelaende umher, zeichnete, machte Notizen und ging mir aus dem Wege. Am
vierten Tage teilte er mir auf einer Postkarte mit, er habe einen kleinen
Abstecher nach Sizilien unternommen. Ich war froh darueber und ging nun
daran, mein Ferienheim im Plane zu entwerfen.

Das Gelaende kannte ich genau. Die meisten meiner Bubenstreiche hatten in
jenem Walde gespielt; auf jenen Wiesenrainen war ich als Student
tausendmal gegangen. Eines war zu vermeiden - alle Gleichfoermigkeit. Eine
Villa neben die andere zu bauen, ein Logierhaus wie das andere, alles in
zimperlich geordneten Gaerten, wo man kaum einen Fuss hineinzusetzen wagt
wie in die gute Stube einer peinlichen, eitlen Hausfrau, das sollte uns
gewiss nicht einfallen, ganz abgesehen von Basaren, Hotels, Restaurants,
Plaetzen und Strassen grossstaedtischer Art.

Im Mittelpunkt der Ferienheimat soll das Rathaus liegen. Es soll ein
grosser, geraeumiger Bau altdeutschen Stils sein. Der Buergermeister wird
darin wohnen; denn einen solchen wird uns wohl das Gesetz auferlegen; aber
auch die Sprechzimmer der Aerzte sollen im Rathaus untergebracht sein,
ebenso die Verwaltungsraeume, die Kasse, die Nachtwaechterstuben. Auch einen
grossen ehrwuerdigen Saal soll das Rathaus haben, in dem die Feriengaeste
manchmal zu einer Feierstunde nationaler, kuenstlerischer oder geselliger
Art geladen werden. In diesem Rathaus wird auch das "verbotene Zimmer" mit
den Zeitungen sein. Ein Posten wird davor Wache halten und nur diejenigen
einlassen, die eine Karte vorzeigen, und eine solche Karte wird jedem
waehrend der Dauer des Ferienaufenthaltes nur zweimal gewaehrt werden.

Das Rathaus wird am Lindenplatz liegen, dort, wo die grosse Linde mitten
auf der Wiese steht. So oft auch die Dichter vom Platz unter der Linde und
vom Tanz mit dem schoenen Kinde und dem Traum im Abendwinde gesungen haben,
mir ist die alte Weise nicht zu abgeleiert, ich will das froehliche Glueck
vergangener Tage neu erstehen lassen.

Am Lindenplatz, dem Rathaus gegenueber, soll die Lindenherberge liegen,
unser groesstes Gasthaus. Das Modell muss man in schoenen deutschen Staedten
suchen, etwa in Rothenburg, Goslar, Wernigerode oder Hildesheim, und dann
ist es fuer unsere Zwecke auszugestalten. Eine Bauernschenke denke ich mir,
ein Herrenstuebchen, einen Poetenwinkel mit Butzenscheiben, wo Lieder zur
Laute gesungen werden. Oefter als einmal in der Woche darf sich niemand in
einer der drei Stuben sehen lassen; denn dreimal in der Woche ins Gasthaus
zu gehen, ist fuerwahr genug fuer einen Kurgast. Es darf sich auch keiner
einbilden, dass er etwa nur Bauer oder ein Herr oder nur Saenger zur Klampfe
sei - er muss alles sein wollen und sein koennen, und wenn er dreimal in der
Woche "ausgehen" will, dann muss er eben jedesmal in eine andere Abteilung,
und das Braunbier, das in der Bauernschenke ein biederer Wirt mit seiner
Gattin ausschenkt, muss ihm ebenso munden wie der Wein, den ein schoenes
Maedchen im Poetenwinkel kredenzt.

Ein Kaffeehaus werden wir auch haben; denn sonst bekaemen wir keinen
oesterreichischen Kurgast. In diesem Kaffeehaus wird alles zu haben sein,
was ein Wiener Kaffeehaus auszeichnet, von der drangvollen Fuelle bis zum
Zigarettendampf, nur keine Zeitungen.

Vielleicht wird mir mancher ob meiner grossen Toleranz gegen Tabak und
selbst gegen Alkohol zuernen, aber ich sorge dafuer, dass alles im Lot
bleibt.

Da in den Wirtschaftsraeumen umsonst nichts geschenkt wird, da aber auch
keiner der Gaeste einen Pfennig Geld in der Tasche hat, sind alle genoetigt,
ihre Zeche recht schoen und breit an die schwarze Tafel ankreiden zu
lassen, und das gibt nicht nur eine gute Selbstkontrolle, sondern
garantiert auch eine gewisse oeffentliche Aufsicht. Alle aber, denen der
aerztliche Befund solche Genuesse verbietet, koennen sich unten am Fluss in
der Fischerklause, dem zweiten Gasthaus, bei alkoholfreiem Getraenk des
Lebens freuen, und es stehen auch verschiedene Selter- und Milchhaeuslein
im Gelaende, alle bedient von dazu verordneten Damen aus der
Kurgesellschaft. Denn das ist eine wesentliche Seite meines
Gesundungsheims, dass alle Kurgaeste, soweit es ihr Zustand erlaubt und
wuenschenswert erscheinen laesst, arbeiten muessen. Aus faulem Nichtstun spross
noch in den allerseltensten Faellen ein Heil. Nein, es werden alle
Mitglieder unserer Gemeinde taetig sein, und dadurch werden sich auch die
Kosten vermindern, zu denen der einzelne beizutragen hat. Dass ein guter
Bestand geuebten Personals immer dasein muss, ist selbstverstaendlich. Aber
wenn ich z. B. fuer den Poetenwinkel drei Kellnerinnen brauche, wird eine,
die aufsichtfuehrende und bestimmende, eine Berufskellnerin, die zwei
Helferinnen werden Damen aus der Kurgesellschaft sein, und es wird mich
gar nicht beirren, einer jungen Graefin solchen Schankdienst auf eine Woche
aufzuerlegen. Wem es nicht passt, der geht! Wir werden alle unsere Gaeste
mit Liebe und Hochachtung behandeln, aber keinen umdienern und keinen
anzulocken oder zu halten suchen. Wir werden mit dem Phlegma der Starken
allen Widerstaenden begegnen.

Jeder Kurgast wird sich woechentlich mindestens einmal dem Arzt vorstellen
und neben sonstiger Kurverordnung die Arbeit vorgeschrieben erhalten, die
er in naechster Woche zu leisten hat. Die Verwaltung wird dem
Aerztekollegium rechtzeitig etwa mitteilen: Wir brauchen fuer naechste Woche
fuenfundvierzig landwirtschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen, sechzehn
Forstarbeiter, neun Gaertnergehilfen, vier Angler, zwei Jaeger, neun
Obstpfluecker, vierzehn Erbsenleser, sechzehn Mann fuer Wegebesserung,
sieben Viehhueter, ein Streichquartett, vierzehn Kellnerinnen und
Milchverschleisserinnen, sechs Kegelaufsetzer, zehn Hilfskutscher, zwoelf
Waeschebleicherinnen, drei Nachtwaechter, acht Frauen zum Spielen mit
Kindern von vier Jahren aufwaerts, _ad libitum_ Kuenstler und Artisten,
Dichter, Rezitatoren, Musiker, Saenger, Schnellmaler, Turner,
Zauberkuenstler und aehnliches, 168 Kuechengehilfen fuer je drei Stunden
taeglich, zwanzig Mann fuer Haushaelterarbeiten (vier Stunden), fuenf Boten
(Radler), einen Mann fuer die Festrede am Sonntag, dazu einen gemischten
Festchorus von beliebiger Staerke, zwei Laternenanzuender, zehn Frauen oder
Maenner fuer die Vorbereitung des naechsten Waldfestes, zehn
Hilfsbrieftraeger, zwanzig Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen fuer die
Anlegung und Bepflanzung des neuen Philosophenplatzes, sechs Damen, die
das Kuehemelken und Kaesebereiten erlernen wollen, einen Vorsitzenden und
vier Beisitzer (zwei maennliche und zwei weibliche) fuer unser privates
Friedensgericht.

Solches etwa wird die Kurverwaltung beantragen. Was davon in Erfuellung
geht, haengt natuerlich nicht von den Beduerfnissen der Kurverwaltung,
sondern von dem Befund des Aerztekollegiums ab, und der schoenste Erfolg
wird es sein, wenn alle Aufgaben durch freiwillige Meldung der Feriengaeste
gedeckt werden. Dass die Arbeit immer nur im Rahmen der eigentlichen Kur,
immer nur stundenweise geleistet werden darf, ist selbstverstaendlich. Das
Ferienheim ist ein Arbeitshaus idealster Art, es macht die Arbeit zur Lust
und Quelle der Genesung und wuergt den alten Drachen ab, dessen Pestatem
die Welt vergiftet: dass koerperliche Arbeit das Mal der Minderwertigkeit
trage. Das Ferienheim wird das Gegenteil lehren und beweisen, indem es
gerade durch koerperliche Taetigkeit gesunde, glueckliche Menschen schafft.
So wird alle Verwaltungs- und Bueroarbeit als viel zu anstrengend unseren
Gaesten niemals zugemutet werden. Aber mit den Muskeln arbeiten, taetig
sein, sichtbare Werte mit seinen zehn Fingern schaffen sollen alle, und
selbst den Faulenzern und Drohnen des Lebens, die vielleicht nur durch die
Romantik des Heims, durch die Neugier angelockt werden, soll, wenn sie
guten Willens sind, ein besseres Bild der Menschenfreude ins Herz gepraegt
werden.

Hinter dem Rathause, von ihm durch einen kleinen Schlag schoener Tannen
getrennt, beginnt die Baederstrasse. Es werden da in gesonderten Haeusern die
Wannen- und Schwimmbaeder, die elektrischen und die Dampfbaeder
eingerichtet; an sie reihen sich in dichtem Kiefernwald die Luft- und
Sonnenbaeder und die Planschwiesen.

Parallel mit der Baederstrasse geht der "Stille Weg". Es stehen da
freundliche Haeuslein fuer solche Gaeste, die einer groesseren aerztlichen
Beaufsichtigung und vermehrter Pflege beduerfen, die ihnen von
Berufspflegerinnen zuteil wird. Alle anderen Gaeste wohnen "draussen". Es
wird nicht zuviel auf Puelverlein und uebermaessiges Wassergepansch, auch
nicht arg viel auf Hantelturnen und Massage gegeben werden, sondern auf
tuechtige koerperliche Arbeit und frohen Sinn. Daher werden die meisten
Kurgaeste in Bauernwirtschaften wohnen. Wenn wir von diesem Riesengelaende
nur zwei Dritteile zur Feldbebauung anwenden, koennen wir sechzig grosse
Bauernwirtschaften zu je hundert Morgen Land einrichten; auf jeder
Besitzung koennen vier Pferde, dreissig Stueck Rindvieh, Huehner, Gaense,
Enten, Tauben, Kaninchen, Hunde, Katzen, Bienen sein, und alle diese Tiere
sollen von den Feriengaesten gepflegt werden, immer unter Leitung
sachverstaendiger Personen. Denn der Herr und Koenig des ganzen Hofes wird
der Bauer sein. Moege es uns gelingen, tuechtige Bauern zu finden, die nicht
nur den Pflug zu fuehren wissen, sondern die kernige Menschen sind voll
Biederkeit und froher Laune, derber Herzlichkeit und aufrechten Sinnes.
Wer nicht anderweitig abkommandiert ist, arbeitet auf dem Hofe, wo er
wohnt, nach Anweisung des Bauern oder der Baeuerin, immer nur pflichtmaessig
zwei bis vier Stunden am Tage. Wer etwas darueber tun will und darf, soll
es tun.

Oh, wie werden die Leute am "Stillen Weg", die ihr Zustand vom Glueck der
Arbeit ausschliesst, sich sehnen, "hinaus"zuziehen in die gesunde, frische,
befreiende Taetigkeit; wie gluecklich werden sie sein, wenn ihnen der Arzt
eines Tages sagt: Mein Lieber, du bist nun so weit, als schwacher
Hilfskaempe mitzutun, darfst auf einen Bauernhof, darfst zunaechst mal die
Tauben fuettern, den Huehnerstall nach Eiern absuchen und den Hund pruegeln,
wenn er eine Wurst gestohlen hat, und wenn auch das zu schwer ist,
aufpassen, ob in den Nistkaesten Sperlinge oder Stare wohnen.

                                    *

An die Bauernhoefe knuepfe ich meine groesste Hoffnung. Ich moechte die in
glitzernde, entnervende Ferne Gewanderten zum Erdduft und zur Einfachheit
wenigstens in Ferienwochen heimfuehren. Es soll und es muss gelingen. Alle,
die einmal Ferien vom Ich machen, die als neue, als ganz andere Menschen,
losgeloest von allem, was sie drueckte und knickte, auf einige selige Wochen
zum Ausgangspunkte, zum Mutterschoss unseres Kulturlebens zurueckkehrten,
zum Bauern-, Hirten- und Fischerleben - sie muessen mit gesuenderem Herzblut
in ihr Leben zurueckkehren, sie muessen mehr gewinnen als durch
Mineralwasser und Baederzerstreuung.

Die Hirten, Fischer und Jaeger vergesse ich neben den Bauern nicht. Wenn da
einer kommt, der vor dem Revolver stand, weil er ueberreizt war, der soll
oben an der Ginsterheide die Kuehe hueten. Den ganzen Tag wird er aufmerksam
sein muessen, dass die Bullen sich nicht bekaempfen und dass gluecksduselige
Muttertiere mit ihren mutwilligen Kaelbern nicht den nahen Klee
zerstampfen, und abends wird der Mann einsam vor einem wohlig
ausgestatteten Hirtenhaeuslein sitzen, die wiederkaeuenden Tiere werden um
ihn sein, und die Sterne werden ueber ihm wandern und ewige Worte zu ihm
reden; es wird aus Verlassenheit und Gram ganz maehlich Ruhe und Frieden
werden, und in den Menschenhass wird sich die Sehnsucht einschleichen:
"Naechsten Sonnabend, wenn ich Urlaub habe, gehe ich in die Lindenherberge
und sehe lustigen Menschen zu!"

Oh, wie ich nach guten Bauern, so werde ich nach guten Aerzten suchen
muessen. Nicht ihr aerztliches Wissen ist fuer mich in der Hauptsache
massgebend. Ob sie gute Psychologen, ob sie tiefe Menschenfreunde sind,
danach werde ich fragen. Die Jaeger - ach, die Jaeger, wird es wohl heissen,
sind sowieso gesund. Die zu uns kommen, sind es nicht. Nur die
Stubenhocker werde ich auf die Puersche schicken und nur die Zappeligen und
Unruhigen auf den Rehbock mit dem bestimmten Geheiss, einen zu erlegen. Wie
sie da ruhig sitzen werden, heute drei, morgen fuenf Stunden lang. Immer
vergebens. Und die Muecken werden stechen, und der Tau wird fallen. Und sie
werden nicht schimpfen duerfen, wie sie es sonst tun.

So auch mit den Fischern. Die Aufgeregten werden so lange angeln, bis sie
befriedigende Beute bringen. Wessen Aufmerksamkeit wochenlang auf eine
Federspule gerichtet gewesen ist, der hat sich ausgeruht und singt abends
im Poetenwinkel sein Lied als einer der Andaechtigsten der Lebensfreude.

Bauernhaeuser, Fischerhuetten, Jaeger- und Hirtenhaeuslein, das werden in der
Hauptsache die Wohnstaetten meines Ferienheims sein. Das ist eigentlich
mein ganzes Programm. Ich kann es keiner hochmoegenden Kommission
einreichen, aber eben darum hoffe ich, dass es gut ist. Im uebrigen bekenne
ich frei, dass ich mich auf Architektenkunststuecke nicht verstehe.

Ich habe trotzdem auf einer grossen Karte unser ganzes Gelaende
aufgezeichnet und ueberall vermerkt, wo ein Bauernhof stehen soll, auch die
Grenzen seines Bezirks bestimmt; ich habe die Hirtenhaeuslein, die
Milchstuben, die Fischerbuden angegeben, und zwischen all dem Hin und Her
fuehren Stege und Landstrassen, alle krumm und winkelig, aber angemessen
dem, was an Hebung und Senkung des Terrains und was an Baumschlaegen,
Hecken, Baechlein, Wald und Wiesenland da ist. Eine Umwallung werden wir
kaum brauchen, das Plateau hebt sich gen Waltersburg natuerlich ab, nur an
der einen Stelle, wo das Gelaende nach der Stadt eben uebergeht, wollen wir
eine Mauer und eine Pforte errichten. Neben der Pforte soll unser
"Zeughaus" stehen. Dort wird der Ankoemmling, der sich entschlossen hat,
unsere Ferien zu ueben, in seiner Zivilkleidung hineingehen, Kleider, Uhr,
Geld, alles, was er bei sich traegt, auch seinen Namen, ablegen, als neuer
Mensch, neugekleideter Feriengast ein neues Leben beginnen.

Das ist mein Plan. Ich weiss nicht, ob er so ausgefuehrt werden kann, ich
weiss nur, dass er so ausgefuehrt werden sollte.





                                 DAS KIND


Mitten in der Arbeit taucht viel oefter, als mir lieb ist, das Bild der
kleinen Luise vor mir auf. Am Morgen nach dem Theaterabend, als ich das
Kind im Hotel fand, war es ganz veraengstigt, zitterte und weinte. Auf alle
Fragen sagte es immer nur: "Ich will heim!" Zu den Schindern ins Elend
wollte es zurueck, weil es dort zu Hause war. Vor Stefenson und mir
fuerchtete sich die Kleine, und auch vor der fremden Schwester scheute sie
sich. Ich wollte sie streicheln, aber sie wich mir aus und duckte sich.
Das arme Ding hat wohl in seinem Leben schon viel Pruegel bekommen. Ich
sagte freundlich zu ihr:

"Luise, fuerchte dich doch nicht. Sieh mal, ich meine es gut mit dir, ich
bin ja mit dir verwandt; ich bin dein Onkel."

Sie sah scheu an dem fremden Manne empor, der ihr wohl zu vornehm
erschien, um mit ihr verwandt zu sein. Ob sie einen Vater oder eine Mutter
oder eine Grossmutter habe, wie andere Kinder, danach fragte sie nicht. Es
war auch besser; denn ich haette ihr sagen muessen: "Nein, das hast du alles
nicht; du hast nur einen Onkel." Waehrend ich mir noch vergeblich Muehe gab,
ein klein wenig das Zutrauen von Luise zu gewinnen, erschien Stefenson mit
einem Diener, der ein grosses Paket schleppte. Das Paket legte der
Amerikaner vor dem Kinde auf den Tisch und sagte:

"So, da habe ich dir ein bisschen Spielkram gekauft!" Es war eine kleine
Weihnachtsausstellung von allerhand Spielzeug: Puppen, eine kleine Wiege,
Hampelmaenner, Kreisel, Schachteln mit geschnitzten Tieren, Baukasten und
viele Kleinigkeiten. Sogar eine Knallpistole war dabei. Dem Kinde entfuhr
ein kleiner Schrei seligen Erschreckens, es erhob die Haendchen, tastete
schuechtern nach einer Puppe, zuckte aber zurueck. Da fuhr sie Stefenson an:
"Nun, du kleine Gans, so greif doch zu! Das ist alles dein. Das musst du
nehmen. Damit musst du spielen, sonst setzt es was ab!"

Auf diesen rauhen Ton war Luise offenbar gut eingerichtet. Sie fing
gehorsam an zu spielen. Nach fuenf Minuten kam ein leises Lachen, das
Gesichtchen erhellte sich, und ich sah noch deutlicher als gestern beim
ersten schreckhaften Begegnen in Joachims Zuege, sah in Joachims Augen. Ich
erinnere mich nicht, je ein kleines Maedchen gesehen zu haben, das so
auffallend dem Bilde ihres Vaters glich, wie Luise meinem Bruder aehnlich
ist. Wir hatten vielerlei in Berlin zu tun und blieben acht Tage dort. Am
fuenften Tage kam Stefenson in mein Zimmer und sagte:

"Jetzt hat mich das Balg gefragt, wenn Sie ihr Onkel waeren, ob ich
vielleicht ihr Vater sei? Nu nee, du kleine Gans, das faellt mir gar nicht
ein, dein Vater zu sein. Na, sie heulte gleich, und da hab ich denn
gesagt, ich bin ihr Stiefvater. Damit war sie ganz zufrieden."

Ich wusste schon, dass Luise in grosser Liebe und Dankbarkeit an Stefenson
hing. Seine rauhe, kurze Art schreckte sie nicht, und seine Fuersorge tat
ihr wohl.

So war der Abschied nach acht Tagen, als Luise nach Thueringen fahren und
wir nach Waltersburg zurueckkehren mussten, schmerzlich fuer das Kind. Nur
der Abschied von Stefenson, nicht der von mir, obwohl sich Luise
inzwischen auch zu mir ganz freundlich gestellt hatte.

Als wir im Eisenbahnwagen sassen, sagte Stefenson: "Die Gefuehlsduselei mit
dem Kinde hoert nun auf. Dazu haben wir keine Zeit."

Ich nickte ihm zu und schwieg. Als ich nach Hause kam, trat mir die Mutter
mit fragenden Augen entgegen.

"Ich habe das Kind in saubere Verhaeltnisse gebracht", sagte ich ihr und
ging in mein Zimmer. Die Mutter fragte nicht mehr, und ich erzaehlte
nichts. Wir fuehlten beide, wie sich eine eiskalte Wand zwischen uns
aufrichtete. Nach drei Tagen sagte die Mutter, Joachim habe geschrieben,
es gehe ihm gut. Mir war dabei, als ob sie von einem fremden Menschen
erzaehlte, dessen Schicksal mich nichts angehe.

                                    *

Die Zeichnungen, der Aufbau meines grossen Ferienheims nahmen mich fortan
ganz in Anspruch. Ich kann sagen, es waren reine Glueckstage, Tage voll
Fruchtbarkeit, Hoffnung, Kraftgefuehl. Und doch stahl sich Luises Bild bei
Tag und Nacht in meine Seele. So sagte ich mir eines Morgens, an drei
verlorenen Arbeitstagen laege nicht viel, Stefenson saesse sicher weit unten
in Palermo oder Syrakus, und sehr bald nach diesen Erwaegungen sass ich in
einem Schnellzuge nach Thueringen.

Ich hatte die Freude, dass mir Luise vertrauensvoll und dankbar
entgegenkam, und dass sie sich schuechtern an mich schmiegte, als ich sie
auf die Stirn kuesste.

Die wuerdige Vorsteherin des Pensionats sagte, es sei ja wohl noch zu kurze
Zeit, als dass das Kind sich schon in ihm voellig fremde Kultur ganz haette
fuegen koennen; aber Luise zeige so gute koerperliche und geistige Anlagen,
dass sie hoffe, das Kind wuerde mir recht bald Freude bereiten. Die Anstalt
lag an der Promenade der huebschen thueringischen Stadt. Als ich das Haus
verliess, sass gegenueber dem Eingang auf einer Ruhebank Mister Stefenson. Es
blieb mir gar keine Zeit, mich gross zu erstaunen, sondern er trat mir
gleich entgegen und sagte muerrisch:

"Ich finde das sehr merkwuerdig von Ihnen, dass Sie auch jetzt noch Zeit zu
solchen Exkursionen haben." "Ach, Mister Stefenson", entgegnete ich
heiter, "ich dachte, Sie waeren Ihrerseits noch auf Ihrer Exkursion nach
Sizilien."

"Sticheln Sie nicht", entgegnete er finster; "ich bin nicht nach Sizilien
gefahren zum Amuesement oder um einem kleinen Gaenschen nachzureisen,
sondern um in aller Ruhe die Plaene fuer unser Ferienheim machen zu koennen.
Wenn ich nun Pech gehabt habe mit den drei Plaenen, die ich gemacht habe,
weil ich den ersten in Palermo zerrissen, den zweiten in Modena verbrannt
und den dritten in Luzern ueberhaupt nicht erst angefangen habe, so hatte
ich doch gehofft, Sie wuerden inzwischen Gewissen genug haben, zu Hause zu
bleiben und zu arbeiten."

"Hab ich auch, Mister Stefenson! Mein Plan ist fertig."

"Ah - das ist gut. Wieviel kostet er? Wie balanciert er?"

"Was er kostet, wie er balanciert, weiss ich nicht. Das ist nicht meine
Sache. Ich bin kein Kaufmann. Wofuer sind Sie da?"

"Fuers Geldgeben!"

Er schuettelte melancholisch den Kopf.

"Ihr Plan ist unrentabel", sagte er duester.

"Mister Stefenson, ich will Ihnen einen alten deutschen Witz erzaehlen. Ein
Schlaechter kam in eine kleine Wirtschaft, um eine Kuh zu kaufen. Der Bauer
fuehrte ihn nach dem Stalle. Sie kamen in einen ganz dunklen Raum. Da sagte
der Schlaechter: 'Aber Mensch, wie kann ich Ihnen fuer ein so elendes Tier
so viel Geld geben, wie Sie verlangen?' - 'Sachte', sagte der Bauer, 'das
hier ist nur der Ruebenraum, die Kuh steht erst hinter der naechsten Tuer.'"

"Was gehen mich Ihre verdammten deutschen Witze an?" grollte Stefenson.

"Fahren wir erst nach Hause", entgegnete ich. "Und vorher koennen Sie ja
mal die kleine Luise besuchen. Sie macht sich heraus."

"Das faellt mir nicht ein", sagte Stefenson kalt. "Ich hasse diese deutsche
Sentimentalitaet."

So fuhren wir nach Hause. Ich uebergab Stefenson meine Zeichnungen und
schriftlichen Ausfuehrungen. Er nahm sie mit nach Neustadt, wo er immer
noch in einem Hotel wohnte. Nach fuenf Tagen suchte ich ihn zu sprechen. Es
hiess, Mister Stefenson sei verreist. Eine Viertelstunde etwa dachte ich
darueber nach, wohin Stefenson wohl sein koenne. Dann telegraphierte ich an
die Vorsteherin des Instituts in Thueringen:

"Ist Mister Stefenson noch dort?"

Am Abend kam die Antwort:

"Stefenson war hier, ist aber eben zurueckgereist."

Darauf machte ich mir das Vergnuegen, zum Neustaedter Bahnhof zu gehen und
den Zug zu belauern, von dem ich vermutete, dass er Herrn Stefenson
mitfuehren wuerde. Ich hatte den Zeitpunkt ganz richtig aus dem Kursbuch
festgestellt.

Als Stefenson die Bahnsperre passierte, trat ich ihm ploetzlich entgegen,
und er war nicht weniger erschrocken als ich, da ich ihn ploetzlich auf der
Promenadenbank in Thueringen traf.

"Guten Abend, Mister Stefenson", sagte ich, "wie geht es der kleinen
Luise?"

"Wieso - wieso - Luise - was geht mich das Gaenschen an?" versuchte er sich
herauszuluegen.

Ich blickte ihn freundlich an und sagte:

"Die Frau Vorsteherin, die ich telegraphisch anfragte, sagte mir, dass Sie
dort waren."

Da hustete er.

"Wissen Sie was", sagte er zornig, "es ist nicht schoen, dass Sie mir
nachspionieren. Was geht mich das Gaenschen an? Aber da Sie schon mal so
ein Spion sind, will ich Ihnen sagen, ich kann fuer diese Schwaeche nichts.
Meine Mutter war eine Deutsche."





                               VORARBEITEN


Es ist ein halbes Jahr her, seit ich die letzte Eintragung in mein
Tagebuch machte. Im Mai war es, als Stefenson erschnoben hatte, dass ich
ein Tagebuch fuehre und darin manches ueber den Ausbau unseres Ferienheims,
aber auch ueber seine eigene Person niedergeschrieben habe. Seit der Zeit
quaelte er mich, ihm das Tagebuch einmal zur Lektuere zu ueberlassen. Er war
neugierig wie ein Backfisch, und es nuetzten mich alle Versuche nichts, ihm
klarzumachen, dass es - gelinde gesagt - sehr indiskret sei, Einblick in
ein fremdes Tagebuch zu verlangen. Es dauerte so lange, bis er die
Aufzeichnungen in Haenden hatte. Dieser Mensch ist ein ganz wunderliches
Gemisch von Kindlichkeit und halsstarriger Energie.

Nach drei Tagen gab mir Stefenson das Tagebuch zurueck und sagte, indem er
ein sauersuesses Laecheln zwischen seinen duennen Lippen zerquetschte: "Sie
haben mich sehr schlecht charakterisiert."

"Dieses Urteil sah ich voraus, Mister Stefenson; die Fortsetzung des
Tagebuches werden Sie auch nicht zu sehen bekommen."

Er machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte, daran liege ihm auch
nichts, und ging wieder nach seinem "Buero". Dieses besteht aus einer
Holzbude, in der ein langer roher Tisch, einige Brettstuehle, ein
Kleiderhaken und der Telephonapparat die ganze Ausruestung bilden. Der
Tisch ist mit Papieren aller Art bedeckt. Hier liegen die kostbaren Plaene
unserer Ferienhaeuser, sind Aktenstoesse, stehen Modelle. In einem Nebenraume
klappern ein paar Schreibmaschinen. Stefenson sagte mir einmal,
Schreibmaschinenklappern und Telephongeschelle sei ihm die schoenste Musik.

In dem Buero sind unsere Beratungen. Dorthin muessen Architekten,
Maurermeister, Lieferanten aller Art, Verwaltungsbeamte, Stellungsuchende
zum Vortrag kommen. Anfangs hatte Stefenson die Absicht, mich von den
Hauptkonferenzen mit den Bauleuten auszuschliessen oder mir doch eine rein
zuhoerende Rolle zuzuweisen. Als ich ihm aber energisch sagte, er scheine
vorzuhaben, ein schleudriges Klein-Chicago zu errichten, das sich ganz gut
fuer Engros-Schweineschlaechterei, aber nicht fuer mein romantisches
Ferienheim eignen moege, wurde er immer stiller und liess mich nach und nach
mit den Architekten selbstaendig wirken. Nur das Tempo der Arbeit bestimmte
er, und das stand immer auf Volldampf. Der Mann arbeitet selbst von
morgens fuenf Uhr bis nachts um elf, ohne irgendwelche Ermuedung zu zeigen.
Stefenson leitet seine Verhandlungen meisterhaft; keine Kleinigkeit
entgeht ihm. Sobald ein Thema angeschlagen ist, wird es Schritt fuer
Schritt erledigt. Kein Abweichen vom Wege ist erlaubt. Das
Dazwischenwerfen einer aufblitzenden, abseits liegenden Idee ist streng
verpoent, kein unfruchtbares Durcheinandergerede gestattet, sondern
planmaessige, geordnete Arbeit wird geleistet, Fuer und Wider werden kurz
beleuchtet, Nebensaechlichkeiten unter den Tisch fallen gelassen, der
Beschluss knapp und fast immer schriftlich gefasst; dann wird aber auch im
Verlauf der weiteren Verhandlungen auf den erledigten Punkt nie wieder
zurueckgegriffen. So wusste man am Schluss solcher Verhandlungen immer: das
stand zur Beratung, das ist beschlossen, so und so, dann und dann muss es
ausgefuehrt werden. Stefensons Gehirn hat eine wohlgeordnete Registratur,
und etwas schwaermerisch angelegte Leute wie ich, denen leicht die Gedanken
durcheinander purzeln, koennen viel von solchem Manne lernen. Nur darf
Stefenson meine romantische und philanthropische Idee nicht aus dem Auge
lassen, und das tut er auch nicht. Stefenson und ich sind in vielen Dingen
die reinsten Antipoden; aber ich schaetze es als Glueck, mit einem so klaren
Kopf zusammen zu arbeiten, wenn ich auch manchmal einen wilden Zorn ueber
seine Kaltschnaeuzigkeit habe. So ist der Mann. Wir vertragen uns und haben
Haendel miteinander - je nachdem. Ich glaube, ich werde gut fahren, wenn
ich mit Stefenson gleichen Kurs halte. Es gibt kaum ein groesseres Unglueck
auf der Welt, als sich mit dummen oder schwachen Menschen zu verbinden,
und kaum einen groesseren Vorteil, als einen klugen Freund.

                                    *

Als unsere Idee bekannt wurde, war die Physiognomie der Waltersburger
ungefaehr die eines Kalbes, das zum ersten Male donnern hoert. Die Leute
wunderten sich rasend. Sie steckten die Koepfe zusammen, redeten viel auf
den Bierbaenken und kamen doch, da sie immer nur Geruechtsbrocken sammeln
konnten, zu keinem klaren Bilde.

Den Ausschlag soll der Amtsrichter gegeben haben, der sich dahin geaeussert
hat: es scheine sich um eine Art Verruecktenanstalt im grossen zu handeln;
den noetigen Spleen scheine ich von der Weltreise mit heimgebracht zu
haben, und was etwa fehle, habe Mister Stefenson aus seinem reichen Vorrat
an Tollheit ergaenzt.

Guenstig war uns von Anfang an die Stimmung der Waltersburger gar nicht. Zu
dem neidischen und veraergerten Gefuehl, das einem unerwarteten Werk vom
lieben Publikum immer gespendet wird, gesellte sich ein ganz besonderer
Verdruss. Stefenson hatte erklaert, dass er eine ganz neue Gemeinde begruenden
werde mit einem eigenen Buergermeister und einer Verwaltung, die alles im
Umkreise Bekannte in den tiefsten Schatten stellen werde.

Darueber waren die Waltersburger wuetend. Nachdem ihnen schon die Neustaedter
untreu geworden und der Mutterstadt gewaltig ueber den Kopf gewachsen
waren, sollte sich hier auf ehemaligem Waltersburger Grund und Boden
abermals ein neues Gemeinwesen auftun, das den Bestand Waltersburgs
verkuerzte und die eigene Stadt in immer kuemmerlichere Unberuehmtheit
draengte. Waltersburg war wie eine Mutter von mittelmaessigen Anlagen, die
sich aergert, wenn ihre Toechter in der Gesellschaft Glueck haben.

Eitel waren die Waltersburger immer. In der Pfarrkirche ist ein Altarbild,
das angeblich von Tintoretto stammt. Ein begueterter Graf, der ehemals hier
residierte, soll es von einer Pilgerfahrt mitgebracht haben. Die Echtheit
des Bildes ist zweifelhaft, nur nicht fuer die Waltersburger, die das
Gemaelde zu den Meisterwerken Tintorettos rechnen. (Tintoretto, "das
Faerberchen", hat bekanntlich neben ausgezeichneten Stuecken viel
Mittelmaessiges, ja Schleudriges geleistet.) Als ein grosses neues
Reisehandbuch erschien, waren die Waltersburger neugierig, ob ihr
Tintoretto zwei Sterne oder nur einen haben werde. Die Enttaeuschung war
gross; denn ganz Waltersburg mitsamt seinem Tintoretto wurde in dem
Handbuche ueberhaupt nicht erwaehnt. Der Schrei der Empoerung, den damals der
gebildete Teil der Stadt ausstiess, hat noch heute ein Echo in vielen
Herzen.

Fuer uns kam bald ein Umschwung. Stefenson berief eine Versammlung nach dem
Saale des groessten Waltersburger Hotels, den "Drei Raben". Er lud zu dieser
"freien Zusammenkunft, in der er Aufschluesse ueber seine Neugruendung geben
werde", nicht nur den Magistrat und alle Honoratioren mit ihren Damen,
sondern auch je einen Schuster, Schneider, Baecker, wie alle anderen
Handwerkszweige mit ihren Frauen. "Es muss wie bei der Arche Noahs sein",
sagte er gut gelaunt, "von jeder Art ein Paerchen." Der Erfolg war schwach.
Einzelne zwar priesen Herrn Stefenson wegen seiner gerechten
unparteiischen Art, aber andere ruempften ausserordentlich stark die Nasen,
und als die Versammlung begann, zeigte es sich, dass fast gar keine Frauen
da waren. Die Frau Provisor und die Frau Kanzleirat hatten entruestet
erklaert, man koenne sich doch nicht mit Krethi und Plethi zusammensetzen,
und fast alle anderen "Damen der Gesellschaft" hatten sich dieser
Auffassung angeschlossen. Die Weiber der Handwerksleute aber hatten sich
"geniert", zu kommen. Aber auch die Maenner waren nur in schwacher Anzahl
erschienen. Der Magistrat liess sich durch einen Beisitzer vertreten. Am
meisten freute es mich, dass der Lehrer Herder da war. Er wurde auch zum
Leiter der Versammlung gewaehlt. Stefenson hielt eine Rede. Er spricht die
deutsche Sprache ohne jeden fremden Akzent. Denn nicht nur seine Mutter
ist eine Deutsche gewesen; ich habe unterdes herausgekriegt, dass
Stefensons Vater zwar ein Stockamerikaner von reinster Monroedoktrin war,
dass aber sein Grossvater bis zu seinem dreissigsten Lebensjahre in Hamburg
gelebt hat und bis dahin Georg Stefan hiess. Stefenson hat rein deutsches
Blut in sich.

Der "Mister" sprach. Er sagte, ueber die Idee seiner geplanten Kuranstalt
wolle er nicht reden; diese sei ein so unerhoertes, geniales Problem (dabei
trat er mich grob auf den Fuss!), dass er es im Rahmen einer so kurzen
Aussprache nicht erlaeutern koenne. Waltersburg habe zwar keine hervorragend
guenstige Lage und werde von vielen anderen Orten auch durch den Reiz der
Umgebung wesentlich uebertroffen (Gebrumm in der Versammlung), aber sein
Freund und aerztlicher Beirat sei ja, wie alle wuessten, ein Waltersburger
Kind, und so habe er dem Freund zuliebe dieses Gelaende fuer die Ausfuehrung
seiner Idee gewaehlt. Er gehoere zu den Leuten, die sich eher das eigene
Hemd ausziehen, als dass sie zugeben, dass der Freund friere. (Frau
Postschaffner Hempel verliess entruestet das Lokal.) "Kommen Sie gut nach
Hause, Frauchen!" ruft ihr Stefenson nach. (Abermaliges Gebrumm.
Postschaffner Hempel erhebt sich, sagt in halblauter Entruestung: "Das ist
ja kolossal!" und stampft seiner Ehehaelfte nach.) "Also", faehrt Stefenson
ruhig fort, "was mir eine Hauptsache zu sein scheint: ich beabsichtige
nicht, eine neue politische Gemeinde zu gruenden; ich werde meine Siedelung
unter den amtlichen Schutz des Magistrats von Waltersburg stellen."
(Freudige Verblueffung. Der Beisitzer horcht auf und trommelt erregt mit
den Fingern auf den Tisch.) "Ja", geht Stefensons Rede weiter, "wir werden
unserem Sanatorium, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, den Namen
'Kuranstalt Waltersburg: Ferien vom Ich' geben, und der Schnickschnack vom
sogenannten modernen Badeort, wie es Neustadt ist, wird in Dunst
zerstieben vor der glorreichen Waltersburger Neugruendung. (Der Beisitzer
springt auf, beurlaubt sich bei dem Vorsitzenden auf wenige Minuten und
stuermt aus dem Saal.) Mitbuerger von Waltersburg! Damen und Herren! (Von
den Damen ist nur noch die phlegmatische Gaertnersfrau Baechel anwesend.) Es
macht mich gluecklich, dass Sie in solcher Anzahl erschienen sind. Etwas
Erfreuliches kann ich Ihnen mitteilen. Ich erwarte, dass binnen zwei Jahren
unsere Kuranstalt etwa zwei Dritteile Ihrer gesamten Gemeindesteuern
tragen wird, so dass Ihre bisherigen hundertzwanzig Prozent auf vierzig
Prozent herabsinken werden. (Erschrecktes Aufatmen, dann lautes Bravo.
Baeckermeister Schiebulke und Klempner Geldermann stuerzen im
Geschwindschritt von Siegesboten auf die Strasse.) Ja, aber, meine sehr
teuren Mitbuerger, auch Opfer werde ich von Ihnen verlangen muessen.
(Kunstpause des Redners. Bedruecktes Schweigen der Zuhoerer.) Wir haben
nicht Zeit, der Verwirklichung unserer Idee sehr viel Zeit zu widmen; wir
muessen die Aufgabe im Sturm nehmen. Binnen Jahresfrist muss alles fix und
fertig sein. Sie werden begreifen, dass dafuer ein Heer von Architekten,
Bauleitern, Maurern, Zimmerleuten, Tapezierern, Toepfern, Tischlern,
Glasern, Klempnern, Schmieden, Schlossern, Stubenmalern, Gaertnern und
Hilfsarbeitern aller Art noetig sein wird, nicht zu rechnen die Legion
derer, die diese Schar versorgt mit Nahrungsmitteln, mit Kleidern,
Schuhen, Muetzen und Waesche. Ja, liebe Waltersburger Mitbuerger, Ihre ganze
praechtige Kaufmannschaft, alle Ihre Handwerkerkreise muss ich mobil machen,
um meiner Aufgabe gerecht zu werden, alle werden ihren Betrieb
verzehnfachen muessen ..."

Der Redner hielt inne; denn die Zuhoererschaft keuchte zu laut. Die
Erregung stieg aufs hoechste. Da kam die von Stefenson ganz leichthin
gesagte, aber bis ins Mark treffende Schlussbemerkung: "Ich moechte mit
Waltersburger Buergern Abkommen treffen. Was das Finanzielle anbelangt, so
wird nichts auf Ziel entnommen, sondern alles immer sofort bar bezahlt
werden."

Da war es aus. Alles erhob sich; selbst die dicke Gaertnersfrau wappelte
sich empor und wischte sich den Schweiss von der Stirn.

Ein Handwerker stieg auf einen Stuhl.

"Das ist gut!" rief er; "das ist famos! Herr Stefenson lebe hoch!"

"Hoch!" schrien die paar Maennlein, die noch da waren. Im selben Augenblick
stuerzte der Beisitzer in den Saal.

"Der Herr Buergermeister", keuchte er, "der Herr Buergermeister, der bis
jetzt leider verhindert war, kommt selbst."

Stefenson nickte ihm laechelnd zu. Da wurde es lebhaft auf der Treppe,
Maenner und Frauen aller Gesellschaftsschichten fuellten den Saal. Eine
halbe Stunde lang stand Stefenson steif und still, und als alle da waren,
auch der Buergermeister, sagte er:

"Ich habe dem, was ich vor Ihnen, sehr geehrte Herrschaften, ueber meine
Neugruendung heute ausgefuehrt habe, nun nichts mehr hinzuzufuegen."

Worauf sich der Leiter der Versammlung, Lehrer Herder, erhob und in einer
glaenzenden Erfassung der Situation sagte:

"Ich schliesse die Sitzung!"





                         DIE "NEUSTAeDTER UMSCHAU"


In Neustadt erscheint ein Blaettchen, die "Neustaedter Umschau". Es kommt
woechentlich zweimal heraus in einem Umfang, dass eine einzige Nummer
genuegt, ein Butterbrot gut zu verpacken. Als der Verleger einen neuen
Redakteur suchte, versprach er einen Monatsgehalt von sechzig Mark. Es
meldeten sich drei Doktoren, sechs Referendare, zwanzig Studenten, sieben
ehemalige Lehrer, ein "sehr gebildeter" Schlossermeister, davongejagte
Seminaristen, freie Schriftsteller und ein paar schwankende Gestalten. Der
Verleger waehlte von der ganzen Rotte den Unfaehigsten, einen
herabgekommenen, versoffenen Kerl, der aber _Doctor juris_ war, was in der
"Umschau" mit Fettdruck angezeigt wurde. Dieser Mensch macht die "Umschau"
in der Art, dass er in seiner nuechternen Tagesstunde, die vormittags nach
seinem jeweiligen Aufstehen liegt, im Lesesaal des Neustaedter Kurhauses
den Stoff fuer die naechste Nummer aus grossstaedtischen Zeitungen abschreibt.
Einen lokalen Teil hat die "Umschau" kaum; jedenfalls war er stets aeusserst
jaemmerlich. Desto mehr fiel es auf, als das Blatt auf einmal recht flotte,
wenn auch dreist geschriebene Artikel gegen unser Waltersburger Ferienheim
brachte.

Der erste Artikel beschaeftigte sich mit mir. Es wurde darin ausgefuehrt,
dass ich nach meiner Promovierung (die, wie man erfahre, nicht ohne gewisse
Schwierigkeiten vor sich gegangen sei) eiligst das Vaterland verlassen
habe, um auf allen Meeren und unter allen Breitengraden der leidenden
Menschheit meine aerztliche Kunst angedeihen zu lassen. Das einzige Leiden,
mit dem ich zu tun gehabt haette, waere die Seekrankheit gewesen, und da
sich gegen diese bekanntlich ueberhaupt nichts tun lasse, so sei ich ja
sicher ganz am Platze gewesen. Mein Geist habe so ungeheuer viel Zeit zum
Ausruhen gehabt, dass ich (wahrscheinlich unter dem verheerenden Einfluss
der Tropensonne) auf die Idee meiner Anstalt "Ferien vom Ich" gekommen
sei. Neustadt solle jubeln und mir eine Dankadresse schicken, mir auch
sonst alle moegliche Foerderung angedeihen lassen; denn das moderne Weltbad
spare sich durch meine Anstalt ein Hanswursttheater, und es waere nur zu
bedauern, wenn sich die Neugruendung nicht bis zum naechsten Fasching
hielte. In dem jederzeit reichhaltigen Vergnuegungsprogramm von Neustadt
wuerde es sich jedenfalls ganz gut ausnehmen, wenn es um die Faschingszeit
hiesse: Morgen Besichtigung der Waltersburger Kuranstalt "Ferien vom Ich".
Aengstliche seien versichert, dass ein Ausbruch von Irrsinn nicht zu
befuerchten ist, da sich dieser in der Waltersburger Anstalt nur ganz
harmlos und kindlich aeussere.

                                    *

Das war der Begruessungsartikel, der meiner Gruendung von dem
freundnachbarlichen Neustadt zuteil wurde. Stefenson brachte ihn mir
persoenlich. Er beobachtete mich, als ich ihn las.

"Niedlich!" sagte ich; "ich haette das den Kerlen gar nicht zugetraut."

"Na, sehen Sie", atmete Stefenson auf, "es freut mich, dass Sie nicht
entruestet sind oder diesen braven Zeilenschinder etwa gar verklagen
wollen. Der Artikel ist wirklich nett."

Eine der naechsten Nummern der "Umschau" beschaeftigte sich mit Mister
Stefenson. Es hiess darin, nach authentischen Auskuenften aus Amerika sei
Mister Stefenson, der bekanntlich das Waltersburger
Kuranstalts-Unternehmen finanziere, einer der merkwuerdigsten
Geschaeftsleute aus dem Lande der unbegrenzten Moeglichkeiten. Seine
geschaeftliche Laufbahn habe Stefenson als Kuechenboy in einem Hotel vierten
Grades begonnen. Als aber der einzige silberne Loeffel, ueber den jenes
Hotel verfuegte, eines Tages verschwand und ganz zufaellig in der
Pappschachtel, die des jungen Stefenson Kleiderschrank darstellte,
aufgefunden wurde, wohin er auf eine Herrn Stefenson auch jetzt noch ganz
unerklaerliche Art gekommen waere, sei der vielversprechende junge Mann nach
Texas ausgewandert. Aber auch dort sei er vom Unglueck verfolgt worden.
Denn obwohl der Strick, an den die Bewohner einer Farm den Juengling wegen
angeblichen Pferdediebstahls hingen, riss und also gewissermassen ein
Zeichen vom Himmel fuer die Unschuld des Gerichteten vorlag, haetten die
barbarischen Urwaldsgesellen den Gast aus dem Norden so fuerchterlich
gepruegelt, dass Stefenson zwei kuenstliche Rippen als Andenken an jenes
Abenteuer behalten habe. Das weitere Leben des Mannes, den die
Waltersburger im Begriff staenden, zu ihrem Ehrenbuerger zu machen, sei
ebenfalls recht bewegt und reich an Zwischenfaellen gewesen. Stefenson sei
einmal als Kutscher bei einem grossen Petroleumtransport engagiert gewesen.
Dieser Transport sei von Indianern ueberfallen, die ganze Begleitmannschaft
tot- und saemtliche Petroleumfaesser entzweigeschlagen worden. Nur Stefenson
sei am Leben geblieben, da er so vorsichtig war, bei der herannahenden
Gefahr als erster zu fliehen. Es habe sich nun so gefuegt, dass Stefenson am
naechsten Tage zwei abenteuernde, reiche, aber recht dumme Kerls in einer
benachbarten Stadt getroffen und diese vertraulich auf ein Gelaende
aufmerksam gemacht habe, wo ohne Zweifel starke Petroleumquellen vorhanden
seien. Diese beiden Burschen habe Stefenson, nachdem er die Spuren des
Ueberfalls gruendlich beseitigt hatte, auf das Gelaende gefuehrt, allwo noch
ein penetranter Petroleumgeruch war, und die beiden Gimpelchen haetten sich
bereit erklaert, an Stefenson zunaechst mal fuenfhundert Pfund zu zahlen,
damit er alles Noetige fuer die Erschliessung der Quellen in die Wege leite.
Als sich aber Stefenson die Sache weiter bei sich selbst ueberlegt habe,
haette er sich gesagt, wenn er ehrlich sein wolle, muesse er an der
Ergiebigkeit des Unternehmens zweifeln, er wolle also seinen Geldgebern
lieber weitere unnoetige Kosten ersparen und, ohne sich erst durch "Good
bye" und andere Abschiedsfoermlichkeiten aufzuhalten, sofort nach Chikago
verschwinden.

Die fuenfhundert Pfund (das seien nach deutschem Gelde zehntausend Mark),
die Stefenson mitgenommen habe, haetten die Basis fuer seine weiteren
geschaeftlichen Unternehmungen gebildet, fuer Unternehmungen, die nicht
weniger originell als die Petroleumgeschichte gewesen seien. So sei
Stefenson nach und nach zu einem gewissen Vermoegen gekommen. Da aber die
engherzigen amerikanischen Richter oefters an Herrn Stefensons
Geschaeftsusancen Anstoss genommen und es dem sonst ganz anspruchslosen
Manne trotz der geradezu luxurioesen Ausstattung der amerikanischen
Gefaengnisse in diesen gar nicht gefallen habe, so sei er auf den Einfall
gekommen, sein Wirkungsfeld voruebergehend mal nach Deutschland zu
verlegen, und seine Wahl sei auf Waltersburg gefallen, die Stadt, die das
weisse Lamm im gruenen Felde in ihrem Wappen fuehre.

Als ich diesen Artikel gelesen hatte, geriet ich in grosse Aufregung.
Stefenson verstand mich nicht.

"Es ist wahr", sagte er; "der Artikel koennte farbenreicher gehalten sein,
die Geschehnisse sind etwas nuechtern gegeben, aber, mein Lieber, der
heutige Geschmack verpoent das Allzukrasse. Ich finde den Artikel
ausgezeichnet, viel, viel besser als den, der neulich ueber Sie in dieser
Zeitung stand."

"Stefenson!" schrie ich ihn an; "sehen Sie denn nicht ein, dass uns dieser
Zeilenschmierer, dieser Sueffling unmoeglich macht? Jetzt bleibt nicht
anderes mehr uebrig, jetzt muessen Sie den Mann verklagen."

"Ja, glauben Sie, dass ich toll bin?" entgegnete Stefenson. Ich erzaehlte
ihm, was schon der Artikel ueber mich fuer allerhand Unheil angerichtet
habe. Nicht bloss, dass sich meine Mutter fast die Augen aus dem Kopfe
geweint habe, ich haette gehoert, wie die Leute hinter mir zischelten.
"Stefenson, unseren guten Ruf muessen wir behalten, sonst sind wir
ruiniert."

"Guten Ruf?" verwunderte er sich. "Wie kann man seinen guten Ruf behalten,
wenn man Geschaefte macht? Das ist doch unmoeglich. Er wird einem doch
selbstverstaendlich kaputt gemacht. Wenigstens aeusserlich - in der
gegnerischen Presse - das ist ja unausbleiblich. Darueber regt man sich
doch nicht auf!"

Ein Bruellen toente von der Strasse herauf.

"Der Pferdedieb! - Der Loeffelstehler! - Der Petroleumstaenker! Raus, raus!"

Stefenson lugte durch die Gardine.

"Sechs oder sieben junge Burschen. Sie benehmen sich ganz weltstaedtisch.
Petroleumstaenker ist bei der Kuerze der Zeit schon ein ganz gut gepraegter
Zuruf!"

"Stefenson, es geht nicht - Sie werden sehen, es geht bei uns nicht. Sie
sind hier nicht in Amerika. Die ganze Stadt wird uns boykottieren."

"Desto besser."

"Die Geschaeftsleute werden nicht mehr liefern."

"Gegen bar werden sie bestimmt liefern."

"Nein, unser ganzes Unternehmen wird scheitern, wenn Sie den infamen
Artikel nicht Zeile fuer Zeile in oeffentlichem Gerichtsverfahren als Luege
brandmarken."

"Das soll mir gewiss nicht einfallen", lachte er.

Es war in meiner Wohnung am Johannisplatz, wo diese Unterredung stattfand.
Das Laermen auf der Strasse wurde indes lauter, die demonstrierende Schar
wurde groesser. Da verliess mich Stefenson. Den Kopf mit seinem grauen
Zylinderhut bedeckt, schritt er seelenruhig durch die Menge. Diese schwieg
betroffen und gab eine Gasse frei, dann laermten die Leute hinter Stefenson
her. Ich war so verbittert, dass ich wohl eine Stunde lang planlos vor der
Stadt am Bache hin und her ging, ehe ich Stefensons Buero aufsuchte.

"Wissen Sie, was unser erster Architekt gemacht hat?" fragte er gleich bei
meinem Eintritt. "Seinen Kontrakt mit mir hat er geloest. Der Esel! Mir hat
er einen grossen Gefallen getan; denn ich weiss einen tuechtigeren und
billigeren Mann, als er ist, und bin froh, dass ich ihn loswurde. Glueck muss
man haben!" Er rieb sich die Haende.

"Mister Stefenson", sagte ich ernst; "wir werden wohl unsere Kontrakte
alle loesen muessen. Denn obwohl ich natuerlich von dem Schundartikel eines
verkommenen Subjekts nicht ein Wort glaube, so sehe ich doch ganz klar,
dass unsere Situation hier unhaltbar wird, wenn Sie sich nicht von dem
Schmutz, der auf Sie geworfen wurde, reinigen. Wir vermoegen nicht ohne die
Achtung unserer Mitbuerger zu bestehen. Wir werden unmoeglich!"

Stefenson ging mit grossen Schritten auf und ab. Er kaute an seiner
pechschwarzen Zigarre. Ganz milde sagte er dann:

"Ja, sehen Sie, lieber Freund, Ihr Volk in Ehren - meine Mutter war ja
auch 'ne Deutsche ..."

"Und Ihr Grossvater vaeterlicherseits war Georg Stefan aus Hamburg", wollte
ich dazwischenwerfen, verschluckte es aber.

"Ja, also die Deutschen", fuhr Stefenson fort, "bilden sich was ein auf
den Humor, den sie haben, und den andere, z. B. die romanischen Voelker,
gar nicht haben. Schoen - ich gebe zu, Sie haben Dichter, die
ausgezeichneten Humor haben, und auch deutsche Geisteszivilisten sind
vielfach mit einer betraechtlichen Dosis von Humor begabt. Aber das ist
alles so - entschuldigen Sie - so sparsam, so auf Kleinbetrieb, auf
Hausbedarf berechnet. Der Humor, der ins Grosse geht, der fehlt Ihren
Leuten. Himmel, ist das nicht grandioser Humor, wenn ein anstaendiger Mann
sein Geld und seine Zeit auf eine grosse, aber sehr wackelige Sache setzt,
und es kommt so 'n Pressaeffchen und klaefft was von Pferdedieb und
Petroleumstaenker? Das nenne ich Humor. Das liest sich doch nett. Da hat
doch der Abonnent was von seinem Blatt. An die Geschichte glauben? Wenn
der Leser nur ein bisschen Hirnschmalz hat, faellt's ihm nicht ein, ein Wort
zu glauben. Aber er tut so, als ob er's glaubte, er mimt mit in der
Maskerade und amuesiert sich dabei koeniglich. Und der, dem der Feldzug
gilt, wird ein bekannter, ein beruehmter, ein reicher Mann. So sind alle
zufrieden: die Zeitung, die den Schwindel aufgebracht hat, die Leser, die
eine amuesante Fruehstueckslektuere gehabt haben, und der Mann, der
angegriffen worden ist und seinen Profit hat. Ich sage Ihnen, in Amerika
ist es leichter, zehn Verbrechen wirklich zu begehen als eines zu
erfinden, das originell genug ist, einem Manne der Oeffentlichkeit
angehangen zu werden. Und auch in Amerika lebt trotzdem jeder nur auf dem
Grunde des Vertrauens seiner Mitbuerger. Aber der Humor, Mensch, der Humor
darf nicht fehlen!"

"Wir in Deutschland haben einen anderen Humor", sagte ich und war froh,
dass es so ist.

Da kam einer unserer Baufuehrer und meldete kleinlaut, dass wahrscheinlich
fast alle unsere Arbeiter kuendigen wuerden. Als er gegangen war, sass
Stefenson gesenkten Hauptes am Tisch.

"Werden Sie nun begreifen", fragte ich, "dass Sie die gerichtliche Klage
anstrengen _muessen_, dass es absolut Zwang fuer uns ist?"

"Ich kann die Leute nicht verklagen", sagte Stefenson schwermuetig.

"Sie koennen nicht?" fragte ich betroffen. "Warum koennen Sie nicht?"

"Weil ich den Artikel ueber Sie und ueber mich selbst geschrieben habe."

Ich sprang auf. Stefenson winkte sacht mit der Hand.

"Ja, sehen Sie, das ist so gekommen: Ich dachte, wenn ich die Artikel in
das Neustaedter Blatt lanciere, gibt es Aufsehen in der Gegend. Und es ist
billig. Mit hundert Mark war der Redakteur zufrieden, mit dreihundert der
Verleger, so dass sie mir die Erlaubnis gaben, mich und meine Sache in
ihrem Blatte recht kraeftig zu beschimpfen. Na, ich wollte die Geschichte
so durch zwei, drei Wochen fortsetzen, dann wollte ich das Waltersburger
Stadtblatt ebenfalls gewinnen und darin Artikel gegen die Neustaedter
"Umschau" loslassen. Das sollte so huebsch hinueber und herueber gehen, bis
zuerst die Provinz- und dann die hauptstaedtische Presse davon Notiz nahm
und im bunten Teil Auszuege braechte, etwa unter der Ueberschrift: 'Der Sturm
im Wasserglase' oder 'Krieg der Zaunkoenige' oder 'Ein Mordsskandal in
Dingsda' oder so aehnlich. Da haette nun das grosse Publikum auf einmal etwas
von uns gehoert, haette die bittere Pille unserer Idee in der Verzuckerung
sensationellen Humors geschluckt, und ueberall haette man von uns und
unserer originellen Kuranstalt gesprochen, und wir waeren durchgewesen.
Diese ganze schoene Propagandaidee haette mich etwa lumpige tausend Mark
gekostet, und nun faellt sie durch die Humorlosigkeit dieser Leute
zusammen."

Ich kam aus der Verblueffung zuerst nicht heraus. Dann aber begriff ich,
was zu tun sei.

Es stellte sich heraus, dass Stefenson nach seiner Art mit dem schmierigen
Zeitungsleiter von Neustadt alles schriftlich vereinbart hatte, dass also
Beleg- und Beweismaterial da war. Das freute mich, und ich entwarf in Eile
einen kurzen Artikel fuer unser "Waltersburger Tageblatt". Er lautete:

"Einen fuerchterlichen Reinfall haben die Neustaedter erlebt. Ihre
weitverbreitete 'Umschau' hat ihren sieben Lesern (bitte! sieben ist kein
Druckfehler) Schauermaeren ueber die Unternehmer der in Waltersburg zu
begruendenden grossen Kuranstalt aufgebunden, Geschichten von geradezu
grotesker Dummheit. Waehrend das gebildete Waltersburger Publikum diese
klatschfetten Zeitungsenten als solche natuerlich sofort erkannt hat,
sollen sie gewissen Neustaedter Kreisen ueber die Massen gemundet haben. Denn
der Hass gegen das aufbluehende Waltersburg ist zu gross, als dass nicht auch
die eselhafteste Luege, wenn sie nur gegen die Nachbargemeinde gerichtet
ist, in Neustadt Glauben faende. Wie schwer der Reinfall ist, moege
folgender Aufschluss bekunden: Mister Stefenson hat der von ihm
hochgeachteten Gemeinde Waltersburg, der vielgeschmaehten Stadt 'mit dem
weissen Lamm als Wappentier', eine Genugtuung geben wollen, indem er die
Neustaedter Bevoelkerung durch ihre eigene Zeitung aufsitzen liess. Mister
Stefenson hat - wie vorliegende Dokumente beweisen - die beiden
aufsehenerregenden Artikel, die natuerlich von A bis Z erfunden sind,
naemlich selbst geschrieben und gegen Zahlung von hundert Mark an den Herrn
Redakteur und Zahlung von dreihundert Mark an den Verleger in der
'Neustaedter Umschau' veroeffentlicht. So viel war ihm der Spass wert. Die
Neustaedter aber moegen nun die Zoologie nach einem fuer sie passenden
Wappentier gefaelligst selbst durchforschen."

Als Stefenson dieses kleine Manuskript gelesen hatte, drueckte er mir die
Hand.

"Ich danke Ihnen", sagte er anerkennend; "Sie sind gar nicht so
unamerikanisch."

                                    *

Und ich bin doch ganz und gar unamerikanisch. Ich kann nicht einmal sagen,
dass ich ein reines Glueck im Herzen fuehlte, als ich unser Ferienheim so
fabelhaft schnell wachsen sah. Die Riesenscharen von Arbeitern bedrueckten
mich oft, und wenn ich sie abends in ihren grossen Baracken lachen und
laermen hoerte, dachte ich daran, wie schoen es war, als noch die stillen
Raine durch gruene Felder liefen. Ueberall Ziegelfuhren, aufgerissene Wege,
Kalk, Staub, Steine, Unordnung. Ich fuehlte mich auf diesen Bauplaetzen
ausserordentlich unbehaglich, und wenn ein schoener Baum zum Opfer fallen
muss, bereitet es mir Schmerz, als ob einem unschuldigen Freund ein grosses
Unrecht geschaehe.

Fuer den Architektenberuf bin ich verloren. Ich sehe nach dem Plane ein
Haus immer ganz anders, als es vor mir steht, wenn es fertig ist. Ich
glaube, ich sehe alles zu schoen; es kann in Wirklichkeit nicht so werden,
wie ich es traeume. Ich sehe einen Bauplatz wie ein unordentliches Zimmer.
Erst, wenn "aufgeraeumt" sein wird, wird es hoffentlich anfangen, mir zu
gefallen.

Die meisten Baulichkeiten sind unter Dach. Das Herbstwetter war heiter. Im
Winter wird mit unverminderter Kraft an dem Innenausbau weitergeschafft
werden.





                                 JOACHIM


Anfang des Monats bekam ich folgende Depesche: "Treffe drei Uhr fuenfzig
nachmittags Bahnhof Neustadt ein. Bruder Joachim." Das Telegramm war
fruehmorgens in Berlin aufgegeben.

Erst langsam begriff ich, dass da etwas Wunderliches geschah, dass mein
verschollener Bruder ploetzlich heimkehrte. Da quoll es mir heiss durchs
Herz, und ich wollte zur Mutter gehen und ihr das Wunder erzaehlen. Aber
ich ging zuerst zu Stefenson. Er las das Telegramm und sagte gleichgueltig:

"Na also, da holen Sie nur Ihren Bruder von der Bahn ab."

"Ich weiss nicht, wie ich's mit der Mutter machen soll."

"Der Mutter wuerde ich vorlaeufig nichts sagen. Sie wissen ja noch nicht,
warum Ihr Bruder heimkommt. Also sprechen Sie erst mit ihm."

Diesem Rate folgte ich. Schon kurz nach drei Uhr war ich auf dem Bahnhof.
Ich verbrachte qualvolle Minuten des Wartens. Als aber der Zug einlief,
war ich ganz ruhig. Ich sah Joachim an einem Fenster stehen und winkte ihm
zu. Als er ausgestiegen war, sagte ich:

"Willkommen, Joachim; ich freue mich, dass du gekommen bist."

Sein Gesicht war bleich, und die Hand, die er mir gab, war feucht.

"Weiss es die Mutter?"

"Nein. Ich wollte erst mit dir sprechen."

"Das ist gut. Ich kann wohl am besten hier in einem Hotel unterkommen. Ich
heisse Harton, verstehst du, Doktor Harton aus Baltimore."

Er sprach mit einem Gepaecktraeger; dann fuhren wir nach einem Hotel.

Unterwegs fragte ich ihn:

"Bist du gesund?"

"Ja - oder auch nein - ach Gott, ich weiss es selbst nicht."

Ich wollte Joachim erst Zeit lassen, sich zu waschen und ein wenig
auszuruhen, aber er noetigte mich bald mit auf sein Zimmer. Auf seinem
Reisekoffer sass er, den Mantel noch um die Schultern, und sprach mit
gepresster, etwas stossender Stimme:

"Da bin ich nun doch hierhergekommen. Ich haette es nie fuer moeglich
gehalten. Aber als wir anfingen Briefe zu wechseln, verlor ich meine
Sicherheit - das Heimweh - das quaelende Heimweh ..."

Ich trat ans Fenster und sah auf die Strasse.

"Fritz!"

Ich wandte mich ihm wieder zu.

"Fritz, warum habt ihr eigentlich dieses Attentat - nun ja, ich muss schon
Attentat sagen, es hat mich ja ganz wehrlos gemacht - warum habt ihr
eigentlich diese Geschichte mit dem Tagebuch gemacht?"

"Was fuer eine Geschichte mit dem Tagebuch?"

"Nun, dass du mir durch diesen Mister Stefenson, der ja wohl mit dir
geschaeftlich verbunden ist, dein Tagebuch ueber Waltersburg hast schicken
lassen."

"Ich dir mein - hast du denn mein Tagebuch geschickt erhalten?"

"Ja, natuerlich. Nicht das Original, aber eine Maschinenabschrift."

"Oh, dieser Mensch - dieser Stefenson!"

"Weisst du gar nichts darum?"

"Nichts! Gar nichts! Stefenson hat sich zwar mal meine kleinen
Aufzeichnungen entliehen; aber ich habe geglaubt, das geschehe nur aus
purer Neugier. Nun hat er eine Abschrift machen lassen und sie dir
geschickt."

"Ja. Ich bekam die Blaetter im Juli. Ein Vierteljahr lang habe ich es
ausgehalten, sie ungelesen in einer Schublade zu verwahren; ich habe sie
manchmal verbrennen wollen, aber nicht den Mut dazu aufgebracht, und habe
sie endlich doch gelesen, taeglich wieder gelesen, bis meine Kraft alle
war, so dass ich notduerftig meine Angelegenheiten ordnete, und - und nun
eben da bin."

"Das haben meine wenigen Aufzeichnungen zuwege gebracht?" fragte ich
verwundert.

"Ja, du weisst nicht, was das heisst, keine Heimat mehr zu haben. Die
anderen Auswanderer finden ja doch mehr oder weniger alle eine neue
Heimat, neue Freunde, neue Kreise, in denen sie sich wohlfuehlen. Ich habe
nichts von alledem gesucht und bin ganz losgeloest von aller Wurzelerde
gewesen. Da ertrug ich dein Tagebuch nicht, nicht die Schilderungen von
dem alten Nest Waltersburg, nicht die Berichte ueber die Mutter, selbst die
Geschichten ueber das Spiessertum in der Heimat haben eine - nun ja, ich
gestehe es - eine rasende Sehnsucht nach Hause in mir angefacht. Und dann
auch das - auch das - aber lassen wir das!"

Er hatte sagen wollen, das von dem Kinde, und brachte es nun nicht ueber
die Lippen. Vielleicht war das Kind die Hauptsache gewesen. Aber ich sah,
in wie schwerer Erregung der Mann schon war, und huetete mich, dieses
ernsteste Thema nun zur Sprache zu bringen.

Joachim stand auf, ging ein paarmal schweigend durch die Stube, riss dann
ploetzlich den Mantel von den Schultern, warf ihn auf das Bett, dehnte sich
mit hochemporgestreckten Armen und sagte tief aufatmend:

"Ach Gott, ich bin doch froh, dass ich hier bin."

Wir reichten uns stumm die Haende.

Dann sagte ich:

"Nun, Joachim, wollen wir uns aber freuen und als Maenner beraten, was zu
tun ist."

Er sah mich von der Seite an.

"Du weisst wohl natuerlich auch nicht, dass mich Mister Stefenson als zweiten
Arzt fuer dein Sanatorium berufen hat?"

"Hat er das?"

"Ja, allerdings nur unter der Bedingung, dass mir deine Idee von den Ferien
vom Ich eingeht. Und sie geht mir ein, mein Junge; sie ist vernuenftig und
fruchtbar; ich gratuliere dir dazu!"

Eine rote Welle schlug mir ins Gesicht.

"Schoenen Dank, Joachim. Du weisst, wie sehr ich dich immer mir fuer
ueberlegen gehalten habe."

Er winkte, schwermuetig den Kopf schuettelnd, ab. Dann setzte er sich mir
gegenueber und ergriff wieder meine Hand.

"Sieh mal, Junge, dass du mich nun fuenf Jahre lang gesucht hast - das - nun
ja, es gibt eben Schulden, die sich nicht bezahlen lassen. Was nun aus mir
wird, weiss ich nicht. Ich will allen Starrsinn ablegen; ich will mich mal
ganz wieder von den Wellen der Heimat treiben lassen, ich will auch gutem
Rat zugaenglich sein. Aber ich moechte nicht erkannt werden; ich moechte
nicht, dass all der Schwatz und Klatsch - ach, lass uns die heilige Stunde
nicht durch schmutzige Erinnerung verderben. Wenn es moeglich waere, dass ich
als Doktor Harton aus Baltimore vor den Leuten gaelte, saehe ich mir gern
auf einige Zeit das Leben in der Heimat an. Da kam mir der Vorschlag
dieses kuriosen Mister Stefenson, als Arzt in eure Anstalt einzutreten,
ganz gelegen. Jeder legt dort seinen Namen ab, jeder lebt unerkannt seinen
Tag, jeder ist fern von dem gluecksfeindlichen Schwarm, der einem aus der
Vergangenheit nachdringt, kurz, lieber Fritz, ich moechte der erste sein,
der in deiner Zufluchtsstaette Ferien macht von seinem Ich."

Beide Haende streckte ich dem Bruder entgegen. Wie ein offenbares Zeichen
himmlischen Segens fuer meine Gruendung stand der langvermisste Bruder vor
mir als erster und willkommenster Gast meines Ferienheims. Wie konnte sich
ein Glueck herrlicher fuegen! In dem ueberstroemenden Gefuehl des Augenblicks
sagte ich:

"Joachim, du hast diese Stunde eine heilige genannt. Zuerne mir nicht, wenn
ich dich nun noch bitte: sprich auch ein einziges gutes Wort von der
kleinen Luise."

Da wurde sein Gesicht finster.

"Ich kann noch nicht - lass mir Zeit!"

Und ich schwieg. Es wurde still in der Stube. Der Abend dunkelte durch die
Fenster. Allmaehlich aber kam die Unterhaltung wieder auf. Wir entwarfen
Plaene fuer die naechste Zukunft.

                                    *

Als wir nach mehreren Stunden nach dem Speisesaal des Hotels kamen, sass
dort Mister Stefenson. Ich ging sofort auf ihn zu und sagte:

"Mister Stefenson, das ist sicher: Sie sind einer der groessten Prachtkerle
der Welt. Da ist er - mein Bruder Joachim - den Sie heimgezaubert haben."

Stefenson antwortete mir nicht, schuettelte aber dem Bruder herzlich die
Hand.

"Das ist schoen, dass Sie gekommen sind. Hergezaubert habe ich Sie zwar
nicht; denn ein Mann wie Sie laesst sich nicht herzaubern. Aber dass Sie
gekommen sind und uns bei unserem Bau helfen wollen, ist ein Glueck; denn
Ihr Bruder hat zwar Phantasie und auch sonst brauchbare Eigenschaften,
aber im ganzen ist er ein Schwaermer."

"Danke, Mister Stefenson!"

"O bitte!"

Wir setzten uns zusammen. Stefenson kam sofort aufs Geschaeftliche.

"Sehen Sie, Doktor Harton, den ganzen Bau, wo wir die elektrischen Baeder,
ueberhaupt alle klinischen und medizinischen Einrichtungen unterbringen
wollen, habe ich trotz des Widerspruchs meines geehrten Kompagnons bis
jetzt nur in den Aussenumrissen fertiggestellt; die endgueltige innere
Einrichtung sollte bleiben, bis Sie kaemen; denn Sie haben in solchen
Dingen grosse Erfahrung, da Sie sich schon zweimal organisatorisch sehr
bewaehrt haben."

"Woher wissen Sie das?"

"Na, ich habe mich doch selbstverstaendlich in mehreren guten
Auskunftsbueros ueber Sie erkundigt. Wenn Sie nichts getaugt haetten, haette
ich mich doch auch nicht um Sie bemueht. Aber wir brauchen Sie! Deshalb
schickte ich Ihnen das Tagebuch."

Veraergert fuhr ich den Kraemer an:

"Sie haben also wieder nur ans Geschaeftliche gedacht?"

"Na selbstverstaendlich, Sie verwundertes Unschuldslamm! Woran soll man
denken als ans Geschaeftliche, wenn man ein nicht gar zu schlechter
Kaufmann ist?"

Joachim laechelte; mir aber stuerzte wieder einmal ein glaesernes Tempelchen
ein, in das ich meinen Goetzen Stefenson gesetzt hatte.

Stefenson nahm nun meinen Bruder ganz in Anspruch. Er fragte ueber tausend
Dinge aus Amerika. Ich schwieg. Vielleicht war es ganz gut, dass der durch
die Heimkehr aeusserst aufgeregte Bruder zunaechst durch die trostlos
nuechternen Schwadronaden dieses Kaufmanns Stefenson abgelenkt wurde.

Wir hatten schon Abendbrot gegessen, als sich Stefenson verabschiedete. Er
erzaehlte, er habe einen kleinen Neffen. Der Vater sei tot, die Mutter an
einen gefuehllosen Mann wieder verheiratet, der dem sechsjaehrigen Knaben
ein Stiefvater sei. Der Junge sei jetzt bei entfernten Verwandten in
Hamburg. Er wolle den Knaben, der Georg heisse, mal probeweise zu sich
nehmen; vielleicht, dass etwas aus ihm wuerde. Die Gruendung einer so neuen
Gemeinde mit allem ihrem Drum und Dran muesse ja auf einen Jungen einen
tiefen Eindruck machen und ihm fuers ganze Leben einige staehlerne
Geruestschienen in die Seele spannen. Nun wolle er also mit dem Nachtzug
reisen, und er haette es gern, wenn ich ihn zum Bahnhof begleitete, da er
wegen der Vertretung manches Geschaeftliche mit mir noch zu erledigen habe,
womit er den Bruder nicht langweilen wolle. Als wir auf der Strasse waren,
sagte Stefenson: "Nun will ich Ihnen was anvertrauen, damit Sie mir nicht
hinterher wieder aus dem Haeuschen fallen und alles verderben. Also, mein
kleiner Neffe, der Georg, ist naemlich gar kein Junge, sondern ein Maedchen
- er ist die kleine Luise."

"Stefenson, Sie sind toll!"

"Nein. Ich bin vernuenftig. Die kleine Luise muss Ferien von ihrem Ich
machen. Als Maedel ist es ihr hundsmiserabel gegangen, ausgenommen die
letzten dreiviertel Jahr, wo sie in dem Institut war, aber auch dort mehr
Strenge als Liebe, mehr Dressur als Erziehung genossen hat. Heraus soll
sie aus ihrer Haut, ein Junge werden, Courage kriegen, dieses Ducken
abgewoehnen, wenn eine Hand nach ihr fasst; nein, sich selbst 'rumhauen mit
Buben und Strassenboesewichten und immer bei mir sein und da eine gerechte
Behandlung haben."

Ich ging neben dem sonderbaren Manne her, der so Seltsames und Grosses an
meinem Leben getan hatte, und versuchte nur, ihn wenigstens zum
Aufschieben seiner Idee zu bewegen. Er schlug es rund ab.

Keine Gewalt der Erde, sagte er, werde ihn hindern, das Kind, das es in
dem Thueringer Institut viel zu schlecht habe, von dort zu entfernen und es
in der Tracht eines Knaben erst mal zur Lebensfreude und zum Bewusstsein
seiner Kraft und seines eigenen Wertes zu erziehen.

Ich wusste, dass Mister Stefenson in die kleine Luise vernarrter war, als je
ein Vater oder Grossvater in ein Kind war. Allmonatlich war er unter
irgendeinem Vorwand einmal nach Thueringen verschwunden; das Maedchen hatte
sich an den Mann, den sie als ihren liebevollsten Freund erkannte,
jedenfalls dankbar angeschlossen, und dem alten Seehund, den
wahrscheinlich nie eine zaertliche Hand gestreichelt hatte, tat diese
Kindesliebe so wohl, dass er diesmal auf allen kaufmaennischen Vorteil
vergass und wie ein verliebter Narr handelte.

Mochte er es tun!

Stefenson reiste ab.

         -------------------------------------------------------

Wie hatte er gesagt? Keine Gewalt der Erde wird mich hindern, das Kind
zunaechst mal in der Tracht eines Knaben zu erziehen.

Drei Tage nach Stefensons Abreise bekam ich einen Brief von ihm.






"Mein Lieber! Die Idee, Luise als Knaben zu kleiden, habe ich aufgegeben.
Denn sie will nicht. Sie heult, dass sie ein Junge werden soll. Auch die
Haare mag sie nicht abgeschnitten kriegen. Da ist nichts zu machen; Luise
bleibt ein Maedel. Hier lasse ich sie aber nicht; sie hat es viel zu
schlecht. Ich will mal sehen, dass ich das Kind zunaechst in Neustadt
unterbringen kann. Ich weiss da eine gute Familie, die mir den Gefallen
gegen Entschaedigung tun wird. Und ich kann dann die Erziehung taeglich
beaufsichtigen. Diskretion Ehrensache, namentlich gegen Ihren Bruder, der
mir fuer die Erziehung des nur ausserordentlich geschickt zu behandelnden
Kindes nicht geeignet erscheint. Wir kommen Montag mit irgendeinem Zug. Am
Bahnhof zu erwarten brauchen Sie uns nicht.

                                                               Stefenson."






                                    *

Am naechsten Tage sollte ich Joachim zum Heimweg abholen und hatte
versprochen, vorher die Mutter zu unterrichten.

Wir sassen beim Fruehstueck zusammen; ich versuchte ein paar Anlaeufe, brachte
aber die Botschaft nicht heraus. Die Mutter verwunderte sich sehr. Dann
machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Als ich zurueckkam, stand die
Mutter am Fenster und schaute wie so oft dem Sprudeln des Johannisbrunnens
zu. Die ersten Schneeflocken flogen durch die Luft und huellten den Platz
in traulichen weissen Schimmer; aber die Sehnsucht dieser Frau ging wieder
in die Weite, und sie sah nichts von der silbernen Pracht um sich her.

Auch ich war jahrelang in der Fremde. Doch ich war ueberzeugt, die Mutter
hatte kaum einmal an mich gedacht, wenn sie an Joachim siebenmal dachte.
Ich ging an ihrer Tuer vorbei nach meinem Zimmer. Da sass ich, bis es hohe
Zeit war, nach Neustadt aufzubrechen, um zur verabredeten Stunde dort zu
sein. Endlich sagte ich mir, dass ich ein Geselle von kindischer Eifersucht
sei, und ging in das Zimmer der Mutter.

"Ich habe dir etwas mitzuteilen, Mutter; erschrick nicht!" sagte ich, und
die nervoese Frau erschrak natuerlich aufs schwerste.

"Es handelt sich um Joachim!"

"Um Gottes willen - ist ihm etwas passiert - ist er in Not - willst du zu
ihm fahren?"

Ich musste laecheln. Zu ihm fahren! - Dass ich damit mein Lebenswerk
aufgegeben haette, daran dachte die Mutter nicht.

"Es ist nichts Schlimmes, Mutter; es ist etwas Gutes, was ich dir von
Joachim zu sagen habe."

"Sage es mir, Fritz, will er - will er nach Hause kommen?"

"Ja, er kommt schon heute."

Da stiess sie einen Schrei aus, dann weinte sie laut, schlug in die
Haendchen, rannte durchs Zimmer und sprach laute Dankesworte zu Gott, der
ihr das groesste Glueck beschieden habe, das es fuer sie gebe. Als sie etwas
ruhiger wurde, fragte sie:

"Und er ist ganz von selbst gekommen, oder hast du ihm noch einmal
geschrieben, dass er kommen soll?"

Ich schuettelte den Kopf.

"Ganz von selbst gekommen", sagte sie selig; "der treue Sohn!"

In trockenem Tone entgegnete ich:

"Mutter, es wird lange dauern, ehe ich mit Joachim eintreffe, den ich in
Neustadt abhole. Erst in der Daemmerung kommen wir. Inzwischen rege dich
nicht allzusehr auf und vergiss nicht, deinen Baldriantee zu trinken."

Das nahm sie ungnaedig auf.

"Baldriantee - wie kannst du jetzt von so etwas reden. Ich werde natuerlich
mit nach Neustadt fahren."

"Nein, Mutter; Joachim wird nur unter der Bedingung hier leben, dass er von
den Leuten nicht erkannt wird. Deshalb wird er als Arzt in meine
Kuranstalt eintreten."

"Und nicht bei mir wohnen?"

"Nein, er wird im Ferienheim wohnen."

"O - o du nimmst ihn mir?"

"Ich nehme ihn dir nicht -", entgegnete ich unwillig; "mache mit Joachim
selbst ab, wie ihr es halten wollt; ich werde mich da nicht einmischen."

Ich ging verdrossen meines Weges. Aber draussen im Winterwalde wurde mein
Herz wieder warm; ich war gluecklich. Immer, wenn ich mich gluecklich fuehle,
habe ich Lust, etwas Gutes zu tun. Heute fiel mir nichts anderes ein, als
dass ich bald eine Anzahl von Futterplaetzen und Nistkaesten fuer die Voegel in
meinem Ferienheim anbringen wuerde, auch auf die Gefahr hin, als Gaeste
lauter Sperlinge zu mir zu ziehen.

Die Mutter! - Nun wuerde sie wohl das Haus von unterst zuoberst kehren und
alle Leckerbissen bereiten, die sie auftreiben konnte. Wahrscheinlich
wuerde sie meine beiden geraeumigen Zimmer fuer Joachim einrichten und mich
nach der Giebelstube umquartieren. Ich war schon wieder eifersuechtig und
voll haesslichen Misstrauens, und es fiel mir ein, dass es besser waere, sich
auf Mutter und Bruder zu besinnen, wenn man was Gutes tun will, als auf
die Spatzen ...

Es lag dichter Nebel auf der Chaussee, als ich mit Joachim heimging. Nicht
einmal die Kuppe des Weihnachtsberges war zu erkennen. Die Heimat hatte
ihr Haupt verhuellt wie eine schmollende Frau. Und Joachim ging stumm und
betreten neben mir her, fast wie ein Suender. Er war auch ein solcher; denn
er hatte sein Herz verhaertet, und alle Herzensverhaertung ist Suende.

  "Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand
  Kommt wieder heim aus fremdem Land.
  Sein Haar ist bestaubt, sein Antlitz verbrannt,
  Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?"

Es war ganz, wie es Vogl in seinem alten, huebschen Gedichte schildert: die
Leute kannten Joachim nicht mehr. Er war schon in seinen letzten
Studentenjahren selten zu Hause gewesen, als verheirateter Mann fast gar
nicht, und dann kamen die Auslandsjahre, da sein Kopfhaar duenn und sein
Bart dicht wurde und die Zeit die grosse Retouche an seinem Gesicht vollzog
- er war ein anderer geworden.

In sieben Jahren soll sich der Koerper des Menschen ganz erneuern. So
wanderte jetzt kein Atom dessen mehr nach der Heimat zurueck, was vor
sieben Jahren auszog. Haette Joachim keine Seele gehabt, so waere wirklich
ein ganz fremder, ein ganz anderer Mensch nach Hause gekommen. Dem Baecker
Schiebulke begegneten wir. Er war Joachims Angelkamerad gewesen. Jetzt
fuehlte er sich geehrt, dass ich ihn auf der Strasse anhielt, und eilte gewiss
alsbald ins naechste Gasthaus mit der Kunde, dass ein Dr. Harton aus Neuyork
angekommen sei als zweiter Arzt fuer das Ferienheim, und es muessten doch
schon massenhaft Kurgaeste angemeldet sein, wenn man schon einen zweiten
Arzt brauche.

Auch der alte Sanitaetsrat lief uns in den Weg. Er war zwar nicht gut auf
mich zu sprechen, aber er ging doch nicht an uns vorbei und begruesste den
"Herrn Kollegen von drueben", den ich ihm vorstellte.

Auch die Frau Provisor, von der erzaehlt wurde, sie haette, als sich Joachim
verlobte, mit negativem Erfolg zwei Schachteln schwedische Streichhoelzer
abgelutscht, um ihr gebrochenes Herz zum Schweigen zu bringen, sah den
ehemals Heissbegehrten jetzt nur neugierig an und ging vorueber.

So naeherten wir uns dem Johannisplatz. Joachims Schritte wurden kleiner
und langsamer, sein Stock stampfte hart auf das Pflaster. Irgendwo stand
wohl jetzt der Mond; denn der Nebel ueber dem Johannisplatz war
durchsichtig und silberhell.

"Der alte Brunnen!" sagte Joachim leise; "es ist merkwuerdig, dass meine
Gedanken meist um den alten Brunnen gingen, wenn ich an die Heimat
dachte."

Nun naeherten wir uns dem Vaterhause und standen am Brunnenrand; da blickte
wirklich wie in alten Kindertagen die Mutter auf uns herab.

Joachim stuetzte sich auf das Gemaeuer, und weisse Tropfen aus der Schale
Baptistas besprengten seine Hand wie mit einem Weihwasser, ehe er in das
Heiligtum seines Vaterhauses eintrat.

Ich stieg mit ihm die Treppe hinauf und oeffnete nach leisem Klopfen die
Tuer zur Mutter.

Ich sah noch, wie beide mit leisem Aufschluchzen die Arme ausbreiteten,
schloss die Tuer und blieb draussen.





                               WEIHNACHTEN


Stefenson ist an dem von ihm angegebenen Tage nach Hause gekommen. Auf
meine Frage nach der kleinen Luise entgegnete er grob, ich solle mich
nicht in seine Privatangelegenheiten mischen; haette ich mich frueher nicht
um das Kind gekuemmert, wo es das Maedel noetig gehabt haette, so sei meine
Anteilnahme jetzt voellig ueberfluessig. Das gleiche koenne er auch nur mit
Bezug auf meinen Bruder sagen; er haette sich jetzt schon Vorwuerfe ueber
dessen Berufung gemacht. Da koennten bloss Schwierigkeiten entstehen.

"Mister Stefenson", sagte ich, "Sie benehmen sich wie ein Drache, der die
verwunschene Jungfrau behuetet."

"Drache hin, Drache her; ich geb' sie nicht heraus", knurrte er.

"Das sollen Sie ja gar nicht; wir ueberlassen Ihnen ja das Kind."

"Wirklich?"

"Wirklich!"

"Na, dann ist es gut!"

         -------------------------------------------------------

Stefenson hat die Waltersburger zu einem Festabend im grossen Theatersaal
des neuen Rathauses berufen (der Name Rathaus ist beibehalten worden,
obwohl wir keinen eigenen Buergermeister haben werden). Dieser Theatersaal
ist Hals ueber Kopf fertiggestellt worden. Er koennte schoener sein. Aber er
ist geraeumig, und die Akustik ist gut. Auch ist eine huebsche
Liebhaberbuehne da. Sonst sieht es im Rathaus noch sehr wild aus, und es
gehoerte viel Tannenreisig dazu, um die unfertigen Waende, Kalkkuebel und
Schutthaufen zu maskieren, die in der Naehe des Treppenhauses einen
unschoenen Anblick bieten.

Der Lehrer Herder hat ein Melodram geschaffen. Der Mann dichtet,
komponiert und malt. Ueber braven Dilettantismus geht es bei Herder
nirgends hinaus, aber er schafft fuer den Hausbedarf brauchbare, gefaellige
Saechelchen.

Die Einladung ist wieder an alle Volkskreise ergangen nach dem Noahrezept:
"Von jeder Art zwei Paerchen." Dazu sind alle Kinder geladen, die zum
grossen Teil bei dem Melodram mitspielen. Die Tatsache, dass die Kleinen auf
Stefensons Kosten die Gewaender geliefert erhielten, die zu ihren Rollen
gehoeren, hat dem Spender vollends die Sympathie der Stadt verschafft.

Der Festsaal war denn auch beaengstigend voll - zugleich fuer Joachim die
grosse Probe, ob er erkannt werden wuerde oder nicht.

Er wurde nicht erkannt. Die Leute betrachteten ihn mit der Neugier, die
dem ueberseeischen Arzt galt, von dessen Ankunft sie alsbald mit der
glaeubigen deutschen Auslaenderverehrung gesagt hatten, nun muesse es
wirklich eine gute Kuranstalt werden, da sogar ein amerikanischer Arzt
mittue. Von der Zeit an schienen den Waltersburgern die Neustaedter
geschlagen; denn Neustadt hatte nur deutsche Aerzte.

Ich besuchte diese harmlose Weihnachtsfeier mit erregtem Herzen. Einige
Tage vor dem Festabend war mir Herder begegnet und hatte mir mitgeteilt,
dass nun in seinem Melodram sogar die eigene Nichte von Herrn Stefenson
eine Hauptrolle uebernehmen und ein kleines Liedchen singen wuerde. Ich
verbarg muehsam meinen Schrecken.

Herder erzaehlte weiter:

"Ich habe mit der Kleinen - die Leute sagen, es sei die Tochter des
amerikanischen Petroleumkoenigs - eine Probe gemacht. Sie hat eine
allerliebste Stimme, aber sie erscheint etwas schuechtern."

Ich verabschiedete mich und ging sofort zu Mister Stefenson.

"Es ist unerhoert ..."

Er wusste augenblicklich, was ich meinte.

"Gar nichts ist unerhoert", unterbrach er mich rauh. "Die Nichte von Mister
Stefenson kann auftreten und singen, wo sie will. Sie muss auftreten, sie
muss ihre Schuechternheit ueberwinden. He, Sie scheinen mir ein schoener
Psychologe zu sein, wenn Sie solche Momente ausser acht lassen wollen."

Was hatte es fuer Zweck, sich mit diesem Manne zu zanken? Nun musste eben
durchgehalten werden ...

Die Mutter sass mit Joachim, mir und Stefenson in einer Seitenloge, nahe an
der Buehne. Ich sah und hoerte kaum etwas von dem Melodram, von dem Gewimmel
von Zwergen, Kobolden, Nussknackern, Pfefferkuchenmaennlein, Tiergestalten,
Besenbinderbuben und all den Mannschaften, die zum ueblichen
Weihnachtsstueck gehoeren; ich wartete mit Herzklopfen auf den
Weihnachtsengel, als dessen Darstellerin Miss Stefenson aus Chikago auf dem
riesigen roten Theaterzettel angegeben war. Nun war nur noch das letzte
"Bild" uebrig, nun musste Luise auftreten und damit die Entscheidung kommen.

Der Vorhang hob sich. - Eine Bethlehemsgrotte. Die heilige Mutter mit
ihrem Kind, Joseph, die Hirten, die drei Koenige; rings in Anbetung
versunken knieten Zwerge, Besenbinder, Pfefferkuchenmaennlein. Es war alles
in halber Nacht, nur von einem mattroten Schein erhellt.

Da erschien ploetzlich ein Licht ueber der Grotte, ein wunderschoenes
Engelein trat in den hellen Schein und sang mit zittrigem Silberstimmchen:

    "Vom Himmel hoch, da komm ich her
    Und bring euch allen frohe Maer:
    Geboren ist in Davids Stadt
    Er, der des Lebens Fuelle hat."

Die Mutter sass wie starr. Einmal tastete ihre Hand nach der meinen und
drueckte sie in kurzem, heftigem Erschrecken. Dann war sie regungslos. Die
ganze Gemeinde sass in Andacht.

Joachim war ganz gleichmuetig. Als der Vorhang gefallen war, sagte er:

"Mister Stefenson, Ihre Nichte ist ein reizendes Kind!"

         -------------------------------------------------------

Die Mutter wollte sofort nach Hause. Ich begleitete sie. Wir gingen stumm
in dem Menschenstrom. Erst als wir daheim angelangt waren und die Lampe
angezuendet hatten, sah mich die Mutter voller Angst an.

"Fritz - das Kind - dieses Kind ..."

Ich sah ihr ernst in die Augen und schwieg.

"Fritz - sage mir - ist es - ist es? ..."

"Ja. Es ist Luise."

Da sank sie auf das Sofa und verbarg den Kopf. Ich trat zu ihr. Nicht ohne
Bitterkeit sagte ich:

"Mutter, du brauchst dich nicht zu aengstigen, das Kind wird dir nie
Ungelegenheiten machen; es ist in Mister Stefensons Pflege gut
aufgehoben."

So wollte ich gehen. Aber ich brachte es doch nicht fertig. Ich blieb am
Tische sitzen. Nach langer Zeit, in der nichts zu hoeren war als das leise
Singen der Lampe und der Schlag unserer Standuhr, stuetzte die Mutter den
Kopf auf den Tisch und sagte muede:

"Das Kind ist Joachim aehnlicher, als er sich jetzt selbst ist!"

Nach einem Weilchen meinte sie:

"Es wird wohl keine Moeglichkeit geben, dass ich das Kind zu mir nehme?"

"Nein, Mutter, es gibt keine solche Moeglichkeit mehr!" Damit ging ich nach
meinem Zimmer.





                               FUeGUNG ...!


Joachim wohnt jetzt in der Lindenherberge, wo schon einige Zimmer
fertiggestellt sind und auch der Kuechenbetrieb schon im Gange ist. Im
Rathaus gegenueber haust Stefenson. Er hat seine Arbeitstaetigkeit noch
vermehrt und, wie er mir sagte, keine Zeit mehr, Luises willen taeglich
nach Neustadt zu fahren und sich um das "Gaenschen" zu kuemmern. So wolle er
das Maedel lieber zu sich nehmen. Das sei ihm zwar sehr stoerend, aber was
wolle er machen? Er haette auch gefunden, dass die Pflegeeltern in Neustadt
die Sache mit Luise nicht recht verstaenden. Ich grunzte. Sonst sagte ich
nichts ...

Die weitere Ausgestaltung unserer Riesenanstalt schritt mit groesster
Schnelligkeit vor sich. Da sagte Mister Stefenson eines Tages zu mir:

"Und nun, mein Lieber, ist es die allerhoechste Zeit, dass wir an die
Bauernrequirierung gehen. Zehn Hoefe sind fast fertig, das Vieh ist rasch
zu beschaffen, ebenso die Haus- und Ackergeraete, aber das Bauernvolk, das
uns einpasst, das will gesucht sein. Ich hatte anfangs an Agenten gedacht,
aber das ist nichts; die gehen bloss auf ihre Provision aus und schicken
uns Schinder und Plunder auf den Hals. Haben Sie also die Freundlichkeit,
sich in einen Vieh- oder Getreidehaendler oder, wenn Ihnen das besser
liegt, in einen Guetermakler zu verwandeln und mich morgen auf der
Bauernsuche zu begleiten."

Nun, diese Aufgabe passte mir, zumal ich Stefenson bereit fand, unser Glueck
zunaechst in Schlesien zu probieren. Ich bestimmte die Ausruestung.
Schaftstiefel, englische Lederhosen, eine Joppe aus grauem Tuch mit
Hirschhornknoepfen und gruener Tascheneinfassung, ein Vorhemd ohne Schlips,
ein seidenes Tuechlein um den Hals, eine Lodenmuetze, das war meine
Ausruestung. Solcher Kleidung bringen die Bauern Zutrauen entgegen, da
vermuten sie keine verkniffenen Staedter, keine "Juden oder
Winkeladvokaten", die sie uebers Ohr hauen wollen.

Es waere alles gut gewesen, wenn nicht Stefenson am naechsten Morgen, als
die Reise losgehen sollte, die kleine Luise mitgebracht haette.

Ich schlug Skandal. Was er sich einbilde, ein so kleines Kind auf so lange
Reise mitzuschleppen? Ob er denn nicht bedaechte, dass uns das Maedel nur
stoeren und aufhalten wuerde? Es war alles umsonst; Luise fuhr mit.

"Pappa hat mehr zu sagen als der Onkel", sagte die Kleine mit einem Anflug
von schnippischem Ton.

"Sie macht sich heraus; sie faengt an, Courage zu kriegen", sagte der
"Pappa" anerkennend.

         -------------------------------------------------------

Auf einer groesseren Station stiegen wir waehrend des Zugaufenthaltes aus, um
dem Kinde Orangen zu kaufen. Noch als wir am Stande des Obsthaendlers
waren, naeherte sich uns eiligen Schrittes eine Frau. Sie starrte erst mich
an, dann das Kind, fasste es blitzschnell an der Hand, riss es an sich und
kuesste es wie rasend.

Das Maedel schrie erschrocken auf, Stefenson sagte betroffen: "Aber Madame,
was tun Sie?", und ich wand der Frau das Kind aus den Armen. Neugierige
Leute eilten herbei; es gab gewaltiges Aufsehen.

"Zurueck in den Wagen!" rief ich Stefenson zu, der mir verwirrt folgte.
Bald sassen wir im Abteil, und die Tuer flog zu.

Draussen schrie eine gellende Stimme:

"Es ist mein Kind - es ist mein Kind - lasst mich zu meinem Kinde! Luise!
Luise!"

Die Leute hielten die Frau, die sich verzweifelt wehrte, an den Armen
fest; der aufsichtfuehrende Beamte eilte an unser Abteil und begehrte
Auskunft. Ich stieg aus, stellte mich vor und sprach einige aufklaerende
Saetze. Zuletzt sagte ich:

"Herr Vorsteher, fragen Sie die Frau, ob sie gesetzlichen Anspruch auf
dieses Kind habe!"

Er entfernte sich, ging zu der Frau, wies alle Leute beiseite und sprach
leise auf sie ein. Sie stand tiefgesenkten Hauptes mit herabhaengenden
Armen, heftig schluchzend vor ihm. Nun tat er wohl die Frage: "Haben Sie
einen gesetzlichen Anspruch auf jenes Maedchen?"

Da schuettelte sie den Kopf. Ein Blick voll Wehes traf noch unser
Wagenfenster, dann verliess die Frau den Bahnhof.

"Wer war die boese Frau?" fragte Luise veraengstigt.

"Eine Verrueckte", sagte Stefenson rauh.

"Wird sie nie wieder zu mir kommen?"

"Nein, nie wieder!"

Wie lange doch der Aufenthalt noch waehrte! Die Leute spazierten draussen
und gafften neugierig nach unserem Fenster. Ich zog den Vorhang vor.
Endlich setzte sich der Zug langsam wieder in Bewegung. Aber kaum hatte er
den Bahnhof verlassen und fuhr noch nicht mit voller Geschwindigkeit, da
gab es einen gewaltigen Ruck und Stoss, und der Zug stand.

Ich riss das Fenster auf. Von der Lokomotive sprang der Heizer ab,
Schaffner eilten den Bahnsteig entlang - ein Schaffner kam zurueck und gab
uns Auskunft ...

Ueber das Feld rannte jene Frau ...

Das Weib hatte sich dicht hinter dem Bahnhof auf die Schienen geworfen,
und der Lokomotivfuehrer hatte den Zug noch rechtzeitig zum Stehen
gebracht.

Luise war auf die Sitzbank geklettert und schaute durchs Fenster.

"Da rennt sie - da rennt die boese Frau!" rief das Kind.

"Lass das verrueckte Weib!" knirschte Stefenson.

Wir fuhren weiter. Grauer Nebel zog ueber die Fluren, frierende Voegel sassen
auf den Telegraphendraehten, alles, was draussen war, fror, die Baeume und
die Berge, die Tiere und die Menschen.

Die eine irrte nun allein mit dem aufgeschreckten Weh verschmaehter
Mutterliebe im Herzen durch die kalte Flur, das Kind hatte sich vor ihr
entsetzt, und selbst der Tod hatte sie verschmaeht.

Stefenson sass finster in seiner Ecke.

Das Kind begann wieder zu sprechen.

"Alle verrueckten Menschen sind sehr boese."

Da brummte sie Stefenson an:

"Das kann man nicht sagen, du Gaenschen! Manche Menschen koennen nicht mal
richtig dafuer, dass sie verrueckt sind."

"Wieso nicht?"

"Das verstehst du nicht. Das versteht selbst unter den grossen Menschen von
Tausenden kaum einer richtig."

"Du hast aber gesagt, sie ist verrueckt, und du hast es boese gesagt",
verharrte das Kind.

"Dann habe ich eben eine Dummheit gesagt. Denn ich kenne die Frau nicht
und kann daher auch nicht wissen, ob sie verrueckt oder boese ist."

"Boese ist sie", wiederholte Luise; "denn sie hat mich sehr gequetscht und
mich auch in die Wange gebissen. Sie soll nicht wiederkommen."

Grau rann der Regen ueber das Wagenfenster.

All unsere frohe Laune war dahin. Schwache, gedrueckte Menschen, sassen wir
da im Zuge, der uns schnell davonfuehrte und eine grosse Strecke zwischen
uns und die Suenderin legte, die uns gestoert hatte in unserer
Behaglichkeit, und die wir daher nicht rasch und rauh genug abschuetteln
konnten.

Der goettliche Freund Mariens von Magdala fiel mir ein. Wie haette er wohl
gehandelt in meinem Falle? Haette er die Arme beiseitegestossen, sich einen
Beamten kommen lassen und sich hinter "gesetzliches Recht" verschanzt?
Waere er dann weitergefahren, fast hinweg ueber den zuckenden Leib, und
haette er der Fliehenden nachgeschaut vom sicheren Fenster aus, mit
hochmuetigem Abscheu in der Seele? Oder waere ihr der Meister nachgegangen,
haette sie an der Hand genommen und ihr, wenn sie guten Willens war, ein
Zweiglein vom verlorenen Mutterkranz wieder versprochen, ihr ein klein
wenig goldene Kindesliebe fuer die Zukunft verheissen?

Ferien vom Ich!

Ich werde mich vor allen Dingen erloesen muessen von allem kalten Hochmut
des Herzens und allem auch noch so "gesetzmaessigen" Zurueckstossen der
Schwachen und Schuldigen ...





                             BAUERNANWERBUNG


In S. mieteten wir einen Wagen und ein Pferd und machten ein paar
ergebnislose Besuche auf den umliegenden Doerfern. Wie die Werber fuer eine
Freiwilligenlegion kamen wir uns vor. Auf der Landstrasse trafen wir aber
eines Tages ein Baeuerlein, das in einem grossen bunten Taschentuch
allerhand Waren eingepackt trug, die es wohl auf dem Markte erstanden
hatte.

Ich schaute den Bauern pruefend an. Er hatte ein offenes, nicht unkluges
Gesicht. Und der Mann ging zu Fuss und trug sein kleines Paket. Das war
einer fuer uns. An die reichen schlesischen Bauern konnten wir uns nicht
wenden, die haetten uns ausgelacht mit unserem Pachtangebote. Kleine
Landwirte mussten es sein, die auf ihrer engen Scholle ein kuemmerliches
Leben fuehrten und froh waren, in eine gute Pachtung zu kommen.

Stefenson hielt das Pferd an.

"Wollen Sie mitfahren?"

"Nee!" antwortete der Bauer.

"Warum denn nicht?"

Das Baeuerlein wies auf unseren lahmen Mietsgaul.

"Der Schimmel zieht mich nich; ich wieg' 'n Zentner!"

"Sie haben wohl schoenere Pferde?"

"Nee, ich hab bloss drei Zugkuehe. Aber su schnell wie der Schimmel traben
se ooch."

"Hoeren Sie mal, Gevatter", sagte ich, "Sie foppen uns. Das Pferd hat viel
Geld gekostet."

Er meckerte.

"Na, da musst ihr schoene tumme Kerle sein."

Lachend ging er neben unserem Wagen her, und wir fragten ihn ein wenig
ueber die Gegend aus. Bald kam ein Strassengasthaus, und ich lud den Bauern
ein, mit uns einzukehren und ein Glas mit uns zu trinken.

"Nu", sagte er, "das kann ich schon. Aber ich sag's Ihn' gleich ehrlich:
zu holen is bei mir nischt. Wuerfeln tu ich nich, und billig zu verkoofen
hab ich ooch nischt! Keene Kuh, kee Schwein, kee Getreide und ooch keene
alten Schraenke und zinnernen Teller."

"Warum vermuten Sie denn, dass wir Ihnen was abschachern wollen?"

"Ja, da muesst man doch euch Stadtjuden nich kenn'. Umsunst gebt ihr doch
eenem fremden Bauer keen Schnaps zum besten."

"Da haben Sie ganz recht", sagte Stefenson; "wir wollen etwas von Ihnen.
Wir wollen _alles_ von Ihnen: Ihre Wirtschaft, Ihre Kuehe, Schweine und
Huehner und sogar Sie selber und Ihre Frau und Ihre Kinder."

Der Bauer brach in helles Gelaechter aus.

"Hatt' ich mir's doch gleich gedacht, dass Sie der Menschenfresser sind."

"Also den nehmen wir bestimmt!" sagte Stefenson zu mir, wie wenn eine Ware
zum Verkauf staende.

"Mich nehmen Sie?" vergnuegte sich der Bauer. "Sie sein ja der ulkigste
Kerle von der Welt."

Stefenson zog die Stirne kraus. Drinnen setzte er sich dem Baeuerlein an
dem rohen Tisch der Schankstube gegenueber, nahm ein Notizbuch heraus und
sagte:

"Wie heissen Sie?"

"Ich? - Mit'm Familiennam' su wie mei Vater und mit'm Vornamen wie
Napoleon."

"Mensch, wie heissen Sie! Ich muss das wissen. Es handelt sich um eine
Angelegenheit, die fuer Sie wichtiger ist als fuer uns. Sie werden schon
alles erfahren. Also, wie heissen Sie?"

"Wie heissen _Sie_ denn?" fragte der Bauer zurueck. Stefenson wurde
ungeduldig.

"Wenn Sie es denn wissen muessen - ich bin Mister Stefenson aus Amerika,
ein sehr reicher Mann."

"Da koenn' Se lachen! Deswegen haben Se wahrscheinlich ooch so'n scheenes
Pferd."

"Dummer Kerl!" sagte Stefenson verdrossen und stand auf.

Der Bauer lachte.

"Nu hat a sich erst richtig vorgestellt, und nu steht er auf."

Es war Zeit, dass ich mich ins Mittel legte. Der Mann musste wissen, um was
es sich handelte, sonst war mit ihm nicht zu reden. Freilich war es nicht
leicht, so einer naiven Haut die Idee von den Ferien vom Ich klarzumachen.
Ich versuchte das auf folgende Weise:

"He, lieber Freund, haben Sie schon irgendmal einen Staedter kennengelernt,
der richtig arbeitet?"

"Nee. Die Staedter sein olles faule Luder. Se koenn' Heringe oder Leinwand
oder Pillen verkoofen oder in a Stuben sitzen und kritzeln, aber arbeiten
koenn' se nicht. Se schlafen ja olle bis um sieben."

"Da haben Sie recht. Und glauben Sie, dass so ein Leben, wie es die Staedter
fuehren, gesund ist?"

"Miserablig ungesund is es! Se sehn ju olle aus wie Quargschnitten, und
Kraefte ham se nich die Spur. Se verfauln reeneweg."

"Bravo! Was Arbeit ist und was Gesundheit ist, weiss nur der Bauer. Nun
wissen Sie aber, es gibt Badeorte, Kuranstalten."

"Jawohl. Da gehn die allerfaulsten Ludersch hin; die Kranken pflegen sich
lieber zu Hause."

"Schoen. Sie sind ein heller Kopf. Sie begreifen mich vollstaendig. Wenn man
nun aber einen Kurort machte, wo keine feinen Villen und Hotels sind,
nein, wo lauter Bauernhoefe waeren und wo die Staedter, die eine Kur machen
wollen, mal auf dem Hofe oder auf dem Felde feste zugreifen und arbeiten
muessten, das wuerde doch den Schlingeln gesund sein - nicht wahr?"

"Gesund schon! Aber das faule Kroppzeug wird sich schoen hueten und
arbeiten. Wenn se aufs Dorf komm'n, saufen se einem bloss die gute Milch
weg und fressen die scheensten Birn' von a Baeumen. Sonst tun se nischt."

"Doch, doch, Herr Nachbar! Es wird schon Leute geben, die das Leben in der
Stadt mal satt haben und durch die Arbeit auf dem Felde gesuender werden
wollen. Das ist eine gute Idee, die hat ein Doktor ausgeknobelt."

"Die Doktors verstehn alle nischt, die Schaefer sind klueger."

"Das mag wohl sein; aber der Doktor, der das ausgeknobelt hat, der
versteht schon seine Sache. Sehn Sie, kurz heraus: es soll eine Kuranstalt
gemacht werden, die hat vierzig Bauernhoefe, und auf allen Hoefen sollen die
Kurgaeste arbeiten. Und der Mann, der jene Anstalt gruendet, ist eben jener
Herr dort."

"Der? - Vierzig Bauernhoefe? - Se sind wohl nicht recht bei sich?"

"Doch - doch - ich werd' Sie doch nicht beluegen."

"Wie heisst er? Mister? Mister - Ausmister!"

Er lachte ueber seinen Witz.

"Mister bedeutet 'Herr'. Weil er eben ein Amerikaner ist."

Da erhob sich der Bauer. Er rief Stefenson an, der an einem anderen Tisch
der kleinen Luise eine Schinkenstulle zerteilte.

"Sie, Herr Mister, komm'n Se mal her! Zeigen Se mal Ihr Portemonnaie!"

Ich zwinkerte Stefenson zu, den Wunsch zu erfuellen. Stefenson warf
schweigend seine dicke Brieftasche auf den Tisch.

"Bitte!" sagte er phlegmatisch.

Der Bauer ruehrte sich nicht.

"Na, nu kucken Sie mal nach, was drin ist!" ermunterte ich ihn.

"Ich werd' mich schoen hueten; nachher sagen Se, es fehlt was!"

Misstrauisch wie ein alter Fuchs vor der Falle, so sass der Bauer vor der
Brieftasche. Da schlug ich die Tasche auf und entnahm ihr blaue und braune
Schaetze. Der Bauer schaute wie in ein Wunderland von Reichtum. Aber er
rueckte beiseite.

"Wenn Se su reiche Herr'n sind, warum setzen Se sich da zu mir armen
Schlucker? Zum Ausstoppen bin ich mir viel zu schade."

Ich gab die Brieftasche an Stefenson zurueck und redete dem neuen Freunde
gut zu. Ich erklaerte ihm genau, was wir mit ihm vorhaetten, wie er als
Paechter auf einen unserer Hoefe ziehen solle, wie wir ihm die guenstigsten
Bedingungen einraeumen und ihm seine eigene Wirtschaft zu gutem Preise
abkaufen wuerden, falls er sie nicht anderweit guenstig los wuerde. Wie ein
Koenig solle er auf seinem Gute hausen. Die Kurgaeste sollten unter seiner
Leitung arbeiten und sich an seiner guten Laune erfreuen. Ich kriegte
heraus, dass der Bauer Emil Barthel hiess, noch nicht ganz fuenfzig Jahre alt
war, ein gesundes Eheweib, namens Susanne, sowie zwei kraeftige Soehne und
zwei Toechter besass, dass von den vier Kindern aber drei auswaerts in Dienst
standen, da er sie auf seiner kleinen Wirtschaft nicht beschaeftigen und
ernaehren konnte.

"Na, sehen Sie, Barthel, es waere doch schoen, wenn Sie alle Ihre Kinder bei
sich haben und ganz fuer sich arbeiten koennten. Da waere doch auch was
zurueckzulegen."

Er sass nachdenklich da.

"Stoppen Se mich wirklich nich aus?"

"Ich denke nicht daran."

"Wie kommen Se denn gerade auf mich?"

"Na, wir haben Sie eben getroffen, und Sie gefallen uns."

"Dabei bin ich doch dem Herrn Mister grob gekommen."

"Das schadet nichts. Den Kurgaesten werden Sie auch manchmal grob kommen
muessen. Das gehoert zur Kur."

"Sind Sie auch so eener, der dort Bauer wird?"

"Nein, ich bin der Doktor, der alles ausgetiftelt hat."

"'n Doktor sind Se? So sehn Se aber nich aus!"

"Hm! Nun, so ein Doktor wie die andern bin ich auch nicht. Mehr so 'n
halber Schaefer."

"Oh, das waer nich schlecht! Aber ich glaub's nich; ich kann's nich
glauben!"

Ich zog einen Umschlag mit Photographien aus der Tasche.

"Jetzt werd' ich Ihnen mal Bilder von unseren Hoefen zeigen. Da - das ist
ein Wohnhaus."

"Das? - Das is ja 'n Schloss!"

"Ja, wir haben schoene Wohnhaeuser. Sie sollen ja mit Ihrer Familie nicht
allein in dem Hause wohnen; es sollen ja auch noch zwanzig Kurgaeste drin
Platz haben."

"Dunnerwetter!"

"Und das ist die grosse Wohnstube, und so sieht der Kuhstall aus und so die
Scheuer."

Er atmete schwer.

"Wie gross ist denn die Wirtschaft?"

"Hundert Morgen."

Da verduesterte sich seine Stirn.

"Warum halten Sie mich denn zum Affen? So 'ne grosse Sache kann ich doch
nich pachten; da gehoert doch Geld dazu."

"Gar kein Geld! Nur, dass Sie fleissig sind und alles gut in Ordnung halten.
Wir werden ebenso auf unsere Rechnung kommen wie Sie; denn, sehen Sie, die
Aecker rentieren sich doch, und was die Wirtschaft nicht bringt, bringen
die Kurgaeste."

"Nu ja, die werd'n ja ueberall behumpst."

Der Mann betrachtete mich wie einen Zauberer, der Maerchendinge vor ihm
ausbreitete. Zuletzt erklaerte er sich bereit, mit uns nach seinem Dorfe zu
fahren und mit seiner Susanne Ruecksprache zu nehmen.

Unterwegs sprach ich noch viel auf Emil Barthel ein. Er antwortete fast
nicht mehr. Vor seiner kleinen Wirtschaft hielten wir. Das Wohnhaus hatte
nur ein Erdgeschoss mit hohem Dach; Stall und Scheuer waren klein, aber es
war ein Blumengaertlein vor dem Hause und alles sauber und freundlich. Ein
behaebiges Weib in blauer Schuerze trat vor die Tuer, als Barthel vom Wagen
kletterte:

"Nee, Emil", sagte sie, "da haste nu sugar Fuhrgelegenheit gehabt und
kummst su spaet! Dabei sull a de Medizin fuers kranke Maedel hol'n."

"Mutter", meinte Emil, "wenn du mit sulchen Kerlen faehrst, bleibste
kleben. Sieh dir bluss den Schimmel an; der hat zwee eingeleimte Hulzbeene.
Aber 's sind amerikanische Millionaere, die haben vierzig Pauergueter und
lauter Schloesser."

Susanne lachte gutmuetig.

"A hat een' sitzen", meinte sie. "Na, kumm ock rein!"

"Frau Barthel", rief ich ihr zu, "Ihr Mann wird Ihnen viel zu erzaehlen
haben. Glauben Sie nur, es ist kein Spass, es ist Ernst. Wir fahren jetzt
ins Gasthaus, und in etwa zwei Stunden werden wir mal zu Ihnen kommen. Wir
muessen mit Ihnen ein ernstes Wort reden, und es wird Sie nicht reuen."

Die Frau schuettelte verwundert den Kopf; ihr Gatte Emil aber tippte erst
ihr, dann sich an den Kopf, nahm sie am Arme und zog sie ins Haus.

         -------------------------------------------------------

Im Dorfgasthause wurde uns ein schlichtes, aber schmackhaftes Mittagsmahl
bereitet, und nach einiger Zeit brachen wir auf zu einem Besuch bei Emil
Barthel.

"Nee, komm'n Se wirklich?" fragte er; "ich hatte gedacht, 's waer alles
bloss Ulk."

Die Stube war niedrig, aber sauber, und ueber den Tisch war ein grosses
buntes Tuch gebreitet. Emil Barthel bewirtete uns. Er bot uns in einer
Papiertuete Zigarren an, von denen ich vermutete, dass sie aus dem
Dorfkramladen zu fuenf Pfennig das Stueck gekauft seien. Mit Schadenfreude
sah ich zu, wie Stefenson, der von frueh bis in die Nacht eine Havanna nach
der andern schmauchte, sich mit Todesverachtung an dieses Rauchzeug
heranmachte.

"Nun, mein lieber Barthel, moechte ich zunaechst etwas feststellen: es
handelt sich in unserer Angelegenheit weder um einen Spass, zu dem wir uns
wahrhaftig nicht so viel Zeit nehmen wuerden, noch um einen Betrug."

"Also ist es tatsaechlich wahr?" sagte Barthel und trommelte auf den Tisch.
Sein Gesicht wurde ernst, und er holte aus zu einer Rede:

"Sehn Sie, meine Herr'n, wenn Se nu wirklich so was Komisches vorhaben -
man kann ja nie wissen, was den Stadtleuten einfaellt - nu, so muss ich
Ihn'n ehrlich sagen: das Ding gefaellt mir nich. Denn warum! Die Stadtleute
werd'n nich kommen. Die sind viel zu faul. Wenn se ins Bad machen woll'n -
woll'n se sich amuesieren. Da woll'n se doch nich Kuehe melken und ackern.
Meine Herr'n, Se haben keene Ahnung, was das fuer schwere Arbeit is. Vor
solcher Arbeit haben sich die Stadtleute immer gedrueckt. Aber gesetzt den
Fall, se kaemen doch - da waer's noch viel schlechter. Denn warum? Die
Stadtleute verstehen nischt. Denken Se, dass die mir auf dem Hofe was
helfen koennten? Die gragelten mir doch bloss im Wege 'rum. Die quatschten
und quasselten doch bloss."

"Die fielen einem ja in die Puttermilch!" lachte Frau Susanne.

"Die taeten ja alles bloss mit Glacehandschuh'n machen woll'n", ergaenzte der
Mann.

"Donner!" schrie da Stefenson jaehzornig und hieb die Faust auf den Tisch,
dass aus seiner Fuenfpfennigdampfrolle ein Feuerwerk stiebte, "nun ist's
aber genug. Wer nicht will, will nicht! Haben Sie das Risiko zu tragen?
Muessen Sie sich unsere Koepfe zerbrechen, ob unsere Gruendung eine Pleite
ist oder nicht? Haben Sie nicht bloss zu gewinnen? Das allerbeste ist ..."

"Das allerbeste is, Se gehn wieder!" sagte Barthel seelenruhig. Und nun
waeren wirklich all unsere Beziehungen zu dem Hause Barthel abgebrochen
worden, wenn es nicht im selben Augenblick an die Tuer geklopft haette und
zwei Damen ueber die Schwelle getreten waeren. Eine kleine zartgliedrige
Braune und eine grosse Blondine, beide mit feinen Gesichtern, so gut man
das in dem Daemmerlichte der niederen Bauernstube feststellen konnte. Die
Kleinere sagte, dass sie von der Erkrankung des Barthelschen Kindes gehoert
habe und mal nachfragen wolle; sie sehe aber, dass gerade Besuch da sei,
und wolle nicht stoeren.

Ach, erwiderte die Frau, von Stoerung sei keine Rede; denn das seien zwei
ganz fremde Herren, mit denen sie weiter nichts Ernsthaftes zu besprechen
haetten und die auch gleich gingen. Trotzdem fuehlte sich die gute Mutter
Barthel bemuessigt, uns die kleine Sprecherin vorzustellen. "Das ist naemlich
unsere Lehrerin, Fraeulein Annelies von Grill."

Anneliese von Grill! Ein pruefender Blick in die grossen braunen Augen, und
ich hatte die Identitaet mit dem kleinen Majorstoechterlein festgestellt,
das manchmal in Waltersburg zu Besuch gewesen war und das ich - da ich
acht Jahre aelter war - immer etwas onkelhaft begoennert hatte. Nun stand
ich ihr lachend gegenueber und fragte sie, ob sie nicht mehr wisse, wer ich
sei. Da erkannte sie auch mich, und es gab ein froehliches Wiedersehen und
grosse Verwunderung ueber die Umstaende, unter denen es geschah. Ihre
Lebensgeschichte war kurz: der Vater frueh gestorben, die Mutter auf eine
kleine Pension angewiesen und knapp imstande, aus ihr eine Lehrerin zu
machen, die nun vertretungsweise in diesem Dorfe angestellt war.

Auf einmal fragte die sehr wohllautende Altstimme der Blondine:

"Das ist doch nicht etwa der Doktor von dem Waltersburger Sanatorium
Ferien vom Ich?"

"Allerdings, meine Gnaedigste, dieser Doktor bin ich."

Das Maedchen brach in klingendes, lautes Gelaechter aus.

"Also, das sag ich Ihnen, wenn mir die Wahl gelassen worden waere, wen ich
sehen wolle, Sie oder den Kaiser von Hinterindien in all seiner Pracht und
Herrlichkeit - ich haette mich fuer Sie entschieden."

"Ich freue mich, dass ich Ihnen so interessant bin", sagte ich.

"Oh, interessant ist gar kein Ausdruck. Wir stehen Kopf ueber Sie! Jetzt
fehlte bloss noch, dass jener Herr dort der Mister Stefenson aus Amerika
waere."

"Das ist er!" mischte sich Emil Barthel ein, "es ist der Herr Mister aus
Amerika."

Stefenson verneigte sich phlegmatisch.

"Also, Herrschaften, dann muessen Sie schon erlauben, dass wir uns etwas
zusammensetzen und diese kostbare Begegnung geniessen."

Dieses Maedchen hatte einen burschikosen Ton an sich, und ich bat Anneliese
von Grill, uns zunaechst mal mit ihr bekannt zu machen. Die Blonde stellte
sich aber selbst vor.

"Ich bin eine nach meiner eigenen Meinung ausserordentlich begabte
Opernsaengerin ohne Engagement, gegenwaertig zu Besuch bei meiner Freundin
Anneliese, um in der paradiesischen Einsamkeit dieses winterlichen Dorfes
Ferien vom Ich zu machen. Mit Kuenstlernamen bin ich Irmingard Schwarzeneck
genannt, buergerlich hoere ich auf den Namen Eva Bunkert und bin die Tochter
des Baumeisters August Bunkert in Neustadt."

Wir sahen der Tochter unseres grimmigsten Konkurrenten aus der feindlichen
Nachbarstadt verdutzt in das strahlende Gesicht, und das Maedchen brach
wieder in froehliches Lachen aus.

"Es scheint, dass wir Sie sehr belustigen, mein gnaediges Fraeulein."

"Ausserordentlich! Ist es nicht immer lustig, wenn Waltersburg und Neustadt
aufeinanderplatzen?"

Wir nahmen Platz und sassen alle um den runden Bauerntisch. Emil Barthel
sagte:

"Siehste Mutter, du hast gesagt, es sind Schwinler, und ich hab gesagt,
hoechstwahrscheinlich, aber man kann ja nich wissen, und da hab ich wieder
mal recht gehabt."

"Und nun, Herrschaften", rief Fraeulein Bunkert, "es mag so indiskret sein,
wie es wolle, ich muss wissen, was Sie hier bei Vater und Mutter Barthel zu
tun haben; ich sterbe sonst vor Neugier."

Und Stefenson - ach, Stefenson betrachtete das Maedchen mit unverhohlenem
Wohlgefallen. Er sagte mir hinterher, sie sei "sein Typ". Gross, schlank,
blond, uebermuetig. Da gehe er halt auch mal aus sich 'raus.

Er ging sehr aus sich heraus. Diese Eva Bunkert war eine Eva in des Wortes
wahrster Bedeutung, mit allen Kuensten, Listen und Teufeleien des
Weibervolks ausgestattet. Sie machte die tollsten Anstuerme auf den
biederen Stefenson. Damals, sagte sie, als er die Neustaedter mit den
Zeitungsartikeln hineingelegt habe, habe sie auf die Gefahr hin, in ihrer
Vaterstadt gelyncht zu werden, gesagt: dieser Mann sei zum Kuessen. (Bei
diesen Worten schlug Stefenson die Augen nieder und zog seinen duennen Mund
gewaltig in die Breite.) Dass er, Stefenson, in einer so oeden
Spiessergegend, wie Waltersburg und Neustadt, einen so grandiosen Ulk wie
dieses Ferienheim inszeniere, sei vielleicht der beste Witz der
Weltgeschichte. Sie denke sich unser Heim als eine immerwaehrende
Maskerade, als einen Bauernball ohne Ende, als einen Fasching _ad
infinitum_.

Und diese schweren Beleidigungen unserer grossen erhabenen Idee liess
Stefenson ueber sich ergehen, zuckte kaum manchmal die Schultern, und er
laechelte ... der Verraeter.

"Meine Gnaedige", warf ich dazwischen, "Sie duerften ueber unser Ferienheim
denn doch nicht genug informiert sein. Wir meinen es ernst."

"Ja, gerade, dass Sie es ernst meinen, ist ja das Gute", erwiderte sie.
"Ein Witz, der nicht ernst gemeint ist, ist gar kein Witz."

"Das ist eine sehr kluge Sentenz", stimmte der verraeterische Stefenson
bei. Ich war empoert. So ein Mann, der pfiffiger war als der Pfiffigste,
blieb an der Leimrute eines blonden Zopfes sofort kleben. Als der Herrgott
das Weib erschuf, hat sich der Teufel sicher gefreut.

Aber neben mir die kleine braune Anneliese gefiel mir doch sehr gut. Sie
war freundlich, es lag viel Guete auf ihrem Gesicht, und es blinkerte auch
in ihren grossen Augen das schoene Lichtlein harmlosen Schalks. Waehrend
Stefenson und Eva Bunkert eine laermende, von vielem Gelaechter
unterbrochene Unterhaltung fuehrten, sprach ich leise mit Anneliese von
ihrem und meinem Leben, und es kam ein stilles Behagen ueber mich in der
schlichten Bauernstube.

"Sie meinen es wohl gut mit diesem Ehepaare Barthel?" fragte ich.

"Es sind sehr ehrliche und auch ganz lustige Leute."

"Glauben Sie, dass es recht waere, wenn wir sie fuer uns gewinnen?"

"Ich werde ihnen gut zureden, dass sie Ihr Angebot annehmen. Es wird gewiss
beide Teile nicht reuen."

"Ich danke Ihnen!"

"Also, hoeren Sie, Herr Mister Barthel", lachte unterdes Eva Bunkert; "wenn
Sie das Angebot von Mister Stefenson abweisen wollten, waeren Sie, mit
Respekt gesagt, ein Riesenochse. So ein Glueck schneit Ihnen nie wieder ins
Haus."

Emil Barthel zuckte verlegen die Schultern.

"Ich moecht ja; aber die Mutter sagt ..."

"Gar nischt sagt sie", fuhr Frau Barthel dazwischen, "aber er - er hat die
Herren, ehe die Fraeuleins kamen, direkt 'rausschmeissen wollen."

Emil Barthel schwur, dass das nie in seiner Absicht gelegen habe, und es
gab einen ehelichen Streit.

Mitten in den Auseinandersetzungen erschien ein altes Weib.

"Jees, jees", jammerte es, "die Emma hat su viel Hitze und klagt immer
mehr ueber a Hals."

Emma war die zwoelfjaehrige Tochter Barthels. Ich erfuhr, dass das Kind ueber
Halsschmerzen geklagt habe, und der Schaefer, ein heilkundiger Mann,
Hoffmannstropfen, Heringslauge und Speckpflaster verordnet hatte. Die
Hoffmannstropfen hatte Barthel heute aus der Stadt geholt.

"Ich bitte Sie, sehen Sie mal nach dem Kinde", bat mich Anneliese, "es
sind bereits drei Diphtheriefaelle im Dorfe vorgekommen, und einen Arzt
haben wir hier nicht."

So ging ich mit ihr und den Barthelleuten nach einem Oberstueblein, wo das
Kind in hohem Fieber lag.

Diphtherie! Keine Zeit mehr zu verlieren. Ich gab ein paar vorlaeufige
Verhaltungsmassregeln und schrieb einige Worte an einen Kollegen im
naechsten Orte, da ich die Behandlung ja nicht selbst uebernehmen konnte.
Ein Radler fuhr mit der Botschaft los. Das Maedel ist dann auch gerettet
worden, und Barthel hat nachtraeglich drei Mark Strafe zahlen muessen, weil
er dem Schaefer, der die Heringslauge und das Speckpflaster verordnete,
einige Ohrfeigen als Honorar ausgezahlt hat.

Als wir damals nach der Barthelschen Wohnstube zurueckkehrten, fanden wir
Stefenson und die schoene Eva in angeregtester Unterhaltung. Fuer das
erkrankte Kind hatte sie einige bedauernde Worte, dann lachte sie schon
wieder.

Eva hatte mit Stefenson verabredet, dass sie mit Anneliese gleich nach der
Eroeffnung unserer Kuranstalt im Mai als Feriengast bei uns einziehen
wollte. Annelieses vertretungsweise Schulmeisterei, sagte sie, gehe bloss
bis ersten April, und dass sie selbst kein Engagement an einer Oper kriege,
sei vorlaeufig sicher, also koennten sie beide kommen.

"Und Ihr Vater?" fragte ich.

"Ach, mein Vater darf natuerlich davon nichts wissen, der ist ja wuetend auf
Sie. Dem schicke ich durch Mittelspersonen Briefe von irgendwoher, dass er
meint, ich sei wer weiss wo. Und bei Ihnen werde ich die Gruenzeugfrau
Emilie Knautschke sein."

Ich beschloss, dieses Maedchen, das in die ernste Maennerfreundschaft
zwischen Stefenson und mir einen so lauten Lachton mischte und unsere
grosse Idee zur Hanswurstiade herabstimmte, unschaedlich zu machen.

Wie ich das tun sollte, wusste ich nicht.

Aber ich hatte Glueck. Die Tuer oeffnete sich, und ein duennes Stimmchen
zirpte herein:

"Pappa, wie lange bleibst du denn? Ich muss immerfort allein in dem dummen
Gasthaus sitzen."

Luise war es, die wir im Wirtshaus zurueckgelassen hatten.

Stefenson sprang auf und eilte nach der Tuer.

"Kindchen, auf dich hatt' ich ja ganz vergessen. Aber geh hier hinaus! In
diesem Haus ist Diphtherie."

Er schob Luise besorgt auf die Strasse. Eva Bunkerts Gesicht wurde etwas
ernster.

"Ach, Herr Stefenson ist verheiratet?"

Ich war so boshaft, zweimal mit dem Kopf zu nicken.

Da raeusperte sich Eva Bunkert und sagte, es sei wohl jetzt Zeit, nach
Hause zu gehen.

Ich hielt sie nicht auf. Es kam zum allgemeinen Aufbruch. Draussen auf der
Strasse schmiegte sich die kleine Luise dicht und zaertlich an Stefenson an
und schmollte mit ihrem "lieben Pappa", der sie im Stiche gelassen hatte.

Und Stefenson, ob er auch nach Eva Bunkert hinschielte, trat nicht zu ihr
und sagte vor den Ohren des Kindes: "Ich bin nicht ihr Vater!"

Nein, er hielt stand dem Vaternamen gegenueber, den er sich selbst gegeben
hatte. Er verleugnete das Kind nicht. Da hatte ich ihn wieder gern.

Als wir allein waren, sagte Stefenson:

"Das haette nun alles so gut in unser Programm gepasst, und nun ist nichts
zum Abschluss gekommen."

Ich erwiderte:

"Diese Eva Bunkert ist eine ganz gute Erscheinung; aber ich fuerchte, sie
wuerde unserer Sache schaden."

"Schaden?" fuhr er auf. "Nuetzen! Glauben Sie mit Sentimentalitaet, alten
Rueckstaendigkeiten und mit Duckmaeusertum noch was auszurichten? Glauben
Sie, dass ein schoenes Gesicht, eine gute Figur, ein beweglicher Geist des
Deibels sind? Oh, ich sage Ihnen, wenn wir die moderne Welt und ihre
Schaedlichkeiten besiegen wollen, muessen wir verflucht modern sein. Mit
noch so ehrwuerdigen Armbrustpfeilen geht keiner mehr an gegen die
Schnellfeuergeschuetze der neuen Zeit."

Wir blieben noch einen Tag in diesem Dorfe und trafen die Maedchen wieder.
Beide waren gleichmaessig freundlich. Stefenson widmete sich ganz der
schoenen Eva und sprach mit mir oder Anneliese kaum ein Wort.





                              DER JOURNALIST


Nun ist's ein Jahr her, seit die Verwirklichung meiner Idee von dem grossen
Ferienheim keimte und wuchs. Jetzt naehert sie sich der Reife. Anfang
Februar gab es eine Sensation. Stefenson reiste nach Amerika zurueck. Da
hoehnten die Neustaedter, dem sei wohl im letzten Augenblick doch angst und
bange geworden vor seiner uebergenialen Neugruendung, und nun kaeme der
Zusammenbruch. Ich blieb ganz ruhig; denn ich wusste, dass alles gut
vorgesorgt war und Stefenson nur nach Hause fuhr, um seine dortigen
dringendsten Geschaefte in Ordnung zu bringen.

Die kleine Luise wollte der Amerikaner mit auf die Reise nehmen. Erst nach
den ernstesten Vorhaltungen, die beinahe in Feindseligkeiten ausarteten,
liess er das Kind zu Hause. Aber Neid und Zorn war in seinem Herzen, und
zwar nicht nur wegen des Kindes.

"Ich bin begierig, wie Sie sich gegen Fraeulein Eva Bunkert benehmen
werden, wenn sie nun kommen wird, um unser Heim zu beschauen. Ich fuerchte,
Sie werden den rechten Ton nicht treffen."

Ich laechelte.

"Fuerchten Sie, dass ich zu abweisend oder zu entgegenkommend sein koennte?
Eva Bunkert ist ein sehr schoenes Maedchen."

"Ich bitte Sie", sprach er herb, "dass Sie sich mit Fraeulein Bunkert weder
in der einen noch in der anderen Art zuviel beschaeftigen, sondern mir
diese ausgezeichnete Akquisition fuer unsere Kuranstalt persoenlich
ueberlassen."

"Ich ueberlasse Ihnen diese Akquisition", sagte ich grossmuetig und
feierlich. Darauf knurrte er, vor Mitte Mai koenne er keinesfalls zurueck
sein.

Als ich ihn zum Zuge begleitete, wuenschte ich aufrichtig, er moege bald
zurueckkommen ...

         -------------------------------------------------------

Vor drei Tagen ist nun unser Freund Emil Barthel mit seiner Susanne und
seinen Kindern bei uns eingezogen. Er hat den Forellenhof dicht unten am
Bach uebernommen. Des Staunens seiner Leute war gar kein Ende. Sie gingen
bedrueckt durch die grossen, neuen, so behaglich ausgestatteten Raeume wie
Fremde, die ein merkwuerdiges praechtiges Haus betrachten. Aber sie werden
in diese Raeume hineinwachsen. Der Bauer hat uns schon wesentliche Dienste
erwiesen. Er bezeichnete uns Kameraden und Bekannte, die sich als Paechter
unserer Hoefe eignen wuerden, und ob wir auch kaum den dritten Teil davon
gebrauchen konnten, so gaben uns die ausgewaehlten Leute wieder die
Adressen neuer Kandidaten, so dass unsere zwanzig Hoefe besiedelt sind. Der
andere Teil des Gelaendes wird von den alten frueheren Dominialgebaeuden aus
bewirtschaftet.

Es geht alles schnell, ruhig und sicher, wo ein zielbewusster Wille und wo
- Geld da ist.

Manche unserer Hoefe haben herkoemmliche poetische Namen, wie Forellenhof,
Erlenhof, Grundhof, Hof am Hange, Berghof, Sonnenhof, aber es gibt auch
eine Waldschoelzerei, eine Heimwehfluh, eine Steinmuehle, eine
Genovevenklause, eine grosse und eine kleine Einsiedelei, ein Haus "ueber
den sieben Bergen", ein "_Old Nigger home_" (nach Stefensons Wunsch), eine
Heideheimat, eine Juxherberge, eine Meierei zum gelben Kakadu, ein
Knusperhaeuschen, eine Kassubenhuette, ein Zigeunerlager und eine
Raeuberhoehle.

Mit Romantik ist nicht gespart. Tradition fehlt ja leider allen diesen
Dingen, aber sie wird sich bald finden; wir haben pfiffiges Bauernvolk
ausgewaehlt, und das dichtet in seiner kraeftigen Seele so viel zusammen,
dass sich alsbald allerhand Geschichtlein um unsere Siedelungen spinnen
werden, schneller als der Efeu waechst, den wir an mancher Wand
einpflanzten, oder als das Moos wuchert, das wir auf schraege Daecher
legten.

Das groesste Glueck ist die Freude am gelungenen Werk, ein Abglanz des
erschuetternden Titanenjubels, der Gottes Brust durchloht hat, als er im
Glanz von Millionen Sonnen die Schoepfung vor sich sah.

Auch ich bin nie so gluecklich gewesen wie in dieser Zeit der Gruendung
unseres Heims, nie so selig, glaeubig und am Leben haengend, nicht einmal in
der Kinderzeit, die doch alle Tage Schoepferjubel bringt, und sei die
Veranlassung auch nur eine gelungene kleine Schanze im Bach oder die zum
erstenmal geglueckte Schleife des Schuhbandes.

         -------------------------------------------------------

Die Maedchen sind gekommen. Gestern. Sie kamen am Vormittag und wollten
schon mit dem ersten Abendzuge wieder abreisen trotz der Einladung, ein
paar Tage dazubleiben und bei Frau Susanne im Forellenhof zu wohnen.

Eva Bunkert war zurueckhaltender als bei unserer ersten Begegnung. Sie
konnte es sich zwar nicht versagen, nach Betrachtung des Baches, der an
Barthels Hof vorbeifliesst, zu behaupten, in diesem Gewaesser lebe keine
einzige Forelle, weshalb der daranliegende Hof wahrscheinlich
"Forellenhof" heisse, aber es sei ja bekannt, dass Namen fast immer
taeuschen, wie zum Beispiel koerperlich etwas zurueckgebliebene Maennlein mit
Vorliebe Siegfried hiessen oder oft keifende Xanthippen mit den holden
Namen Mariechen oder Trautchen begabt seien.

Nach dieser Abschweifung ins Schnippische wurde das Maedchen ernster. Sie
betrachtete den grossen Forellenhof von innen und aussen und sagte mit einem
Seufzer:

"Es ist schoen hier. Ich glaube, man kann in einem solch einfachen Hofe
gluecklicher sein als in einem prunkenden Hotel. Wenn ich es einrichten
kann, werde ich wirklich einmal hier Ferien vom Ich machen."

"Ich moechte es wohl auch", sagte die kleine Anneliese, "aber fuer mich ist
so etwas viel zu teuer."

"Du, meine Liebe", lachte Eva Bunkert, "du muesstest ganz andere Ferien vom
Ich haben - Weltstadtleben, Theater, Baelle, Autofahrten - man muss das
haben, was einem fehlt."

"Mir wuerde nichts fehlen in solchem Frieden", sagte die kleine Braune.

Ich ging mit den Maedchen durch unser Gelaende, fuehrte sie nach dem Rathaus,
nach der Lindenherberge, den "Stillen Weg" hinab ueber die Genovevenklause,
und als ich nach der Waldschoelzerei weiter wollte, passierten wir das
Zeughaus und das grosse Eingangstor. Dort gab es eine Auseinandersetzung
zwischen einem fremden Herrn und dem Tuerschliesser. Der Herr, der im
Reiseanzug war und eine kleine Handtasche trug, verlangte in ungestuemer
Weise mich zu sprechen, waehrend der Diener entgegnete, der Herr Doktor sei
aufs dringendste und unabkoemmlichste beschaeftigt, und unsere Anstalt wuerde
ueberhaupt erst am ersten Mai eroeffnet. Der Fremde liess sich nicht
abweisen, und als er mich erblickte, rief er:

"Ich moechte wetten, dass jener Herr der Doktor ist!" Damit schob er den
Diener beiseite und kam auf mich zu.

"Gestatten Sie, mein Herr, eine kurze Viertelstunde?"

"Sie sehen, ich habe Besuch!"

"Jawohl - es tut mir auch leid, Sie stoeren zu muessen, aber ich habe nur
eine Viertelstunde Zeit. Wenn ich mich vorstellen darf: George Brown,
Mitarbeiter der 'Staatsbuergerzeitung' in Neuyork. Ihr Geschaeftsfreund
Mister Stefenson hat mich persoenlich gebeten, Sie zu besuchen und Ihnen
dieses Schreiben zu ueberreichen."

Er uebergab mir einen Brief, den ich mit Erlaubnis der Damen oeffnete und
stellenweise vorlas:






                                                   "Neuyork, den 25. Maerz.
      Mein Lieber!

Sie wollen nie recht zugeben, dass ich Sie genau kenne, aber mein Spuersinn
ist, was Sie anlangt, so gross, dass ich hier viel tausend Meilen von Ihnen
prophezeie, ohne besorgt zu sein, einen Irrtum zu begehen: Wenn Sie diesen
Brief durch Mister Brown erhalten werden, werden Sie gerade mit den Damen
Eva Bunkert und Annelies von Grill einen sehr vergnuegten Spaziergang durch
unser Heim machen. Ich beglueckwuensche Sie dazu und bitte, mich den
Herrschaften zu empfehlen.

Was Mister Brown anlangt, so empfehle ich Ihnen, diesen Herrn recht
ruecksichtsvoll zu behandeln, ihm nicht etwa zu sagen, Sie haetten gerade
Besuch und daher keine Zeit fuer ihn. Denn Mister Brown ist einer der
einflussreichsten Journalisten in den Staaten, und wir werden den Zuzug aus
Amerika fuer unsere nach deutschen Normalbegriffen immerhin etwas
merkwuerdige Anstalt recht noetig haben.

Gruessen Sie Luise von ihrem Pappa, der sich sehr nach seinem Gaenschen
sehnt, aber noch nicht weiss, wann er zurueckkehren kann.

                                                               Stefenson."






Ich schaute verwundert auf Brown, den Ueberbringer dieser seltsamen
Epistel. Brown war ein Fuenfziger, der Kotelettbart und der Schnurrbart
sowie die gescheitelten Haare waren stark angegraut, der Anzug etwas
geschniegelt modern, die Wangen, wie mir schien, wohl ein wenig
geschminkt. Irgend etwas an dem Mann kam mir bekannt vor, auch in seiner
heiser klingenden Stimme. Vielleicht war ich ihm mal drueben begegnet. Ich
fragte ihn, ob er auf dem letzten grossen Pressekongress in Baltimore, den
ich besucht hatte, gewesen sei, und er erwiderte, dass er daselbst eine
Rede gehalten haette. Daher die matte Erinnerung.

Die Maedchen verwunderten sich nicht weniger ueber die seltsame Prophezeiung
in dem Stefensonschen Briefe als ich. Ich sagte, ich koenne mir das
ueberraschende Eintreffen einer solchen Voraussage nur dadurch erklaeren,
dass Stefenson vermutet habe, die Damen befaenden sich fuer laengere Zeit in
unserem Heim, ich mache mir wahrscheinlich oefters das Vergnuegen, sie
auszufuehren, und es koenne sich wohl so fuegen, dass uns Mister Brown
zusammen antraefe. Daraufhin weissage ein Mann wie Stefenson eben
darauflos. Treffe es nicht ein, schade es nicht, treffe es aber infolge
seines Glueckes ein, sei es ein guter Bluff.

Brown schuettelte den Kopf.

"Mister Stefenson ist kein Bluffer, er weiss immer, was er sagt."

"Sie kennen Mister Stefenson persoenlich?" fragte Eva Bunkert mit
unverhohlenem Interesse.

"Mein gnaediges Fraeulein", erwiderte Brown, "ich kenne alles, was man in
Neuyork und den Staaten kennen muss."

"Und Mister Stefenson gehoert zu dem, was man in Amerika kennen muss?"

"Ja, er gehoert dazu."

Der Journalist schloss sich unserem Rundgang an. Meist verhielt er sich
schweigend, sprach ueber das, was er sah, weder Lob noch Tadel aus, bat
nur, sich von Zeit zu Zeit eine Notiz machen zu duerfen, und stellte
ausserordentlich sachverstaendige Fragen, Fragen, die ich, sobald sie sich
in technische Einzelheiten verliefen, oft gar nicht beantworten konnte.
Das _Nigger-Home_ gefiel dem Amerikaner. Es war duester in der niederen
Stube; wir zuendeten ein paar matt brennende Petroleumlampen, die an den
Waenden hingen, an, um die Illusion zu verbessern.

"Nun muesste jemand einen Niggersang anstimmen", sagte Brown.

Da stand auch schon Eva Bunkert, an die Wand gelehnt, schraenkte die Arme
ueber der Brust und begann mit wohllautender Stimme zu singen:

  _"Way down upon Swaney ribber_
  _Far far away ..._
  _There's, where my heart is turning ebber,_
  _There's, where the old folks stay ..."_

Sie sang dieses schwermuetigste aller Heimatlieder mit tiefer innerer
Bewegung, und Mister Brown summte mit naeselndem Tone die Begleitung dazu,
so wie es die Neger tun, wenn fern der Heimat einer der Ihrigen an der
Wand lehnt und das innerste Weh der weltverschlagenen, geknechteten Seele
im Liede ausstroemen laesst. Dann summen sie alle mit, die Koerper werden
regungslos, und die grossen, heissen Augen starren ins gelbe Licht der
matten Lampen ...

Wir gingen weiter und kamen an den Hof am Hange. Dort steht eine grosse
Buche, um die eine Bank laeuft. Von hier aus kann man unsere ganze
Siedelung ueberschauen. Warmes Fruehlingslicht spielte durch laue Luft, die
Zweige trugen alle die kurzen, gruenen Kinderkleidchen erster Jugend, die
Voegel waren heimgekommen und uebten in abgerissenen Trillern und Laeufen das
grosse Lebens- und Liebeslied des Maien ein. Da wurde mir das Herz weit.
Unsere Siedelung war schoen, keine langweilige Linie in ihr, kein
Steinkoloss, keine Erinnerung an geschniegeltes, oedes Geputztsein, sondern
Heimatlichkeit, Waerme, Frieden.

"Wenn man das sieht", sagte die kleine Anneliese, "meint man, hier werden
immer nur gute Menschen wohnen koennen. Es ist alles rein und gut;
schlechten Leuten wuerde hier das Herz springen."

Ich war ihr dankbar und sagte:

"Aber es soll doch eine Zufluchtstaette werden fuer solche, die nicht
gluecklich sind, auch wenn sie durch eigene Schuld ungluecklich geworden
sind."

"Ich finde", sagte Eva Bunkert, "in dem Ganzen ist ungeheuer viel
Kindliches."

"Das ist ein hohes Lob, mein Fraeulein, was Sie da sprechen", meinte Mister
Brown; "Genialitaet ist nie etwas anderes als das Urspruengliche, das
Kindhafte. Sie glauben gar nicht, wie kindlich unsere guten amerikanischen
Humoristen sind. Ganz im Ernst! Sehen Sie deren Tier- und Kinderbilder an,
es ist alles geschaut mit den abgeklaerten Augen des ernsten Mannes und
alles gefuehlt mit dem Herzen des kleinen Buben."

"Stefenson ist ein Genie", sagte Eva Bunkert warm.

"Das will ich nicht sagen", entgegnete Brown, "er ist nur das Werkzeug;
der Schoepfer der ganzen Idee ist, wenn ich recht unterrichtet bin, der
Herr Doktor, der mit uns auf dieser Bank sitzt."

Ich wehrte das Lob ab, und Eva Bunkert sagte:

"Wohl, der Doktor hatte die Idee, hatte den Traum in der Seele, aber
Stefenson hatte den Mut, den Traum in Wirklichkeit zu verwandeln. Ich
moechte sagen, der Doktor hat ein schoenes Motiv in die Welt gesungen, und
Stefenson hat ein herrliches Lied daraus geschaffen."

"Sie sprechen sehr gut und lieb von meinem Landsmann", sagte Mister Brown
geruehrt.

"Oh", rief Eva Bunkert, "ich schwaerme fuer Stefenson. Es hat mir noch nie
ein Mann solchen Eindruck gemacht wie er, obwohl er der Konkurrent meines
Vaters ist. Erst recht deshalb! Ich mag die Leute nicht leiden, die sich
nur fuer die Freunde und Goenner ihrer eigenen Sippschaft begeistern
koennen."

Da wurde auch die kleine Braune munter.

"Ja", seufzte sie, "es ist schade, dass Mister Stefenson verheiratet ist!
Er waere der erste, der bei der stolzen Eva Bunkert wirklich Glueck haette!"

"Du Plappermaul!" zuernte Eva, reckte aber den Kopf hoch. "Nun, ich leugne
es nicht: der Mann gefaellt mir. Weil er eben ein so ganzer Mann ist. Vom
Heiratenwollen aber ist gar keine Rede."

"Er waere keine schlechte Partie", meinte ich.

"Eben deshalb!" sagte Eva trotzig. "Ich will mal keine gute Partie, ich
will einen Mann heiraten!"

"Ich wusste gar nicht, dass Stefenson verheiratet ist", warf Mister Brown
ein.

"Wie? Und Sie wollen ihn so genau kennen?"

"Oh - ich als anstaendiger Journalist kuemmere mich um das, was Stefenson
fuer das Land und die Welt bedeutet, nicht um seine Privatverhaeltnisse. Ich
habe nie gehoert, dass Stefenson verheiratet sei. Es ist mir auch ganz
gleichgueltig."

"Der Herr Doktor hat es uns gesagt", erwiderte das Maedchen.

Da grunzte Mister Brown so tief und absonderlich, dass ich erschrocken
aufschaute und ihn ansah. Und ich blickte - in Stefensons Augen. So klar,
in so deutlichem Zorn blitzten diese Augen mich an, wie ich sie von
hundert Gelegenheiten her kannte, wenn dem jaehzornigen Manne die Galle
ueberlief, was oft genug geschah.

Ein wuester Verdacht erwachte in mir. Dieser Mister Brown war gar kein
amerikanischer Journalist, es war Stefenson selbst, der uns in einer
vorzueglichen Maske getaeuscht hatte. Noch einmal blickte ich ihn an; ich
sah wieder in ein fremdes Gesicht. Aber ich wurde den Verdacht nicht mehr
los. Jedenfalls, alter Freund, so dachte ich, bist du es wirklich, so
entlarve ich dich; bilde dir nicht ein, mit einem bisschen
Detektivschlauheit deutsche Gimpel zu fangen.

Ich fing an, auf Stefenson zu schimpfen.

"Der Mann mag seine Vorzuege haben", sagte ich, "aber wo viel Licht ist,
ist auch viel Schatten. So ist Stefenson - ich sage das ruhig, obwohl er
mein Freund ist - ungeheuer eitel!"

"Das ist kein Schade", fiel Eva ein; "viele grosse Maenner sind eitel: viele
Staatsmaenner, viele Geistliche, alle Dichter - selbst solche, denen man es
gar nicht zutraute, wie Kriegsleute, Flieger, Polizisten, sind eitel. Was
heisst ueberhaupt eitel sein? Wer umzirkelt den Begriff? Auf sich halten,
auch in kleinen Aeusserlichkeiten nicht verpowern, ist eine gesunde
Eitelkeit. Eine andere kann Mister Stefenson gar nicht haben."

Da lachte Mister Brown.

"Oh!" sagte er, "was das anlangt, so ist Stefenson so eitel, dass er, wenn
er sich im Rasierspiegel sieht, erst immer seinem schoenen Bild eine kleine
Verneigung macht, ehe er sich einseift."

"Ich denke, Sie kuemmern sich nicht um Herrn Stefensons Privatleben", rief
Eva veraergert.

"Gewiss nicht", sagte der Journalist, "aber manches fliegt einem halt so
zu. Wenn es Spass macht: ich kenne noch ganz andere Schwaechen Ihres
Geschaeftsfreundes."

"Danke!" wehrte Eva ab, "es macht gar keinen Spass!"

Ich dankte auch. Wenn dieser Mann wirklich Stefenson war, so war es das
Duemmste, auf Stefenson zu schimpfen; denn er wuerde dann noch weit heftiger
auf sich selbst schimpfen. Das musste ich doch von seinen Artikeln her
wissen. Auf solche Weise konnte ich dem alten Fuchs den Bart sicher nicht
scheren.

Da kam mir eine Bemerkung von Anneliese zu Hilfe.

"Damals hatte doch Herr Stefenson seine Tochter mit sich. Hiess sie nicht
Luise?"

Ich jubelte innerlich, und die Schlechtigkeit, einem Menschen aus einer
seiner edlen Eigenschaften heraus eine Falle zu stellen, kam mir gar nicht
zum Bewusstsein. Ja, ich beging eine neue Schlechtigkeit, ich schwindelte.
So stark war das Verlangen, diesen Journalisten, wenn er wirklich
Stefenson war, als Stefenson zu entlarven.

"Allerdings", entgegnete ich meiner Nachbarin, "Stefensons Tochter heisst
Luise. Das Kind haengt sehr am Vater und er an ihr. Er wollte sie durchaus
mit auf die Reise nehmen, aber das gaben wir anderen nicht zu. Und es war
auch sehr gut; denn das Kind ist nicht wohl."

"Wieso nicht wohl?" fragte Mister Brown, und das in einer solch
erschreckten Weise, dass ich jetzt meiner Sache voellig sicher war.

"Ah, so - so ...", entgegnete ich gleichmuetig, "bei Kindern findet sich
leicht mal etwas; das ist nicht so tragisch zu nehmen."

"Ich finde", sagte Mister Brown scharf, "wenn ein Mann, wie Stefenson, ein
einziges Kind hat, ist es Pflicht, ihm sofort telegraphisch Mitteilung zu
machen, wenn dieses Kind ernstlich erkrankt."

"Von ernstlicher Erkrankung habe ich nicht gesprochen", entgegnete ich
ruhig, und diese Bemerkung war auch sehr angebracht; denn im selben
Augenblick stuermte die kleine Luise mit zwei Bauernbengeln unter grossem
Hallo aus dem nahen Walde. Das Maedel hat sich bei uns inzwischen voellig
eingerichtet, und von Schuechternheit ist gar keine Rede mehr. Jetzt kam
sie auf mich zugestuermt.

"Ach, Onkel - ich wusste gar nicht, dass du hier oben bist. Wir spielen
gerade Haschen."

Anneliese liebkoste das Kind, und Eva Bunkert kniff es in die Wangen, dass
es quiekte. Aufmerksam betrachtete Eva die Zuege Luisens.

"Von ihrem Vater hat sie gar nichts", sagte sie, "sie muss ganz nach der
Mutter sein."

"Im Gegenteil", entgegnete ich, "das Kind ist das ganze Abbild des
Vaters."

"Dann habe ich auf ihn vergessen", sagte Eva mit fast trauriger Stimme.

Mister Brown atmete schwer. Ein so schwefelgelb giftiger Blick schoss um
den Buchenstamm herum auf mich zu, dass ich meiner Sache immer gewisser
wurde. Und was hatte dieser Journalist gesagt? Er habe es sehr eilig, nur
eine Viertelstunde Zeit zum Besuch. Jetzt war er schon ueber zwei Stunden
da, und es wurde Abend. Wahrscheinlich wuerde dieser "Mister Brown"
ploetzlich entdecken, dass er Zeit habe, einen ganzen Monat bei uns zu
verweilen. Nun wandte er sich Luise zu. Aber es kam nicht so, wie ich
dachte. Mister Brown legte ohne jede waermere Gefuehlsbewegung dem Kinde die
Hand auf den Kopf und sagte mit der ueblichen Kinderfreundlichkeit:

"Luise, ich kenne deinen Papa. Ich fahre wieder zu ihm, ich werde ihm von
dir erzaehlen. Bist du sehr krank gewesen?"

"Pappa soll bald wiederkommen", antwortete die Kleine.

"Ja, ja! Aber ich frage, ob du sehr krank gewesen bist?"

"Wieso? Ich bin nie krank!"

"Aber hast wohl muessen im Bettchen liegen oder im Zimmer bleiben?"

"Nein, ich bin alle Tage draussen herumgerannt; ich war gar nicht eine
einzige Stunde krank."

"Hm!"

Mister Brown grunzte voll Behagens, und ich fuehlte mich in der Rolle des
blamierten Europaeers nicht recht wohl. So mahnte ich zum Aufbruch. Die
Maedchen schlenderten mit dem Kinde voraus, und ich folgte mit Mister Brown
in einiger Entfernung. Jetzt wollte ich dem Fuchs an den Kragen.

"Ich finde eine merkwuerdige Aehnlichkeit zwischen Ihnen, Mister Brown, und
meinem Freunde Stefenson. Sie haben dieselben Augen, dieselbe Nase,
dasselbe Kinn und dieselbe Sprache, ja sogar dieselbe Art, sich zu
raeuspern. Ist das nicht merkwuerdig?"

"Sehr merkwuerdig!" entgegnete Brown. "Ein Schnorrer drueben hat mir mal
gesagt, ich saehe Kaiser Wilhelm aehnlich. Dem habe ich es noch halb und
halb geglaubt und ihm fuenf Prozent dessen geschenkt, um was er mich
anpumpen wollte, aber eine Aehnlichkeit zwischen mir und Stefenson hat noch
niemand herausgefunden. Ich bin Ihnen uebrigens fuer die gute Absicht, mir
etwas Angenehmes sagen zu wollen, sehr verbunden."

Er schaute mich an, und ich blickte in ein stockfremdes Gesicht. Auch
glaubte ich trotz des Abenddaemmerns genau feststellen zu koennen, dass
dieser Bart nicht angeklebt, dass diese Haare keine Peruecke seien. So wurde
ich an meiner Entdeckung irre, und da ich einen zweiten Hineinfall nicht
erleben wollte, sagte ich: "Gott, man kann sich taeuschen!" Da blieb er
stehen, sah mich an und sagte:

"Sie haben mich wohl gar fuer Stefenson selbst gehalten, der Ihnen in einer
Ferienmaske was vormimt? Dem alten Knaben waere ein solcher Streich
zuzumuten, he?"

"Aber nein - aber nein! So aehnlich sind Sie ihm nun doch nicht."

"Nun, moeglich ist alles auf der Welt. Hauptsaechlich bei Ferien vom Ich!"
sagte Brown vergnuegt.

Und er lachte. Es war ein fremdes Lachen.

Unterwegs begegnete uns ein Telegraphenbote. Er ueberreichte mir ein
Kabeltelegramm, das aus Milwaukee kam und lautete:

"Verbindung mit X-Bankverein geloest; weitere Zahlungen durch Dresdner
Bank. Stefenson."

Die Verhandlungen, von dem Bankverein, mit dem wir bis jetzt gearbeitet
hatten, zur Dresdner Bank ueberzugehen, schwebten schon einige Zeit, und
dieses Telegramm belehrte mich nun, dass Stefenson in Milwaukee und nicht
in Waltersburg war. Meine Phantasie hatte mir wieder einmal einen Streich
gespielt ...

Waehrend ich den Telegraphenboten abfertigte und das Telegramm las, war
Mister Brown den Maedchen nachgegangen, hatte die kleine Luise an den
Haenden gefasst und tanzte mit ihr "Ringel-Ringel-Reihen". Die lange
Schlottergestalt nahm sich dabei merkwuerdig genug aus, das Kind jauchzte,
kam fast ausser Atem, schlug zum Schluss entzueckt in die Haendchen und sagte:

"Er tanzt genau so schoen wie Pappa!"

"Alle Amerikaner tanzen so schoen, mein Maeuschen", sagte Brown und kuesste
das Kind auf die Stirn. Dann zog er die Uhr und sagte:

"Der Zug, mit dem ich zurueckfahren wollte, ist ja nun laengst fort. Sie
waren so liebenswuerdig, mich sehr lange dazubehalten. Den naechsten Zug
aber darf ich nicht versaeumen. Ich muss morgen in Berlin und uebermorgen in
Hamburg sein. Mein diesmaliges europaeisches Gastspiel ist aus."

"Sie haben nur den kleinsten Teil unserer Siedelung gesehen, Mister
Brown."

"Oh - ich habe genug gesehen. Den Geist - den Kern! Ich bitte Sie, mir
Ihren ausfuehrlichen Prospekt mitzugeben. Daraus werde ich mich
informieren, und Sie werden sehen, dass ich am treffendsten das kritisieren
werde, was ich nicht gesehen habe."

Am Rathausplatz trennte er sich von uns. Ein Angestellter geleitete ihn
zur Pforte, wo sein Wagen hielt. Eva Bunkert sah ihm lange nach.

"Es ist merkwuerdig", sagte sie; "er hat mich ungeheuer an Stefenson
erinnert."

"O nein", meinte die kleine harmlose Anneliese, "Mister Stefenson ist doch
ganz anders, viel juenger und auch viel huebscher."

"Trotzdem! Was meinen Sie, Doktor?"

Ich zuckte die Achseln.

"Die Amerikaner haben alle dieselbe Art, sich zu geben."

"Das trifft es nicht", sagte Eva nachdenklich. Und auch ich geriet wieder
ins Gruebeln.

"Ich glaube, es ist immer etwas unheimlich, wenn man nicht weiss, mit wem
man spricht. Aber das wird ja in Ihrem Heim immer so sein, die Leute
werden nie wissen, mit wem sie sprechen. Werden sie da nicht vorsichtig,
aengstlich, unsicher werden?"

"Gewiss nicht. Gesetzt den Fall, dieser Mister Brown sei der verkappte
Mister Stefenson gewesen, wie es ja tatsaechlich den Anschein hatte ..."

"Um Gottes willen, Sie glauben das doch nicht etwa?" rief Eva erschreckt.
"Und ich haette dann so - so - von Stefenson gesprochen ..."

"Aber nein! Stefenson ist in Milwaukee. Hier ist ein Telegramm, das er
heute frueh dort an mich aufgab."

"Gott sei Dank!"

"Ich wollte nur unsere Idee des Unerkanntseins in unserem Ferienheim
verteidigen. Sehen Sie, wenn Mister Brown der maskierte Stefenson gewesen
waere, waere die Partie unehrlich gewesen. Wir haetten ihn nicht erkannt,
wohl aber er uns. In unserem Heim wird das ganz anders sein. Keiner wird
den andern kennen. Da wird keine Befangenheit, keine Aengstlichkeit,
sondern ein Mut zur Offenherzigkeit sein, der unerhoert ist in der Welt.
Die Menschen werden Wahrheiten hoeren, die sie niemals vernaehmen, wenn sie
ihren Namen und Stand sagten, sie werden aber auch ihre Meinung sagen
duerfen in einer Weise, die niemals moeglich waere, wenn sie ihre wirkliche
Persoenlichkeit dafuer einsetzen muessten."

"Ach ja", seufzte Eva Bunkert, "die groebsten und ruecksichtslosesten
Rezensenten sind die anonymen oder pseudonymen."

"Der Friede dieses Ortes wird alle Schaerfe mildern, wird aus der
Ruecksichtslosigkeit wohltuende Offenheit, aus aetzender Grobheit klare
Wahrheit werden lassen."

"Sie meinen es gut mit den Menschen", sagte geruehrt die kleine Anneliese
und sah mich mit ihren grossen, braunen Augen dankbar an.

Ich aber - ich weiss nicht warum - schaute nach der schoenen Blonden hin.
Ich glaube, ich erwartete eine neue Bemerkung von ihr. Aber sie schwieg.

Die Maedchen blieben im Forellenhofe.

Ich habe vor Monatsfrist im Rathaus Quartier bezogen. Lange schaute ich
auf den Lindenplatz hinab. Der Mondschein spielte um den alten Baum. Ich
dachte an vielerlei, viel an Eva Bunkert, aber noch mehr gruebelte ich ueber
der Frage: War er's? War er's nicht?

Am uebernaechsten Morgen erhielt ich zwei Briefe, die ganz dieselbe
Handschrift aufwiesen. Der eine Brief war von Stefenson und kam aus
Milwaukee; er enthielt allerhand geschaeftliche Weisungen sowie die
Mitteilung, dass er, Stefenson, wahrscheinlich erst im Sommer nach Europa
zurueckkehren koenne. Der andere Brief war von Mister Brown, trug den
Poststempel Hamburg und meldete, dass der Journalist im Begriff stehe, nach
Amerika zurueckzukehren, sich noch einmal fuer die freundliche Aufnahme
bedanke und inzwischen unseren Prospekt mit Interesse gelesen habe.

Ich verglich die beiden Briefe wieder und wieder. Die Schriftzeichen
glichen sich ausserordentlich. Haette man je einen der grossen geschwungenen
Buchstaben aus den Briefen ausgeschnitten, man haette eine Kongruenz
feststellen koennen.

Da sagte ich, der Erfinder der Idee von den Ferien vom Ich, zu mir selbst:

"Ach, es ist doch gut, wenn man weiss, mit wem man es zu tun hat!"





                           DIE ERSTEN KURGAeSTE


Am 1. Mai ist unsere Heilanstalt eroeffnet worden. Die Feier war schlicht.
Lehrer Herder hatte es sich nicht nehmen lassen, wieder ein Melodram zu
dichten, zu komponieren und zu inszenieren. Das Publikum bestand aus
Waltersburgern, unseren Bauern, deren Dienstleuten, unserem Personal und
fuenfzehn Kurgaesten. Von diesen fuenfzehn Kurgaesten geniessen zehn Freikur,
und von diesen zehn sind sieben Schauspieler ohne Sommerengagement.
Stefenson sandte ein laengeres Glueckwunschtelegramm aus St. Louis.

Fuenfzehn Kurgaeste! Das war ein magerer Anfang nach der starken Reklame,
die wir gemacht hatten. Ich telegraphierte das klaegliche Ergebnis nach
Amerika und erhielt von Stefenson die Antwort: "Hatte ich mir gedacht!"

Wir beschlossen, die Leute nicht einzeln ueber die Hoefe zu verstreuen,
sondern einen Teil in den Forellenhof, einen anderen in die Waldschoelzerei
zu geben. Die Schauspieler aber schwaermten nicht fuer Feld- und Waldarbeit;
sie wuenschten mehr dekorative Posten. Fuenf von den sieben wollten
Nachtwaechter sein, einer bot sich als Hilfsbrieftraeger an, wobei seine
Taetigkeit gleich Null gewesen waere, und einer sagte mit mildem
Augenaufschlag, er koenne sich nur als Krankenpfleger gluecklich fuehlen. Wir
hatten aber keine Kranken.

Da stellte der Bauer Emil Barthel vom Forellenhof neben dem Grossknecht,
den er bereits hatte, dem "langen Ignaz", noch einen zweiten Knecht ein
und sagte zu mir: "Ich hab es Ihn'n gesagt, Herr Doktor, de Stadtleute
sein olle faule Luder. Mit den is nischt anzufangen."

"Geduld, Barthel, Geduld!"

Der Anfang war wirklich klaeglich. Zwar sang Egin Harold, der als
Nachtwaechter bestellt worden (und der in seinem Privatberuf Opernsaenger
war), das

  "Hoert, ihr Herr'n, und lasst euch sagen,
  Die Uhr hat eben zehn geschlagen!"

mit tremolierender Empfindsamkeit; aber um Mitternacht sang er noch viel
empfindsamer vor dem Hofe des Sonnenbauern, der eine huebsche blonde Magd
hatte: "Gute Nacht, du mein herziges Kindl", um 1 Uhr droben am Hange:
"Ihr lichten Sterne habt gebracht so manchem Herzen schon hienieden ...";
um 2 Uhr: "Steh ich in finstrer Mitternacht", und von 3 Uhr an:
"Morgenlicht leuchtend im rosigen Schein ..."

Die benachbarten Hofhunde wurden ob dieser Gesaenge so tief ergriffen, dass
sie alle mitsangen, und alsbald lag auf dem Rathaus eine Beschwerde ueber
den Nachtwaechter wegen naechtlicher Ruhestoerung. Als nun Egin Harold von
dem unmusikalischen Sonnenhofbauern noch gar angedroht bekam, er werde den
Hofhund loslassen, wenn der Waechter sein Gesinge vor dem Kammerfenster der
Magd nicht einstelle, quittierte der beleidigte Kuenstler seinen Posten und
uebergab die Abzeichen seiner Wuerde an seinen Berufsgenossen, den Bassisten
Hagen Korrundt, wobei er mit einiger Abaenderung des Lohengrintextes sang:

  "Den Spiess, dies Horn, den Pelz will ich dir geben.
  Das Horn soll in Gefahr dir Hilfe schenken,
  Der Spiess im wilden Kampf dir Mut verleiht,
  Doch in dem Pelze sollst du mein gedenken,
  Der jetzt auch dich aus Schmach und Not befreit."

Die "Schmach und Not", aus der Hagen Korrundt befreit wurde, bestand
darin, dass er, der ein starker Mann war, ein paar Stunden am Tag dem
Waldschoelzer hatte helfen muessen, Baeume zu faellen. Jetzt war er als
Nachtwaechter vom Tagesdienst befreit. Abends um zehn Uhr bestieg Hagen
einen grossen Granitblock, den er den "Fafnerstein" getauft hatte, stand
malerisch dort oben in seinem wilden Zottelpelz mit seinem langen Spiesse
und seinem funkelnden Horn, sang mit droehnendem Bass die Stunde, kletterte
dann vom Fafnerstein wieder herab und ging schlafen.

Die Kur bekam Herrn Hagen Korrundt sehr gut. Er erzaehlte mir in der
Sprechstunde, dass er frueher an einem chronischen Hungergefuehl, das
wahrscheinlich auf nervoeser Grundlage beruhte, gelitten habe. Seit er aber
bei uns sei, sei er aller Beschwerden ledig. Als ich daraufhin der Koechin
in der Waldschoelzerei ein Lob erteilte, sagte das Weiblein nur zwei Worte:

"Er frisst!" -

Es ist ein Schauspieler da, der mit seinem wirklichen Namen Eduard
Kaesenapf heisst. Als Kuenstler nennt er sich Guido Janello, bei uns aber, da
er doch nicht erkannt sein darf, Knut Waterstream.

Dieser Knut Waterstream ist duenner als ein Regengerinnsel. Ich schickte
ihn zur Arbeit in die Gaertnerei. Einiges erzaehlte mir der Gaertner, einiges
beobachtete ich selbst, wie Knut arbeitete. Er sollte duerres Laub
zusammenrechen und fluesterte den braunen Blaettern zu:

  "So wie ein Blatt vom Wipfel faellt,
  So geht ein Leben aus der Welt,
  Die Voegel singen weiter!"

Stuetzte sich auf den Rechenstiel und stand eine Viertelstunde lang in
melancholischer Betrachtung ueber die Verwelkbarkeit des Laubes und anderer
irdischer Dinge. Darauf uebergab er dem Gaertner den Rechen und sagte:

"Tun _Sie_ dieses Totengraebergeschaeft; ich vermag es nicht!"

Ein andermal sollte Knut ein Beet ausjaeten. Er ging siebenmal mit duesterem
Antlitz um das Beet herum, spreizte dann alle zehn Finger ueber dies neue
verruchte Arbeitsfeld und deklamierte:

  "Giftiges Kraut, gesaeet mitten unter den Weizen,
  O du teuflische Saat, wie bist du vom Feinde gestreut!
  Satanas hat sich dein Korn in hoellischen Scheuern gestapelt,
  Hat mit beklaueten Fingern diese Aussaat verrichtet,
  Dass du nun wucherst und waechst; dem gueldenen Weizen zum Schaden,
  Dass du die Sonne ihm stiehlst, den naechtlichen Tau der Gestirne.
  Weiche, du teuflische Brut, verkrieche dich tief in den Boden,
  Krieche zur Hoelle zurueck, zum Satan, von dem du gekommen,
  Nie mehr soll dich erblicken mein schwer beleidigtes Auge,
  Einzig soll es sich freuen am goldenen Schimmer des Weizens!"

Daraufhin hat der Gaertner Herrn Knut Waterstream belehrt, dass das, was er
als Weizen anspreche, in Wirklichkeit junger Kopfsalat sei und dass sich
gegen das Unkraut mit Beschwoerungen nichts ausrichten lasse. Man muesse das
Zeug Stueck fuer Stueck mit der Wurzel aus der Erde herausziehen; anders gehe
es nicht.

"Lieber Freund", hat da Knut Waterstream mit melancholischer Stimme
erwidert, "wir verstehen uns nicht!"

Dann ist er gesenkten Hauptes nach Hause gegangen.

                                    *

Es soll der Saenger mit dem Koenig gehen. Saenger hatten wir von Anfang an
genug; am 10. Mai kam der Koenig an. Ein wirklicher Koenig war es zwar
nicht, aber immerhin der Bruder eines regierenden Fuersten, eine Hoheit. Um
diese Zeit versandte unser Propagandachef, Herr Levisohn, folgende Notiz
an dreihundert Zeitungen:

"Der Andrang nach der Kuranstalt 'Ferien vom Ich' zu Waltersburg, der
besten und originellsten Heilstaette der Welt, ist enorm. Die ermuedete
Intelligenz fluechtet in unseren Frieden; die heimatlosen Kinder der Welt
kommen auf ein Weilchen zurueck ins gruenbelaubte Mutterhaus der Natur.
Kuenstler von Weltruf, Mitglieder europaeischer Regentenhaeuser sind bei uns
eingekehrt. Wie romantisch, wenn ein Heldentenor, der vergoetterte Liebling
allen Volkes, bei uns als schlichter Nachtwachtmann mit funkelndem Speer
und silbernem Horn durch die im Sternenschein liegenden Gassen schreitet,
die Stunden singend, wie es in alten Tagen geschah, oder wenn er einer
heimlich geliebten schlummernden Dame sein Troubadourlied singt; wie
ruehrend, wenn ein gefeierter Schauspieler voll Lust und mit nie ermuedender
Emsigkeit seine Gaertnerarbeit verrichtet; wie ergreifend, wenn der
Allerhoechstgeborene Herr, dessen Wink das ganze Land gehorcht, auf dessen
Stimmungen die Welt achtet, im demuetigen Bauernkleide, von niemand
erkannt, seiner laendlichen Taetigkeit nachgeht! Wahrlich, die Kuranstalt
'Ferien vom Ich' ist ein Triumph der Menschheit, ist der Sieg ueber das
Unglueck, ist ein Paradies auf Erden!"

Als ich diesen Erguss in den Zeitungen las, wusste ich: auch unser Levisohn
war ein Dichter. Einer von bluehender Phantasie.

Hoheit kam zu mir und fragte:

"Sagen Sie mal, Doktor, ist denn unter den paar Maennchen, die hier bei
Ihnen 'rumkrauchen, etwa der Koenig von England oder von Italien drunter?"

"Gewiss nicht, Hoheit."

"Ja, wer ist denn da mit dem Allerhoechstgeborenen Herrn gemeint, auf
dessen Stimmungen die Welt achtet?"

"Ew. Hoheit selbst."

Hoheit prusteten los und kriegten einen Hustenanfall. Nachher sagten
Hoheit:

"Verfluchter Kerl, der Levisohn; er macht was aus einem!" -

Der Erfolg der Levisohnschen Reklamenotiz war riesenhaft. Es wurden
achtzigtausend Prospekte von uns eingefordert, und es meldeten sich ueber
dreitausend Kurgaeste an. Ob der nachtwaechternde Heldentenor oder der
ackerbauende Fuerst die groessere Anziehung ausuebte, war nicht zu
entscheiden. Flugs erschien in Hunderten von Zeitungen folgende Notiz:

"Kuranstalt 'Ferien vom Ich', Waltersburg. In einer Woche 83 000 Menschen,
die an die Pforten unseres Heims anklopften!!! Auf absehbare Zeit koennen
wir trotz unserer riesigen Anlagen neue Gaeste nicht aufnehmen, da jeder
unserer Feriengaeste ganz individuell behandelt werden muss. Vornotierungen
aber zulaessig."

Diese hochmuetige Kuerze tat noch groessere Wunder. Unser Buero konnte die
Berge von Zuschriften nicht im geringsten mehr bewaeltigen. Ich
telegraphierte unsere fabelhaften Erfolge nach Amerika. Und wieder traf
die Antwort ein: "Hatte ich mir gedacht!"

                                    *

Hoheit ist ein recht liebenswuerdiger Kurgast. Hoheit ist ueberhaupt einer,
der seiner zu grossen Nachsicht gegen sich selbst die Erschlaffung seiner
Nerven verdankt. Wir Aerzte druecken das hoeflich aus: Er hat zu konzentriert
gelebt. Es ist schoen, dass wir unsere fachmaennischen Ausdrucksformen haben;
denn es wuerde sich stilistisch nicht gut ausnehmen, wenn man sagte: Hoheit
ist vielleicht eine ganz gute Haut, aber ein bisschen Schweinekerl und
Liederjan!

Also, Hoheit haben zu konzentriert gelebt und sind vielleicht nur zu uns
gekommen, weil sie hier ein Feld fuer originelle Extravaganzen wittert.
Rares wittert. Alles andere liegt hinter diesem Mann, schwere
Familienratsbeschluesse, unfreiwillige Reise um die Erde, zeitweilige
Verwendung in den Kolonien, Aussoehnung mit dem Familienchef, abermaliges
Fallen in Ungnade, morganatische Ehe, Scheidung, Schulden,
Zeitungsskandale und was so zum Bilde des tollen Prinzen gehoert.

Drei Tage hat Hoheit in der Besinnungseinsiedelei zugebracht und mir einen
Lebensbericht eingereicht, ueber dem mir die Haare zu Berge gestanden
haben, obwohl ich als Arzt und Weltumsegler ja gerade nicht unerfahren und
pruede bin. Am Schluss stand: er habe sich eigentlich erschiessen wollen,
aber er koenne ja noch mal diese "neue Chose" probieren, ob ihm noch ein
bisschen Geschmack am Leben beizubringen sei. Das Leben komme ihm so eklig
und wertlos vor wie ein alter schmutziger Kupferdreier, fuer den man keine
Zwiebel mehr zu kaufen kriegt. Er gebe sich ganz in meine Hand, wolle alle
Arbeit tun und bitte, mit ihm recht rauh zu verfahren; es sei ihm immer am
wohlsten gewesen, wenn ihm gelegentlich mal sein hoher Bruder, Landesherr
und Familienoberhaupt, ein paar Ohrfeigen angeboten habe. Dann habe er auf
Sekunden das Gefuehl gehabt, dass er und sein Leben noch ernst genommen
werden koennen. Heissen wolle er Max Piesecke. -

"Also, lieber Piesecke", sagte ich in der Sprechstunde zu ihm; "dass Sie
ein grosser Lumpenkerl sind, wissen Sie und brauche ich Ihnen nicht erst zu
sagen. Hoechstwahrscheinlich laesst sich mit Ihnen nichts mehr anfangen.
Erschiessen werden Sie sich nicht, dazu fehlt Ihnen die Courage. Aber
miserabel zugrunde gehen werden Sie! Es wird weh tun, Piesecke; Sie werden
die Waende auskratzen, ehe Sie hin sind! Aber, Piesecke, sehen Sie - ich
glaube, ungefaellig sind Sie nicht. Sie haben auch noch Sinn fuer Humor.
Nun, Piesecke, es waere doch ein kolossaler Witz, wenn aus Ihnen noch mal
ein brauchbarer Kerl wuerde! He? Sie muessen selbst darueber lachen! Und fuer
mich waere es gut - wegen Ihrer Familie. Also versuchen wir's halt.
Gelingt's, freue ich mich; gelingt's nicht, schmeisse ich Sie 'raus!"

"Wahrscheinlich werden Sie mich 'rausschmeissen!" sagte Piesecke
nachdenklich.

"Sie sind ein schlechter Pessimist, Piesecke! Sehen Sie, wenn Sie ein
bisschen Philosophie im Leibe haetten, muessten sie wissen: es gibt keinen
grimmigeren Spass, als ein Pessimist zu sein und ueber den Pessimismus zu
lachen!"

"Wie? Bitte, schreiben Sie mir den Satz auf!"

"Gern!"

Ich schrieb den Satz auf einen Zettel, uebergab ihn Piesecke und sagte:

"Stecken Sie sich dieses Wertpapier in Ihre Jackentasche und verlieren Sie
es nicht! Und nun werde ich Ihnen noch etwas sagen, Piesecke! Sie werden
hoechstwahrscheinlich nach acht Tagen bei uns ausreissen wollen. Sie sind
gar nicht imstande, bei uns zu bleiben und das Gesundungsleben
durchzufuehren. Dazu fehlt Ihnen die Willenskraft. Und um nicht
unnuetzerweise acht Tage lang meine Zeit mit Ihnen zu vergeuden, werden wir
einen notariell aufgenommenen Kontrakt machen. Er wird kurz sein und
lauten:

Falls ich nicht ein Jahr lang im Waltersburger Kurheim 'Ferien vom Ich'
aushalte oder mich den Anordnungen des dirigierenden Arztes nicht fuege,
zahle ich eine Million Mark Reugeld."

"Was?" schrie Max Piesecke. "Wenn ich so etwas tue und mein Bruder erfaehrt
es, schlaegt er mich tot!"

"Schoen! Dann habe ich nicht mehr noetig, Sie zu kurieren."

Piesecke sank in sich zusammen.

"Ich bin immer Erpressern in die Haende gefallen", jammerte er.

"Morgen nachmittag 41/2 Uhr wird der Notar hier sein", entgegnete ich ruhig;
"Sie werden dann entweder das von mir aufgesetzte Abkommen unterzeichnen
oder Ihrer Wege gehen."

"Ferien vom Ich!" stoehnte Piesecke; "ich habe gar keinen Willen mehr."

Am naechsten Tage, um 4,35 Uhr, unterschrieb vor dem Notar, meinem
Vertrauten, Max Piesecke das von mir gewuenschte Abkommen mit seinem
hochfuerstlichen Namen.

"Nun passen Sie mal auf, Piesecke", sagte ich, "jetzt wird noch was aus
Ihnen!"

         -------------------------------------------------------

All unsere Hoefe sind mit Kurgaesten besetzt. Wir haben so viel Anmeldungen,
dass wir die Wahl haetten, wen wir aufnehmen wollen, aber wir gehen der
Reihenfolge der Anmeldungen nach. Ich habe von frueh bis spaet Arbeit,
obwohl unser Aerztekollegium immer groesser wird. Es lastet zuviel
Geschaeftliches auf mir. Das drueckt auf die Seele; denn ich bin kein
Kaufmann. Was tut mir doch dieser Stefenson an, dass er gerade jetzt, wo er
hier am noetigsten waere, in Amerika sitzenbleibt? Soviel ich auch schon an
ihn schrieb und telegraphierte, er kommt nicht zurueck. Immer die gleiche
Antwort: "Ich bin hier noch unabkoemmlich."

Unser Direktor - ein frueherer Offizier - ist zum Glueck ein tuechtiger Mann.
Es ist Schwung in seinen Gedanken, er hat Initiative und Spuersinn. Wie ein
guter Jagdhund ist er, er hat's in der Nase, wenn er ueber das weite
Gelaende unseres Arbeitsfeldes schnuppert, wo irgendwo in einer geheimen
Furche ein verborgener Erfolg aufzustoebern ist. Er ist aus dem Holz, aus
dem die guten Feldherren, Diplomaten, Kaufleute geschnitzt sind. Die
leitet alle ein unfassbarer Instinkt, eine Art sechster Sinn, den andere
Leute nicht haben.

Der Direktor heisst von Bruesen und wird wegen seines wuerdevollen Auftretens
von den Kurgaesten "der Herr Praesident", von den Angestellten aber "der
Direks" genannt. Oft habe ich bei seinen Massnahmen das Gefuehl: genau so
wuerde Stefenson gehandelt haben. Bruesen ist auch von Stefenson angestellt
worden. Mein Geschaeftsfreund hat den Offizier a. D. mal irgendwo
kennengelernt, sich mit ihm etwa zwei Stunden unterhalten, dabei - wie er
schrieb - gefunden, "dass sich dieser Mann zwei verschiedene Dinge auf
einmal vorstellen koenne, was nur sehr wenig Menschen vermoechten", dass er
ferner "zu klug sei, um die Alltagsklugheit zu haben", dass er nicht in den
Doppelsohlenstiefeln aengstlicher Vorsicht einherstampfe, in denen man von
hundert Schnellfuesslern ueberholt werde, und dass er von guter, zaeher
Geistesmuskulatur sei. So hat sich Stefenson die Adresse dieses Herrn
gemerkt und ihn fuer uns nun an den Tag gezogen.

Es ist ein Glueck, dass dieser Direktor da ist. Was taete ich ohne ihn? Einen
Entscheid faellt er fast nie sofort. Er will, wenn es sich um wichtigere
Angelegenheiten handelt, immer einen Tag oder doch einige Stunden
Bedenkzeit. Dann steht aber auch seine Meinung felsenfest. Und er
entscheidet immer so, wie ich annehmen moechte, dass Stefenson entschieden
haben wuerde, auch manchmal in Dingen, die viel Geld kosten, so waghalsig,
so wurstig, so ohne Skrupel, wie es eben nur ein reicher Mann kann, der so
fest steht, dass er weiss: ich kann nicht fallen, komme, was wolle. Ein
paarmal sah ich den Direktor scheu von der Seite an. War er etwa gar ...

Das war krasser Unfug. Dieser kleine Schwarzbart mit dem runden Baeuchlein
war bestimmt nicht der grosse, hagere Stefenson. Auch in dem Journalisten
Brown haette ich nichts anderes vermuten sollen als eben den Mister Brown.

Ich muss mich wahrhaftig erst in die Ausfuehrung meiner eigenen Idee von der
Unpersoenlichkeit meiner Kurgaeste gewoehnen. Es wird mir schwer, in dem
Nachtwaechter Korrundt nicht den Opernsaenger zu sehen, ja, es wird mir
sogar schwer, unsere verbummelte Hoheit mit Piesecke anzureden. Dabei ist
doch der Mann wirklich mehr Piesecke als Hoheit. Ich bekuemmere mich
absichtlich nicht um die Personalien der Kurgaeste, die ich nicht selbst
behandle, sehe keine unserer Geheimlisten ein, soweit ich es nicht als
leitender Arzt tun muss. So begegne ich Menschen auf unseren Wegen, sehe
Leute in unseren Gaerten und auf unseren Feldern arbeiten, von denen ich
nicht weiss, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen, von denen mir
nur bekannt ist, dass sie aus einer drueckenden Enge entflohen sind in das
Reich unserer gruenen Gesundheit.

Der Sekretaer, der unsere Statistik macht, sagte mir, dass neunzig Prozent
unserer Kurgaeste aus Grossstaedten kommen. Ich glaube das gern. Die
Grossstadt ist keine gute Mutter. Dazu sind ihre Arme und Haende zu steinern
hart, ist ihre Sprache zu laut und liebeleer, sind ihre Sinne zu
flunkerig, sind ihre Wuensche ohne Heimlichkeitssinn zu sehr auf den
Engrosramsch der Genuesse gerichtet, ist ihr Aufputz zu sehr abgespart den
wahren Beduerfnissen ihrer Kinder. Von den Palastraeumen ihrer Verwaltung
aus regiert diese Stiefmutter Grossstadt ihre Familie, die zum groessten Teil
in dumpfen Winkeln hockt und in engen Kammern schlaeft; in ihren glaenzenden
Parkanlagen duerfen barfuessige Jungen und zerlumpte Maedchen spazierengehen.
Wie die niedertraechtigste Amme, die ihren unruhigen Zoegling mit Schnaps
betaeubt, errichtet sie in all ihren Vorstaedten Destille neben Destille.
Und wenn die Kinder gar zuviel darben und zu murren beginnen, schenkt
ihnen diese "Mutter" Grossstadt einige Bonbons "oeffentlicher Fuersorge" oder
billiger Lustbarkeit, Bonbons, die nicht satt, stark und gesund machen
koennen, sondern nur den Magen ansaeuern und die Zaehne des Willens und
Charakters verderben.

Wann endlich wird die Menschheit des truegerischen Schimmers muede sein, in
Scharen ausziehen aus dem ungesunden Hause der Stiefmutter Grossstadt und
im grossen Ferien machen von diesem jammervollen Ich?

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Heut ist ein Unglueck passiert. Annelies von Grill und Eva Bunkert wollten
als Kurgaeste zu uns kommen und beim Forellenbauer wohnen. Der Bauer hatte
seinen Spazierwagen nach dem Bahnhof geschickt zur Abholung. Sein Knecht,
der lange Ignaz, spielte den Kutscher. Aber auch Piesecke fuhr mit. Hoheit
will sich in die Geheimnisse der Kunst einweihen lassen, ein Bauerngefaehrt
auf einem etwas holperigen Feldweg mit Geschick zu leiten. Auf dem
Rueckwege ist dann das Unheil geschehen. Piesecke hat kutschiert und gerade
dort, wo der Weg eine steile Boeschung hat, umgeworfen. Die Damen sind den
Abhang hinuntergekugelt, die beiden Kutscher desgleichen, und die scheu
gewordenen Pferde haben den umgekippten Wagen hinter sich hergeschleift
und greulich zugerichtet.

Von den vier abgepurzelten Personen hat sich der Knecht Ignaz zuerst
erhoben. Er hat sich erst die Glieder zurechtgeschlenkert, dann die
Wahlstatt ueberschaut und darauf zunaechst mal dem ungluecklichen Piesecke
ein paar ungeheure Ohrfeigen versetzt. Darauf ist Ignaz den Pferden
nachgerannt, hat sie zum Stehen gebracht, sich ueberzeugt, dass mit dem
Wagen nicht weiterzufahren sei, und ist dann zu den Damen zurueckgekehrt.
Annelies ist ausser dem Schreck nichts passiert, die schoene Eva hat sich
einen Fuss verstaucht. Ignaz hat die holde Blonde auf seinen kraeftigen
Buckel laden und nach Hause tragen wollen, doch das hat sie abgelehnt.
Piesecke hat nichts zu sagen gewusst als: "Pardon, pardon, es ist mir
dieses alles sehr fatal."

Schliesslich hat Eva dem Knechte befohlen, ein Pferd auszuspannen, sie
hinaufzuheben, und ist so halb lachend, halb weinend bei uns eingeritten.

Am selben Tage noch kam Hoheit zu mir, um wegen der erhaltenen Ohrfeigen
Beschwerde zu fuehren. Er sei - so sagte er - immerhin ein Kurgast, und
Ignaz sei ein gemieteter Knecht. Er muesse gegen solche Behandlung Protest
einlegen.

Ich aber sagte: "Piesecke, ich habe so viel Wichtiges zu tun, dass ich mich
wirklich nicht darum kuemmern kann, wenn sich mal zwei unserer Kutscher
pruegeln."

Darauf erhellte sich Pieseckes Gesicht, und er sagte: "Jawohl, ich sehe es
ein! Wenn ich mich koerperlich werde gekraeftigt haben, werde ich ihm die
Ohrfeigen zurueckgeben."

"Das muessen Sie", erwiderte ich; "das gebe ich Ihnen auf; das werde ich
Ihnen direkt in die Kurverordnung schreiben, lieber Piesecke!"





                               SOMMERABEND


Die Arbeit war getan; ich war frei. Eigentlich wollte ich ja hinauf zum
Hirtenhaus, aber ehe ich mich's versah, schlenderte ich doch wieder zum
Forellenbauer hinab. Ich redete mir ein, ich muesse mich um mein Sorgenkind
Piesecke bekuemmern, und so nebenbei koenne ich ja nach Eva fragen, deren
kranker Fuss allerdings von einem Kollegen behandelt wird. Das Maedchen sass
vor der Haustuer auf der gruengestrichenen Bank und putzte Gemuese. Sie heisst
hier einfach "Hanne". Einen Familiennamen fuehrt sie nicht, ebensowenig wie
Anneliese, die sich in "Baerbel" umgetauft hat.

Am Hoftor blieb ich stehen. Ein liebliches Bild! Abendsonne bestrahlte das
schoene Maedchen, eine weisse Taube sass auf der Rueckenlehne der Bank, ein
goldgefiederter Hahn blinzelte mit seinen Aeuglein zu dem Maedchen empor,
wartend, ob fuer ihn etwas abfalle. Dann kam der grosse Zottelhund, wedelte
mit seinem buschigen Schwanz den Hahn gutmuetig, aber bestimmt zur Seite,
nahm dessen Platz ein und sass in stummer Bewunderung vor der schoenen Frau.

Und noch ein anderer schaute verliebt zu dem Maedchen hin, das war
Piesecke, der an der Stalltuer lehnte und eine Sense in der Hand hielt. Oh,
den armen Piesecke scheint es ganz arg erwischt zu haben. Er verdrehte die
Augen und seufzte einmal so laut, dass man es ueber den Hof hinweg hoerte.
Ich aergerte mich ueber den Menschen.

Gleich wurde mir eine Genugtuung. Eine derbe Faust kam aus der Stalltuer
heraus, gab dem traeumenden Piesecke einen Stoss in den Ruecken, dass er samt
seiner Sense in den Hof taumelte, und eine rauhe Stimme rief:

"Schlaf nicht, du Doeskopp! Mach, dass du aufs Kleefeld kommst!"

Die schoene Hanne blickte auf und lachte, Piesecke geriet in Wut, fuchtelte
mit seiner Sense ein wenig vor der inzwischen geschlossenen Stalltuer herum
und ging dann niedergeschlagen ueber den Hof. Am Tor traf er mich.

"Das ist eine Gemeinheit", sagte er und hatte Traenen in den Augen.

"Piesecke", troestete ich ihn, "ich bin Zeuge dessen gewesen, was jetzt
vorfiel. Das ist gegen jede Ordnung, ist gegen den Sinn unseres
Ferienheims. Der Knecht Ignaz hat sich gegen einen Kurgast solche
Frechheiten nicht herauszunehmen. Ich werde energisch mit dem Bauern
reden. Oder soll ich Sie auf einem anderen Hofe unterbringen?"

"Um Gottes willen nicht", rief Piesecke erschrocken; "ich - ich - da
hielte ich's ja gar nicht aus auf einem anderen Hofe ... ich - ich hab
mich ja schon so - so - an den Grobian gewoehnt."

Und er ging gesenkten Hauptes mit seiner Sense davon.

Ich begruesste eben die blonde "Hanne", da trat auch schon der Bauer Barthel
aus der Haustuer. Das war mir nicht lieb, und so sagte ich ein bisschen
unwirsch:

"Barthel, das geht aber nicht, dass Sie Knechte mieten, die unsere Kurgaeste
verpruegeln. Denken Sie mal, wenn das in der Oeffentlichkeit bekannt wuerde!
Da kaeme niemand mehr zu uns. Den langen Ignaz muessen Sie entlassen."

"Ich kann nich, Herr Dukter", erwiderte Barthel achselzuckend. "Ma kriegt
so schwer 'n gutten Knecht. Kurgaeste kriegt ma zehnmal leichter wie 'n
Knecht. Und a Ignaz, den kenn ich vu Jugend uff, das is a ganzer Kerle.
Der schofft's! Wos sull ich machen, jetzt, wu die Ernte kummt? Ich kann
doch nich die Ernte mit 'm Piesecke machen! Se sullten mal zusehn, Herr
Dukter, wenn der Piesecke Gras haut. Bluss die Spitzen schneid't a ab, de
Sense fuchtelt immer in der Luft 'rum. Oder sie bleibt in eem
Maulwurfhaufen stecken. Es ist jaemmerlich!"

"Wie lange wird denn Herr Piesecke hierbleiben?" fragte Hanne.

"Das duerfte ich eigentlich nicht sagen", erwiderte ich, "aber ich glaube
ein ganzes Jahr!"

"Um Gott's willen!" stoehnte Barthel. "A Jahr lang! Da hat mir der Kerl 'n
ganzen Hof ruiniert. Was soll ooch so'n Sargfabrikant von der
Bauernwirtschaft verstehen."

"Wieso - Sargfabrikant?"

Barthel laechelte ueberlegen.

"Eener vom Grundhofe kennt ihn. Piesecke is Sargfabrikant in Hannover und
heesst eegentlich Robert Ebbing. Ich hab das vom Sargfabrikanten gleich
geglaubt; denn 'n sehr traurigen Eindruck macht a doch. Aber ich hab mir
gesagt, a muss doch da was von der Tischlerei verstehn. Da sollt a mir
vorgestern 'ne Kiste zunageln. Das haetten Se sehn muessen! Olle Naegel krumm
oder in die Luft gekloppt. Das weess ich: in een Sarg, den der Piesecke
gemacht hat, leg ich mich amal nich! Eh da die Saenger mit 'Es ist bestimmt
in Gottes Rat' fertig waeren, braech der Boden und ich laeg draussen!"

"Also, das alles glaub ich nicht", warf die blonde Hanne lachend ein;
"Piesecke stammt aus einer besseren Familie; das merkt man ihm schon an."

Ich zuckte die Achseln.

"Es darf hier ein jeder vermuten, was er will."

"Meinetwegen mag er sein, was er Lust hat", sagte Barthel brummig;
"Hauptsache, ich waer ihn los."

"Geduld, Barthel, Geduld!"

"Geduld braucht ma maechtig viel mit den Staedtern. Also fuenfundzwanzig
Stueck Kurgaeste hab ich jetzt. Ausser mit der kleen'n Baerbel hab ich mit
allen Schererei. Na, ich brumm nicht etwa, Herr Dukter; fuer die Aergerei
mit a Staedtern bin ich ja da und hab ich mein feines Auskumm'. Ich sag
bloss: Aerger machen se alle."

"Aber doch nicht ich!" rief Hanne.

"Sie ooch", sagte Barthel melancholisch; "meine Alte is uff Sie
eifersuechtig."

"Barthel!"

Dem Maedchen blieb der huebsche Mund offenstehen.

"Ja, ja, ich hab ihr zwar gutt zugeredt und gesagt: Alte Schraube, es passt
sich nich, dass du uff deine alten Tage eifersuechtig wirst. Aber se sagt,
es passt sich nich, dass ich su oft mit Ihn'n plaudere, und ich taet Augen
machen."

"Was taeten Sie machen?"

"Augen! Nu ja, ich kann doch nich als Blindekuh vor Ihn'n stehn!"

Das Maedchen machte ein erheuchelt ernstes Gesicht.

"Also, Barthel, diese Augen lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich werde Ihre
Frau Gemahlin zur Rechenschaft ziehen."

"Um Gottes willen nich! Wenn das 'rumkummt, schrei'n ja die Leute Feuer!"

Da trat Frau Susanne Barthel aus der Haustuer.

"Hatt' ich mir's nich geducht? Steht a nich schon wieder?" sagte sie.

"Ja, Frau Barthel", rief Eva, "und er macht Augen auf mich!"

"Nich wahr, Fraeulein Hanne, Sie haben ooch Ihren Spass an dem alten Esel?"

Das Weiblein fing an zu lachen, dass ihr die Augen traenten.

"Also, wenn der Augen macht", schluchzte sie unter Lachen, "da kommt keen
gestoch'nes Kalb dagegen auf."

"Weib", schrie Barthel erbost; "du bist eifersuechtig. Du hast keen'n Grund
dazu!"

"Nee, nee", schlenkerte die dicke Susanne prustend mit den Haenden; "du
kannst um de ganze Welt 'rum Augen machen, 's faellt keener druff 'rein!"

Und sie ging vergnuegt ins Haus zurueck. Barthel stopfte ob des
vernichtenden Urteils ueber seine maennliche Anziehungskraft die Haende in
die Hosentaschen und sagte:

"Das is eene Gemeinheit! Immer lacht se, schon wie se noch meine Braut
war, lacht se mich immer aus."

"Seien Sie doch froh, Barthel, dass Sie eine so lustige Frau haben."

"Nee, nee, Herr Dukter, olles mit Respekt gesagt, aber das verstehen Se
nich! Sie sind nicht verheirat't. Sehn Se, wenn a Weib schimpft, oder wenn
se flennt, oder wenn se mit Tellern schmeisst, oder wenn sie furtlooft,
koenn'n Se sich immer noch Ihren Kopp ufsetzen; aber wenn se lacht, sind Se
geliefert."

Nach dieser Bemerkung hob der Philosoph aus dem Volke den Kopf und lachte
selber. Und ich benutzte die Gelegenheit und bat Barthel, mir seine
Meinung ueber seine Kurgaeste mitzuteilen. Sowenig ich mich sonst um den
Stand der von mir persoenlich nicht behandelten Kurgaeste kuemmere - wer auf
dem Forellenhof lebt, weiss ich. Ach, ich wollte es mir ja immer noch nicht
zugestehn, aber ich glaube oft, dass ich selbst "Augen" auf die schoene Eva
Bunkert mache, die hier "Hanne" heisst. Und wenn ich ehrlich sein will, ist
das auch der Grund, warum ich gerade die Besucherliste des Forellenhofes
kenne. Jetzt sagte ich gutgelaunt:

"Also, Barthel, schiessen Sie mal los mit Ihrem Aerger ueber unsere
Kurgaeste."

Ich hatte mich inzwischen zu Hanne auf die Bank gesetzt, Barthel hockte
auf einem umgekehrten Kartoffelkorbe uns gegenueber. Er machte sein
philosophisches Gesicht und sagte:

"Aerger kann man's eigentlich nich nennen, man muss mehr sagen, keen
richtigen Respekt nich. Also, vom Piesecke will ich nich reden, der aergert
mich wirklich. Das is 'n Huhn! Wahrscheinlich hat a zuviel Saerge gemacht,
zuviel Geld eingenummen, und da is es halt su geworden. Aber zum Beispiel
der Lempert. Also, in dessen Kurverordnung, die er mir als 'm Hausherrn
doch abgeben muss, steht: Aufstehn halb sechs. Um halb sechs geht der Ignaz
wecken. Lempert brummt nich amal. Um dreiviertel weckt Ignaz wieder.
Lempert schreit: a sull die Schnauze halten! Um sechse geh ich selber und
hau an die Tuer. Lempert schmeisst seine Stiefel dagegen und schreit, ich
sull mich zum Teufel scheren. Um viertel sieben trommeln wir beide so an
die Tuer, dass 's ganze Haus wackelt, 's ruehrt sich nischt. Um halb sieben
droh'n wir, die Tuer einzuhauen. Da kummt Lempert hinter uns die Treppe
'rauf und fragt seelenvergnuegt, warum wir eigentlich vor seiner Tuer so
eenen Skandal machen; a waer doch schon lange munter. Is der Kerl heimlich
uffgestanden und hat die Tuer von aussen verschlossen. Naechsten Tag dieselbe
Chose. Um halb sechs Ignaz (Lempert brummt), um dreiviertel sechs Ignaz
(Schnauze halten!), um sechs ich (er schmeisst mit Stiefeln). 'Jetzt,
Ignaz', sag ich, 'is Schluss, jetzt steht er heimlich uff.' Um neune is 'n
Bote vom Rathaus bei mir, warum der Lempert nich zur Kur gekommen sei?
Schlaeft der Vagabund noch! Da soll ma sich nich aergern!"

Lempert war ein Rechtsanwalt aus Leipzig.

"Fahren Sie fort, Barthel. Schildern Sie mir noch einige Ihrer Kurgaeste."

"Also, da ist der Emmerich, der komponiert mir 'n ganzen Hof voll. Auf'm
neubehobelten Kartoffelwagen hat a 'n ganzes Brett vollkomponiert, er
komponiert die Hausflurwaende voll, er komponiert ans Butterfass, er
komponiert auf die Tischtuecher, er hat sogar (entschuldigen, Fraeulein
Hanne!) auf den Klosettdeckel einen Rundgesang komponiert. So ein
verruecktes Huhn is das! Ich hab'n gefragt, ob er Kapellmeister oder Kantor
war, da hat er gesagt: Nee, er waer Gesanglehrer in eener
Taubstummenanstalt. Von sein'n Schuelern liesse er seine Kompositionen
auffuehren. Das nennte sich primitive Kunst. Und gerade so 'n Schmierfinke
wie der Emmerich is der Maler Methusalem. Das is erst eine Nummer! Der
behauptet, er waere 998 Jahre alt. In zwei Jahren zu Pfingsten feiert a
seinen tausendsten Geburtstag. Da will er uns alle einladen. Den naechsten
Tag taet er dann sterben, da koennten wir gleich zum Begraebnis dableiben.
Die Sache haette sich so zugetragen, dass er vor etwa tausend Jahren 'n
maechtiger Koenig gewesen waer; aber er haett' 'n Verbrechen begangen, und da
haett' 'n een sehr kraeftiger Fluch getroffen, und da haett' er gleich nach
seinem Tode sich immer wieder aus 'm Grabe 'rausbuddeln und in anderer
Gestalt 'n neues Leben beginnen muessen, und es sei immer sehr bergab
gegangen mit sein'n diversen Leben, bis er zuletzt haette als deutscher
Maler auf die Welt gemusst. Da sei das Mass seiner Busse voll geworden, und
er duerft jetzt definitiv sterben. Also - was hat dieser Methusalem
gemacht? Ich hab ein neues Schaff gekauft. 's erstemal kommt's in
Gebrauch. Schneeweisses Buchenholz. Da schuettet meine Frau Rueben in das
Schaff, pfeift 'm Methusalem und sagt: 'Methusalem, stampfen Se mal die
Rueben huebsch klein!' Was macht er? Er beguckt sich das schoene weisse
Schaff, dreht's um, schuettet die Rueben aufs Pflaster und malt auf 'n
auswendigen Boden vom Schaff meine Alte. Die is nu immer wieder
hergelaufen gekommen, hat gelacht und geschimpft auf den Methusalem, und
er hat sie immer angeguckt und drauflos gestrichelt. Da is se ausgerueckt
und er 's Schaff sich ueber'n Kopf gestuelpt und immer hinter der Susanne
her. Und wo er sie erwischte, schnell ihr ins Gesicht geguckt und 'n paar
Striche gemacht. Und dann ging die Jagd von neuem an. Das nennt sich nu
landwirtschaftlicher Betrieb bei uns!"

"Hat denn der Methusalem die Zeichnung fertiggestellt?"

"Freilich! Fuenf Tage lang is a mit sein'm Schaff auf 'm Kopp hinter der
Susanne wie wahnsinnig hergewest. Se is ganz ausser Atem gekommen und hat
gesagt, a muesst wirklich 'n sehr schwerer Verbrecher sein. Aber das Bild is
nu fertig. Ich sag Ihn'n, su 'ne alte Eule haben Se Ihrer Lebtage noch
nicht gesehen."

"Kann man das Bild nicht mal sehn? Sie haben dieses Schaff hoffentlich
nicht wieder als Schaff benutzt?"

"Nee! Meine Alte hat das Bild abscheuern woll'n, aber da haben alle
Kurgaeste Laerm gemacht."

"Die Zeichnung ist koestlich!" warf Eva ein.

"Wo ist denn das Schaff?"

"Oben in seiner Stube hat's der Methusalem eingeschlossen. Aber ich hab ja
'n zweiten Schluessel."

"Holen Sie's mal!"

"Wenn mich die Susanne erwischt, kommt sie gleich mit der Schmierseife und
der Scheuerbuerste hinter mir hergesaust."

"Holen Sie es. Wir stehen Posten."

Ich wusste, dass dieser Methusalem ein bekannter ausgezeichneter
Karikaturist war. Als Barthel mit dem Schaff ankam und ich die Zeichnung
sah, war ich entzueckt. Ich sah ein Meisterwerk! Diese ganze pfiffige,
durchtriebene, lachlustige, dicke Susanne lebte, atmete, schimpfte,
lachte, kommandierte, pfiff auf der Zeichnung.

"Es ist herrlich", rief ich; "es ist zum Kuessen schoen!"

"Weib!" schrie da Barthel begeistert, "Weib, komm 'raus, der Doktor will
dir 'n Kuss geben."

Susanne kam heraus, sah das Schaff, kreischte, versuchte einen wilden
Angriff auf ihr Bildnis und erstarrte, als ich ihr sagte, wenn Herr
Stefenson die Zeichnung saehe, wuerde er wahrscheinlich ein- oder
zweitausend Mark dafuer zahlen.

Die erblasste Susanne rief:

"Ich kann doch keene so scheussliche alte Schachtel sein wie die da!"

"Das ist keine scheussliche alte Schachtel", sagte Eva freundlich; "das ist
eine sehr liebe, lustige Muttel!"

"Siehste, Alte", hoehnte Barthel, "wenn du um die ganze Welt reistest, 's
koennte dich keen Maler schoener uffmalen, als du eben bist. Aber ich bin
nich eifersuechtig, wenn ooch der Methusalem fuenf Tage hinter dir hergerast
is wie verrueckt."

Mit dieser rachsuechtigen Bemerkung schlug Barthel seine Gattin aus dem
Felde.

"Holdrioho hoho!" jodelte einer draussen vor dem Tore.

"Um Himmels willen", rief Barthel, "das is der Methusalem. Wenn der spuert,
dass ich in seiner Stube gewest bin! Der tausendjaehrige Kerl hat Kraefte wie
'n Baer."

Und Barthel nahm das Schaff auf den Kopf und verschwand eilends im Hause.

Eva-Hanne sagte:

"Ich hab immer gern in meinem Leben gelacht, aber so viel wie in den drei
Wochen, da ich hier bin, noch nie."

"Lachen ist gesund."

"Ganz gewiss. Ich sehe, wie alle um mich her taeglich gesuender und heiterer
werden. Heiter kann man es zwar nicht nennen, mehr ausgelassen."

"Ja, sehen Sie, Eva, die Ausgelassenheit ist nur ein ansteigender Talweg
zu dem Berge der Gesundheit und des Glueckes, die Heiterkeit ist der
letzte, klare Gipfel. Zu ihm gelangen wir spaet, erst, wenn wir lange und
muehevoll gestiegen sind, erst, wenn es still und einsam um uns geworden
ist, erst, wenn unsere Augen weithin sehen koennen, ueber alle Tiefen, die
unter uns, und alle Hoehen, die ueber uns waren."

"Sind Sie selbst schon auf der Hoehe?"

"Ich gewiss nicht. Ich bin nichts als ein Wegzeiger, der im Tale steht, die
Hand ausstreckt und sagt: Da geht es hinauf!"

"Vielleicht ist's gut so", meinte Eva nachdenklich; "wenn Sie selbst schon
oben staenden, koennten Sie nichts anderes als winken. Und da wuerde sich
mancher sagen: was will der winkende Mann auf dem steilen Gipfel; er ist
wohl in Not und fuerchtet sich allein dort oben?"

"Ich finde, Fraeulein Eva, dass wir uns gut verstehn!"

Ich sah ihr heiss in die Augen. Ihr Blick begegnete mir freundlich, aber
kuehl. Dann senkte sie das Haupt und sah vor sich hin. Der lange Ignaz
schlurfte vorbei. Er brummte einen Gruss und rueckte kaum am Hut.

"Ein unfreundlicher Mensch", sagte ich, nur um etwas zu reden. "Wenn er
nur nicht mal Unheil anrichtet!"

"Der Bauer braucht ihn. Aber er ist mir auch manchmal unheimlich."

"Holdrioho hoho!" jodelte es nun dicht vor dem Tore. Ein starker Kerl
erschien, der brachte eine dicke Weibsperson auf einem Schiebkarren
gefahren.

"Das ist Methusalem", belehrte mich Eva; "er bringt die dicke Cenzi vom
Felde heim."

Cenzi war - wie ich wusste - die Gattin eines Berliner Bankiers. In ihrem
Dirndlkostuem sah sie ein wenig schnurrig aus. Methusalem fuhr seine holde
Last bis in die Mitte des Hofes, kommandierte "Alles aussteigen!" und
kippte den Schubkarren um. Cenzi quiekte, ueberkugelte sich zweimal, kam
dann jauchzend auf uns zu in einer merkwuerdigen Gangart, die etwa so
aussah, wie wenn eine Ente den Trippelschritt einer Taube versucht, und
sagte:

"Denken Sie, der schlechte Mensch; auf dem Schubkarren faehrt er mich, aber
zeichnen mag er mich nicht!" Methusalem schnitt ein Gesicht hinter ihr,
das deutlich ausdrueckte: "Lohnt nicht den Fassboden!" Dann sagte er: "Ich
bin kein Zeichner; ich bin ein Feldarbeiter. Und das Schubkarrenfahren ist
wichtiger fuer Sie, Cenzi, als das Geportraetiertwerden. Sie haben drei
Heukappen auf einen Platz zusammengetragen und waren daher mit Recht so
erschoepft, dass Sie per Achse nach Hause gebracht werden mussten."

"Er ist ueber so viele Steine hinweggefahren", klagte Cenzi; "ich bin
buchstaeblich wie geraedert."

"Das wird besser werden, Cenzi", troestete Methusalem, "wenn unser Vater
Barthel erst einen Schubkarren mit Federung und Gummirad angeschafft hat.
Es ist ein Skandal, dass er noch keinen solchen besitzt. Er ist ein
rueckstaendiger Landwirt."

"Oh, Sie Spoetter!" floetete Cenzi; "aber passen Sie auf, morgen habe ich
wieder drei Pfund abgenommen. Denken Sie, Herr Doktor, neun Pfund habe ich
bei Ihnen in zwei Wochen abgenommen, und das ohne jede Medizin."

Sie setzte sich zu mir und wollte mich in den Zauber eines Gespraechs ueber
ihren Gesundheitszustand verwickeln; ich aber sagte, sie moege das alles
ihrem Arzt in der Sprechstunde mitteilen. Da war sie denn auch zufrieden.

Ein Hilfsbrieftraeger erschien. Er uebergab Eva einen Brief. Den Brief hatte
die Reichspost mit der richtigen Adresse im Rathaus abgegeben. Dort war
der Brief in einen neuen Umschlag gesteckt und mit "Hanne - Forellenhof"
adressiert worden. So hatte ihn der Hilfsbrieftraeger ueberbracht. Er blieb
nach dieser Amtshandlung wartend stehen.

"Nanu, Brieftraeger", sagte Methusalem, "Sie warten wohl auf 'n Trinkgeld?
Sie wissen doch, dass wir alle in diesen gesegneten Landen nicht 'n roten
Heller in der Tasche haben."

"Eine Zigarre moecht ich gern", sagte der Brieftraeger.

"Gibt's nicht", schimpfte Barthel aus der Haustuer heraus. "Drei Stueck sull
a bloss am Tage roochen, und die kriegt a ooch taeglich geliefert. Nu is a
extra Brieftraeger geworden, dass a in a Hoefen um Tabak rumschnorr'n kann."

Der Brieftraeger (er war im Zivilleben Fabrikbesitzer im westfaelischen
Industriebezirk) machte einen niedergeschlagenen Eindruck.

"Drei Stueck so leichte Zigarrchen ist ja nichts fuer einen, der ein starker
Raucher gewesen ist", sagte er.

"Die drei Dingerchen hole ich mir frueh um sieben ab und verrauch sie alle
drei nach dem Fruehstueck. Und dann habe ich den ganzen Tag nichts."

"Troesten Sie sich", sagte Barthel grob, "vielleicht werden Sie ooch noch
gescheidt um 'n Kopp!"

Nur die dicke Cenzi war mitleidig. Sie hatte sich eben eine Zigarette
angesteckt und sagte:

"Brieftraeger, ich krieg bloss zwei Stueck am Tag. Aber Sie duerfen einmal
dran ziehen."

Sie steckte dem Brieftraeger ihre Zigarette in den Mund, und der sog sich
gierig daran fest, blies den Rauch durch die Nase, sog so fest, dass er
binnen Sekunden die ganze Zigarette aufgefressen haette, wenn Cenzi sie ihm
nicht entrissen haette.

"Den lass ich nie wieder ziehen!" sagte sie empoert.

Eva hielt ihren Brief in der Hand. Sie war ein wenig unruhig geworden.

"Er ist von meinem Vater", sagte sie leise zu mir.

"Begleiten Sie mich bis zum Tor!"

"Also", fuhr sie fort, waehrend wir langsam gingen und sie sich auf mich
stuetzte, "hat er meinen Aufenthaltsort erfahren. Ich mag den Brief jetzt
nicht lesen. Ich weiss, dass er nichts Erfreuliches enthaelt, und ich will
mir den schoenen Abend nicht verderben."

So war der alte Streit zwischen Waltersburg und Neustadt in einer ganz
neuen Form wieder ausgebrochen. Die Tochter des Konkurrenten war bei uns
zur Kur, und der Vater protestierte. Anders konnte es nicht sein.

"Es waere sehr, sehr schade, wenn Sie unser Heim verlassen muessten", sagte
ich und fuehlte, dass eine heisse Angst in mir aufstieg.

Sie sah finster zu Boden.

Dann riss sie den Brief auf.

"Ich will nicht feig sein!"

Sie las - las - staunte. Dann reichte sie mir den Brief.

"Oh! Das haette ich nicht gedacht! Lesen Sie!"

"Liebes Kind! Es ist ja nicht nett von Dir, dass Du hinter meinem Ruecken
ins Lager unseres sogenannten Feindes uebergegangen bist. Aber die Sache
kann sich noch gut zurechtschieben. Die Neustaedter, deren ganzer Sache ich
auf die Beine geholfen habe, machen mir schon seit langem das Leben sauer
und moechten mich nach und nach uebrig machen. Nun erhielt ich gestern von
Mister Stefenson aus Amerika einen Brief, in dem er mich anfragt, ob ich
geneigt sei, den Bau der noch fehlenden zwanzig Hoefe in der Waltersburger
Kuranstalt zu uebernehmen und auch fernerhin die baulichen Unternehmungen
dort zu leiten. In diesem Falle moege ich mit der Waltersburger Direktion,
die verstaendigt sei, in Verbindung treten. Ich bin nach Lage der
Verhaeltnisse gar nicht abgeneigt, der Sache naeherzutreten, und freue mich
jetzt, dass Du bereits Dein Interesse fuer das jedenfalls sehr
aussichtsreiche Waltersburger Unternehmen bekundet hast. In den naechsten
Tagen werden wir uns sehen."

Ich gab Eva den Brief zurueck.

"Sie werden nicht glauben, dass ich eine Ahnung von diesen geschaeftlichen
Dingen gehabt habe", sagte sie aengstlich.

"Gewiss nicht; ich habe selbst auch davon nichts gewusst."

Ihre Stirn war finster.

"Es ist schwer fuer mich, das zu sagen - aber Sie sollen mich nicht falsch
beurteilen; es gefaellt mir nicht von meinem Vater, dass er von den
Neustaedtern zu den Waltersburgern uebergeht. Er haette drueben Stange halten
muessen - jetzt erst recht!"

"Braves, liebes Maedel!" dachte ich; doch ich sagte, um sie zu beruhigen:

"Sie sind ja auch zu uns gekommen!"

"Das ist etwas anderes. Ich bin nicht Eva Bunkert, ich bin Hanne vom
Forellenhof. Ich schade den Neustaedtern nichts. Aber mein Vater - der
Gruender von allem! Wenn der uebertritt!"

"Fraeulein Eva, Ihr Vater ist wohl laengst da drueben nicht mehr ganz mit dem
Herzen dabei. Seine urspruenglichen Waldheime sind dem oeden Hotelbetrieb
gewichen. Ich glaube, er mag darunter gelitten haben. Kaltherziger
Geschaeftskonzern spricht allein in Neustadt. Wenn sich nun Ihrem Vater ein
Feld neuer Taetigkeit bietet, das ihn mehr befriedigt, ist es recht von
ihm, wenn er zusagt."

"Sie sind ein lieber Mensch", sagte sie dankbar, und meine Augen flammten
auf, und auf einen Augenblick war es mir, als floege meine Seele einem
seligen Lande zu. Das Herz stockte, der Atem setzte auf Sekunden aus, ein
seliger Taumel fasste mich ...

Draussen an der Tuer erhob sich ein Singen:

    "Abend wird es wieder;
    Ueber Wald und Feld
    Saeuselt Frieden nieder,
    Und es ruht die Welt."

Das alte Abendlied wurde von vierstimmigem Chor gesungen. Da oeffnete der
lange Ignaz das Tor. Er hatte in der Nische gelehnt, und ich hatte ihn
vorher gar nicht gesehen. Vielleicht hatte er alles gehoert, was wir
gesprochen hatten. Jetzt blickte er mich mit finsterem Gesicht an. Aber
ich beachtete ihn gar nicht. Ich sah auf die Saenger, die durchs Tor zogen.
Sensen und Rechen trugen sie ueber die Schultern, alle mit Feldblumen
geschmueckt, voran schritt Emmerich, der Chormeister, mit einem mit
Kornblumen geschmueckten Taktstock:

    "Nur der Bach ergiesset
    Sich am Felsen dort,
    Und er braust und fliesset
    Immer, immerfort.

    So in deinem Streben
    Bist, mein Herz, auch du,
    Gott nur kann dir geben
    Wahre Abendruh!"

Als letzte in der Reihe kamen die kleine Luise und eine Frau, die das Kind
an der Hand fuehrte. Diese Frau war wohl noch jung; sie war von hoher,
schoener Figur. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, weil das bunte
Kopftuch, das sie trug, weit vorgeschoben war. Luise, die jetzt sehr
haeufig auf dem Forellenhofe war, schmiegte sich dicht an ihre Begleiterin.

"Wie heisst die Frau, mit der Luise geht?" fragte ich Eva.

"Sie nennt sich Magdalena, ist sehr still und bleibt fast immer fuer sich
allein. Aber das Kind haengt an ihr."

Behutsam zog ich mein Notizbuch. Dort hatte ich die Kurgaeste des
Forellenhofes verzeichnet.

"Magdalena ..., geschiedene Frau Kaufmann Agnes Blassing aus Aachen,
behandelnder Arzt Dr. Michael", stand dort verzeichnet.

Das Abendlied verklang; die Leute zerstreuten sich an der Brunnenroehre
oder am Bach; die meisten aber zogen doch vor, ihre Abendtoilette auf dem
Zimmer zu besorgen.

Draussen auf der Strasse knarrte noch ein Wagen. Trotzdem schloss der lange
Ignaz das Tor. Das war eine neue Heimtuecke von ihm; denn vor dem Tor stand
Piesecke mit einem Fuder Klee und wusste nicht, wie er es anstellen solle,
die Zuegel der Pferde, von denen eines sehr unruhig war, nicht loszulassen
und doch an das Tor zu klopfen.

So schrie er: "Es ist zu! Es ist zu! Bitte, machen Sie gefaelligst auf!"
und es klang wie ein jammernder Hilferuf. Die Leute, die noch im Hofe
waren, lachten, und niemand dachte daran, Piesecke in seiner Not
beizustehen. Da eilte die kleine braune Anneliese ueber den Hof und
versuchte das schwere Tor zu oeffnen. Ich half ihr dabei, und ich sah zum
erstenmal, wie reizend dieses Maedchen war. Wie eine suesse, junge, rote
Rose! Ihre Sternenaugen gruessten mich wieder so freundlich, und ich
glaubte, zu ihrem Herzen wuerde ich den Weg wohl leichter finden als zum
Herzen dieser stolzen Eva. Und sah doch wieder zu dieser Eva hin.

Nun sollte zur Abendmahlzeit gerufen werden. In anderen Hoefen geschah das
durch eine Glocke. Hier im Forellenhof trat Emmerich mit seiner Leibgarde
auf. Vier Mann, zwei mit Becken, einer mit einer Trommel, einer mit einer
Pauke. Dieser Tischruf war so gewaltig, dass die Leute drunten in
Waltersburg wussten, wann im Forellenhof gegessen wurde. Damit aber auch
der lyrische Teil dieser Emmerichschen Kunstleistung nicht fehle, wurde
ein Kanon gesungen, den Emmerich gedichtet und komponiert hatte:

  "Lobt den Herrn, hat's zu bedeuten,
  Wenn zur Ruh die Glocken laeuten,
  Doch dabei nicht zu vergessen,
  Kommt zum Essen! Kommt! Kommt!"

Die vier Saenger sangen diesen Kanon mit tiefem Gefuehl. Bald sammelten sich
die Abendgaeste an der grossen Tafel im Garten. Emil Barthel sass an der
Spitze und praesidierte. Es gab Bratkartoffeln, Milch, Weisskaese, Butter und
Brot, gruenen Salat, frische Kirschen und Haselnuesse. Dieses Abend-"Menu"
habe ich glatt von Lahmann im "Weissen Hirsch" uebernommen, weil es kein
besseres gibt.

Piesecke behauptete, wenn er Milch, Kirschen, gruenen Kopfsalat und
Weisskaese zusammen aesse, bekaeme er auch zusammen die Ruhr, den Typhus und
die Cholera. Er war deshalb mit noch einem anderen Kurgast an einen
Extratisch gesetzt und bekam besondere Kost. Nach vierzehn Tagen, als
Piesecke sah, dass die Gaeste am "Normaltisch" sich sehr wohl fuehlten, wurde
er seiner Einsamkeit ueberdruessig und verlangte zu den anderen.

Ich ass an diesem Abend mit im Forellenhof, und ich hatte grosse Freude, zu
sehen, wie herrlich es den Leuten schmeckte. Auch die Tischgespraeche, die
gefuehrt wurden, gefielen mir. Weit weg war alles gespreizte, verlogene
Getue, weit weg aller Phrasenkluengel, alles aesthetisierende Jongleurtum,
alle pseudophilosophische Geistreichelei, jede auch noch so versteckte
Prahlerei mit wirklichen oder vermeintlichen Werten aus dem frueheren
Leben.

Der dicke Franzel erzaehlte dem duerren Heinrich (einem Zoologen aus
Muenchen), dass er drei Maulwuerfe erlegt habe, worauf Heinrich entruestet
erklaerte, das sei eine ungeheure Dummheit, da der Maulwurf als
Insektenvertilger und nachweislicher Nichtpflanzenfresser niemals ein
Wuerzelchen der Wiese, dagegen aber taeglich so viel schaedliche Engerlinge
verspeise, wie er selbst schwer sei. Vater Barthel, zum Schiedsrichter
angerufen, entschied: "Den Buechern nach ist der Maulwurf sehr nuetzlich,
aber dem Bauernverstande nach schlagen wir ihn tot. Von wegen seiner
Haufen!" Heinrich zuckte die Schultern und sagte, es werde wohl auch in
diesen finsteren Aberglauben noch einmal Licht kommen. Vom Ausroden zweier
Weiden erzaehlte einer, vom Pflanzen von Sellerie ein Maedchen, von der
Aussaat von Winterrettich und Wirsing eine andere. Die meisten sprachen
von der lustigen Heuernte, von dem rotbluehenden Kleefeld oder von dem
Wiesenwaesserlein, ueber das eine neue schmale Bruecke mit einem birkenen
Gelaender gelegt worden war. Baeuerliche Themen, manchmal mehr altklug
behandelt, wie Kinder schwaetzen, als wirklich erfahren, wie Vater Barthel
war, der aber sehr wohlwollend alles anhoerte. Weil es an St. Barnabas
geregnet habe, erklaerte ein Rheinlaender, wuerden die Trauben dieses Jahr
von selbst ins Fass schwimmen, und wie das Wetter am Johannistag sei, so
wuerde es bis Michaeli sein, behauptete ein anderer. Ich sah mir die Leute
an, die so sprachen. Sie gehoerten alle zu den gebildeten Schichten der
Bevoelkerung. Wuerden sie je in ihrem eigenen Leben solche Unterhaltung
fuehren, so waeren sie Sonderlinge, als komische Kaeuze, vielleicht als
albern gebrandmarkt. Hier waeren sie laecherlich, wenn sie von hoher
Politik, von gesellschaftlichen Ereignissen und Beziehungen, von
kuenstlerischen oder philosophischen Streitfragen zu reden begaennen.

Diese Leute haben wirklich alle Ferien vom Ich gemacht. Und ich sehe, dass
ich meine Idee nicht bis in die Einzelheiten selber auszudenken brauche;
hier dichten alle mit an dem grossen Sturmlied, das wir gegen den Jammer
unseres modernen Lebens anstimmen wollen; hier hilft jeder bauen an der
Bruecke, die ueber den Strudel der Zeit zu dem stillen Eiland des Friedens
fuehrt, hier stuetzt einer den andern. Betrachtet den Soldaten, der schwer
beladen sein junges Leben in taeglich vielstuendigem muehseligem Marsch gegen
die Feuerschluende der Feinde schleppt - er wuerde auf seiner furchtbaren
Reise erlahmen, liegenbleiben, verzweifeln nach der dritten oder vierten
Stunde, wenn er allein waere. Aber der Rhythmus der Masse haelt seine
Glieder im Gang; am klingenden Bewusstsein der Gegenwart von tausend
anderen haelt er sich aufrecht.

So ist es hier auch. Nimm den einzelnen Kulturmenschen, setze ihn in eine
Bauernstube, heisse ihn leben und arbeiten, wie es ein Bauer tut, und das
Heimweh packt ihn am achten Tage und treibt ihn davon. Mit Hunderten, ja
mit Tausenden seinesgleichen aber ist er gluecklich, legt er alle Tage
Strecken auf dem Wege der Gesundheit zurueck, deren er sonst nie faehig
waere, kommt er trotz aller Anfeindung durch sein bequemes, verzaerteltes,
tyrannisches Ich zum Siege.





                                 LORELEI


Mein Bruder Joachim guckte ueber den Gartenzaun. Und als sich die
Gesellschaft aufloeste zum Abendspaziergang, fuegte es sich leicht, dass Eva
und Annelies, Joachim und ich uns zusammenschlossen. Im Poetenwinkel der
Lindenherberge standen die Fenster offen, da sangen zwei junge Maenner zur
Laute:

    "Rosenbusch holderblueh,
    Wenn i mei Maedle g'sieh -"

Wir blieben stehen und hoerten zu. Die Saenger reichten zwei volle Glaeser
zum Fenster heraus, und unsere Maedchen nippten daran und lachten.

Annelies hatte meinem Bruder zugetrunken, und es war mir schon
aufgefallen, wie seine sonst so ernsten Augen aufleuchteten. Dann, als der
froehliche Singsang ueberging in "Drauss' ist alles so praechtig, und es ist
mir so wohl", bemerkte ich, dass Joachim heimlich nach Annelieses Hand
fasste, die ihm das Maedchen traumverloren ueberliess.

Eva stand ans Fenster gelehnt. Der Duft der Wiese schlug mir schwer in die
Sinne. Gluehwuermchen funkelten durchs Gras. Droben im einsamen Hirtenhaus
blies auf seinem Waldhorn der freiwillig Verbannte, dessen Liebesleiden
ich kenne, Eichendorffs traurige Weise:

    "Sie hat einen andern genommen,
    Ich war draussen in Schlacht und Sieg,
    Nun ist alles anders gekommen,
    Ich wollt', es waer' wieder Krieg!"

Ueber die Wiese gingen zwei langsam dahin. Die Frau vom Forellenhof, die
sich Magdalena nannte, und die kleine Luise. Das Kind erkannte mich und
eilte auf mich zu. Die Frau blieb abgewandt stehen. Da rief die Kleine:

"Magdalena, Magdalena, kommen Sie doch her! Hier wird so schoen gesungen!"

Die Frau schuettelte den Kopf, wandte sich aber doch langsam um. Und ob es
auch schon daemmrig war, der Abend hatte mich scharf sehend gemacht; ich
sah, dass das Weib, das dort einsam auf der Wiese stand, Joachims erste
Frau, Luises Mutter, war.

Der Bruder aber sah sie nicht, und seine Augen waren gehalten, und er
erkannte auch sein Kind noch immer nicht. Langsam tastete wieder seine
weltmuede und doch immer noch gluecksuchende Rechte nach der kleinen
Anneliese keuscher Hand.

"Magdalena, kommen Sie hierher!" rief das Kind abermals und dringend.

Die aber schuettelte den Kopf und ging davon.

Das Kind schmiegte sich an mich; vom Berge her klang noch immer die
Melodie des Eichendorffliedes, und ich sah den Bruder an und hoerte aus dem
Klange des Hornes die Worte:

    "Ich aber war weit schon gegangen,
    Jetzt sieht sie mich nimmermehr."

         -------------------------------------------------------

Die Nacht war schwueler als der Abend. Es war, als ob von irgendwoher heisse
Gewitterluft ueber unsere Haeupter getragen wuerde. Ich sass wach am Fenster.
Als ich heimgekommen war, hatte ich einen Brief von Stefenson gefunden. Er
machte mir Mitteilung, dass er an den Baumeister Bunkert geschrieben habe
und ihm die Leitung unserer ferneren baulichen Unternehmungen uebertragen
wolle. Dann kam der inhaltsschwere Satz des Briefes: "Ich verhehle Ihnen
nicht, lieber Freund, dass meine tiefe Neigung fuer Fraeulein Eva Bunkert,
deren ich mir inzwischen ganz klar geworden bin, mich zu dem Angebot an
ihren Vater geleitet hat. Dieser Neigung werden Sie - dessen versichert
mich Ihre ehrliche Freundschaft - immer Rechnung tragen."

Wie schwuel die Nacht war, wie unruhevoll die Seele, schmerzlicher Wuensche,
heisser Angst, tiefer Niedergeschlagenheit voll, da das schoene Traumbild
von Liebe und Glueck von drohendem Wetterleuchten ueberstrahlt an meinem
Himmel stand.

Da baeumte sich der Wille im jungen Herzen auf, und ich sagte mir: Oho,
mein Freund, wie kommst du dazu, mir den Verzicht auf meine junge Liebe zu
befehlen? Steht dieses Recht in unserem Kontrakt? Ist Liebe ein Schacher,
in dem du mich ueberbieten kannst? Bist du mein Herr und ich dein Sklave,
dem du befehlen kannst: Lass ab von jenem Maedchen, das ich fuer mich will!
Oder, wenn du es auf die Freundschaft hinausspielen willst: wo war je in
der Welt Freundschaft staerker als Liebe, wo waere sie im Kampfe mit ihr
nicht unterlegen?

Komm nur zurueck, alter Geschaeftemacher, und kaempfe um die Braut! Wenn du
zu lange ausbleibst, wirst du sie als die Meine finden und sie mir gewiss
nicht mehr entreissen.

So wollte ich das Recht auf mein Lebensglueck wahren. Aber neben dem Willen
sass der Zweifel. Ich wusste, dass Evas Herz viel mehr zu Stefenson neigte
als zu mir. Ich war wohl fuer das Glueck der Liebe nicht bestimmt. Niemals
im Leben hatte es mir ernsthaft gewinkt. Vielleicht war ich zu scheu, zu
vertraeumt meinen Lebenspfad gegangen. Auch die kleine Anneliese, die
junge, rote Rose, hatte ich uebersehen.

Nun streckte der Bruder die Hand nach ihr, und auf der Wiese stand des
Bruders Weib und sah mit verlorenen Augen nach ihm hin.

Auch da fuehlte ich ein boeses Wetter aufsteigen.

         -------------------------------------------------------

Das ist doch ein kostbares Geschenk, das der Herrgott seinen Erdenkindern
machte: die Arbeit. Hast du ein Leid im Herzen, das nicht heilen will, das
dir den Tag grau faerbt und deine Naechte qualvoll macht, geh zur Arbeit, zu
der herben, tuechtigen Frau, sie wird dich mit so klaren Augen anschauen,
mit so morgenheller Stimme zu dir sprechen, dass du das Haupt hochheben und
tief atmend einen frischen Luftstrom des Lebens einsaugen wirst; bist du
einem Irrlicht nachgegangen und auf sumpfigem Pfad von Schlingpflanzen
tiefer Verzagtheit umschlungen worden, rufe die Arbeit, die tuechtige Frau,
sie wird dich mit derber Hand herausziehen aus deiner Bedraengnis und dich
wieder auf eine feste Strasse stellen; hast du Gueter verloren, welcher Art
es immer sei, wende dich an die Arbeit, die reiche Frau, die leere Taschen
und leere Herzen immer neu zu fuellen vermag; sind dir alle
Unterhalterinnen des Lebens ueberdruessig geworden, lass die Arbeit an deinem
Tisch sitzen bis zum letzten Tage deiner Kraft!

Denn sie ist deine beste Freundin; sie schuetzt deine Gesundheit, sie
staerkt deine Muskeln; sie wuerzt dir das Mahl und salzt es, dass es nicht
faule; sie spricht dir alle Tage aufmunternde Worte ueber deinen Wert ins
Ohr und huetet dich doch vor Uebermut durch kleine oder grosse Misserfolge;
sie gibt dir fuer deine Feste das rechte Lachen mit, sie schenkt dir zu
deinem Becher den rechten Durst und schliesst dir alle Abende mit leisem
Finger die Lider!

         -------------------------------------------------------

So bin ich durch die Arbeit ueber meine Zweifel und Leiden hinweggekommen,
so sind meine Eigenwuensche still geworden und wie kleine Heimatbaechlein
hineingerieselt in den grossen Strom des Willens zum Dienst der
Allgemeinheit.

Von dem lasse ich mich tragen. Manchmal gluckst noch ein silbernes
Stimmlein alter Sehnsucht auf; aber es verklingt, und ich freue mich der
starken Alltagswelle, die mein Schiff traegt.

Von den Patienten, die zu mir kommen und ihre Lebensberichte vor mir
ausbreiten, haben die meisten an der Liebe gelitten. Maenner wie Frauen.
Denn nicht immer sitzt auf dem Felsen am Fluss die Lorelei und in dem
scheiternden Kahn unten der Mann; oft schwimmt die Lore unten, und der
Mann sitzt oben, wenn er sich auch nicht sein "golden Haar" kaemmt, sondern
vielleicht nur einen schwarzen Bart streicht. Die Tragik ist immer die
gleiche: der Kahn kippt um. Steht man dann als Leibes- und Seelenarzt am
Ufer und wirft seinen Rettungsring aus, so ist das ein aufregendes, aber
schoenes Geschaeft, und ich denke, nach und nach wird sich bei mir die
Aufregung in eine milde Seelenheiterkeit umwandeln. Habe ich so ein
pudelnasses Menschenkind, das im romantischen Rheinstrom der Liebe
verunglueckte, ans Land gezogen, so lasse ich es erst ein wenig zu Atem
kommen, und dann forsche ich es langsam aus, ob die (oder der), so auf dem
Felsen gedudelt hat, nicht auch mancherlei Schwaechen haben moege, und wird
die Frage ein wenig zaehneklappernd bejaht, so frage ich langsam weiter,
bis sich ergibt, dass die (oder der), so auf dem Felsen gedudelt hat,
eigentlich minderwertig, hingegen der (oder die), so in dem Kahn umkippte,
wesentlich wertvoller sei, weshalb die ganze Ungluecksfahrt eine Torheit
gewesen, nach welcher man klueger geworden und gottlob ans feste Land und
in trockene Kleider gekommen sei.

In den meisten Faellen hilft meine Methode; sie fuehrt durch das Tuerlein:
"Er ist es nicht wert, dass ich mich opfere", in den Garten der Gesundung.

Einige Faelle sind hoffnungslos oder doch so schwerer Art, dass immer nur
auf die Zeit gerechnet werden kann, die ihren langen Geduldfaden spinnt.
Die stehen dann wie verloren und verzuernt in dem lustigen Ferienheim vom
Ich, werden zuerst auf einsame Posten geschickt, wo ihnen kein lauter Ton
wehe tut, aber wo eine kleine feste Pflicht sie aufrecht haelt, und
steigen, wenn die Lebenssehnsucht wieder erwacht, Stufe um Stufe ins Tal
zurueck.





                        DIE "KRUMMBEINIGE MEDIZIN"


Meine Kurmittel sind nicht ganz gewoehnlicher Art. Es gibt Aerzte, die den
Sitz alles Uebels im Magen suchen; andere begeistern sich fuer die Leber;
wieder andere schwoeren auf warme Fuesse; ganz alte, bequeme Knaben geben
immer zum Schwitzen ein oder verordnen Laxiermittel; wieder andere sagen,
ausser mit Chinin, Digitalis und Quecksilber sei ueberhaupt nichts
anzufangen; diese werden von den Wasserdoktoren "Giftmischer" genannt, und
alle werden von den Homoeopathen verachtet. Ich misch mich da nicht ein;
ich sage: ihr habt alle recht, und der, der am wenigsten tut, tut am
meisten.

Meine Kuranstalt Ferien vom Ich ist etwas Neues, und es sind auch meine
Kurverordnungen teilweise sehr neu. So habe ich in der kurzen Zeit meiner
hiesigen Praxis meinen Patienten in einundfuenfzig Faellen die Anschaffung
eines Dackels verordnet. Der Dackelhund als Heilmittel ist in der
medizinischen Wissenschaft gewisslich ein Novum, aber er ist gleicherzeit -
das kuehne Bild ist in Tagebuchaufzeichnungen erlaubt - nichts anderes als
ein Ei des Kolumbus. Ich habe selbst seit Jahren einen Dackelhund (in
Amerika drueben nennen sie ihn _german __dog_), er heisst "Spezi", weil er
mir in der Tat ein Spezialfreund geworden ist, und ich kenne die
gesundheitsfoerdernden und erziehlichen Werte seiner Gegenwart zu gut, als
dass ich in meiner Naechstenliebe nicht auch anderen das Glueck eines solchen
Besitzes goennen sollte. Eine wissenschaftliche Arbeit schreibe ich ja hier
nicht; nur eine Tagebuchplauderei. Aber ich will eine erweiterte Abschrift
dieses Kapitels meinen Kollegen geben, die ein wenig die Nase ueber den
"Chef" ruempfen, der so viele "krummbeinige Medizin" verordnet, dass neulich
sechsundzwanzig Dackel auf dem Lindenplatze eine Art Generalversammlung
abhielten und greulichen Unfug veruebten. (Dr. Fristen hat mir damals
gekuendigt mit der Begruendung, dass er ein ernst zu nehmender Arzt sei, und
ich habe ihn ohne Trauer ziehen lassen. Hol der Fuchs alle Spiesser, die
nur ihr Schuleinmaleins ableiern koennen!)

Einen Dackel verordne ich zunaechst demjenigen, bei dem ich als Pfahlwurzel
seiner Leiden zu grosse Eigenliebe erkenne. Die gewoehnt ihm der Hund
alsbald gruendlich ab. Kein noch so eingefleischter Nietzschianer behauptet
auf die Dauer seinem Dackel gegenueber die "Herrchen"-Natur.

Das "Herrchen" ist der Dackel; da kann einer dagegen tun, was er will; es
nutzt alles nichts. Zum Beispiel: Der Philosoph, in schwere Gedanken
versunken, strebt auf seinem Abendspaziergang gen Westen. Der begleitende
Dackel - einen Igel erschnuppernd - biegt gen Sueden ab. Der Philosoph wird
sich anfangs um den klaeffenden Koeter ganz und gar nicht kuemmern; aber dann
wird er pfeifen - einmal, zweimal, dreimal leise - dann laut, immer lauter
rufen, drohen, die Faeuste ballen, toben, aus seiner schweren Gedankenbahn
geschleudert werden, umkehren, gen Sueden wallen und Betrachtungen darueber
anstellen, ob nun ein Dachshund oder ein Igel das widerborstigere Tier
sei. Der notgedrungene Gleitflug aus der luftarmen Hoehe eisigen Denkens
ist durch einen Dackel ertrotzt.

Gut so - in den Ferien vom Ich!

Oder ein Misanthrop. Sitzt der da in dem ganzen Katzenjammer seines
elenden Weltschmerzes, und sein Dachshund setzt sich ihm gegenueber mit der
ungeheuerlichen Leidensmiene seiner durchtriebenen Viehvisage: die Stirn
in hundert Runzeln, die Ohren haengend, den Schwanz melancholisch
eingeklemmt, die Augen verdreht und die Stimme leise jaulend, wimmernd,
stoehnend, so wird der Misanthrop dieses Jammerbild nicht lange ertragen,
mit dem Vieh auf die Strasse fluechten und sich nicht schlecht wundern, dass
der scheinheilige Jaemmerling ploetzlich wie ein Berserker der Lebenslust
umherrast. Etwas abfaerben wird es schon. Das naechste Mal, wenn er und der
Dachs so truebselig einander gegenuebersitzen, wird sich der Misanthrop
selbst nicht recht trauen und auf die Strasse gehen.

Der alten Jungfer, die sich ihr Leben lang nach einem Manne gesehnt und
keinen bekommen hat, verordne ich einen Dackel. Dann hat sie endlich den
ersehnten Tyrannen, den sie pflegen und fuettern kann.

Die kleinliche, ordnungswuetige Hausfrau, die ihrem Mann wegen eines
Zigarrenstaeubchens eine Szene machte und Kinder und Dienstboten teufelte,
bis sie zu uns abgeschoben wurde, bekommt einen Dackel und erhaelt als
Antwort auf ihre entruestete Klage, dass ihr das "entsetzliche Vieh" die
Hausschuhe verschleppe und in eine gute gestickte Decke ein Loch
geknabbert habe, die Antwort, die Welt sei weit, der Himmel sei hoch, die
Hausschuhe und gestickten Decken seien im Universum von nur
nebensaechlicher Bedeutung, und ohne Dackel koenne sie nicht gesund werden.

Die ganz unheilbar musikalische Donna Eleonora, von der mir ihr Hausarzt
im verschlossenen Briefe mitteilte, sie braechte ihre Nachbarschaft durch
ihr ewiges Klavierspielen zur Verzweiflung, erhielt ein Klavier und einen
Dachshund verordnet.

Das Klavier hat sie aufgegeben; der Dackel hat es so verbellt und
verheult, dass ihr die Drahtkommode zur Unmoeglichkeit wurde.

Allen den sehr nervoesen Herren, die zu mir kommen und von denen ich weiss,
dass sie trotz ihrer krankhaften Gereiztheit draussen in der Welt als
Richter oder Examinatoren auf arme Opferlaemmer losgelassen werden,
verordne ich einen Dackel und bitte sie, sich seiner kuenftighin auch vor
ihren Amtshandlungen zu bedienen. Ich denke dabei an die Wirkung milde
ableitender Mittel. Einer, der einen Hund gestreichelt hat, kann keinen
Menschen ohne aeusserste Not zu Boden schlagen, auch wenn seine Nerven noch
so ruiniert sind.

Ferien vom Ich!

Das ist so die fieberstillende Wirkung der "krummbeinigen Medizin". Aber
der Dachs wirkt auch staerkend und aufbauend.

Einer, der an keine Treue auf der Welt mehr glaubte, bekam einen
Dachshund. Nach acht Tagen sagte er mir, der Dackel sei, wie alle
Kreaturen, ein "untreues Luder". Er gehe ihm stets durch die Lappen, immer
seinem tierischen Instinkt nach, geradeso, wie es die Menschen taeten! Vier
Wochen darauf war der Mann bekehrt. Er sagte mir:

"Bis ich am Hang am Berge bin, ist der Dackel in alle Winde. Aber wenn ich
zwei Stunden dort oben gesessen habe, kommt der Hund zu mir mit
schmutzigen Pfoten und lehmiger Schnauze. Und es ist mir, als ob er
treuherzig sagte: Liebes Herrchen, es gibt zwar noch tausend Mauseloecher,
in die ich schnuppern moechte, aber es ist doch am schoensten bei dir! Das
ist immerhin eine gewisse Treue!"

Endlich verordne ich einen Dackel allen denen, die ein gespreiztes,
hoffaertiges Gebaren haben, denen, die "sich tun", wie die Leute sagen. Es
sind ihrer sehr viele. Wer "tut sich" heutzutage nicht? Der Dichterling,
der reiche Kaufmann, der Herr Beamte, das ganze Weibsvolk. Bindet ihnen
nur einen Dackel ans Bein, der sie an den Hosen oder am Humpelrock zerrt,
gleich ist ihre Hoheit dahin.

Man kann nicht geziert, nicht unnatuerlich tun und sein, wenn man mit einem
Dackel geht. Das rustikale Viehzeug verdirbt allen aufgeblasenen Stil,
zerrt einen widerwillig in die Natuerlichkeit zurueck.

Gewiss, der Dackel ist ein stobiger Philister, ein taeppischer Biedermeier,
ein Kleinbuerger, aber auch ein Nihilist gegen alle Gespreiztheit, ein
genialer Spoetter.

Ich wuesste nicht, warum ich ihn nicht als ein Heilmittel gegen mancherlei
Gebrechen unserer Zeit in unseren Kurplan einsetzen sollte!





                          IN DER GENOVEVENKLAUSE


Die Genovevenklause ist frei geworden. Den Sommer ueber wohnte eine Witwe
mit ihrem Soehnchen darin. Eine vornehme Dame, die nach dem Untergang ihres
Ehegluecks aus ihrer bunten Gesellschaft in die Einsamkeit der Klause
fluechtete. Das Haeuslein ist halb in den Berg hineingebaut, ein Kreuz ist
ueber dem Felsen, der Bach fliesst vorbei, ein zahmes Reh grast vor seiner
Tuer. Es vertritt die Hirschkuh der Legende. Dort bei der Genovevenklause
ist meist tiefe Stille; nur ein schmaler Fussweg fuehrt zu ihr hin, und es
ist dort recht einsam. Nur die Heimwehfluh mit dem Hirtenhaus ist ebenso
still.

Nun ist die Frau fortgezogen. Sie musste in die Welt zurueck und hatte
Traenen in den Augen, als sie Abschied nahm.

"Wenn das Grab meines Gatten hier waere, moechte ich nie mehr ausziehen aus
der lieben Klause", sagte sie.

"Sie muessen es wegen Ihres Sohnes", entgegnete ich ihr; "Sie duerfen keinen
Schmerzensreich, keinen Parsival aus ihm machen; Sie muessen ihn
vorbereiten fuer das Leben."

"Mir graut vor dem Leben", sagte Frau Herzeleide und zog davon! ...

Heute war ich in der Direktion. Der Direktor war nicht anwesend, und ich
musste ein wenig warten. Da kam sie zur Tuer herein - Magdalena vom
Forellenhof -, die Frau meines Bruders Joachim. Als sie mich sah, erschrak
sie und strebte zur Tuer wieder hinaus. Ich hielt sie zurueck.

"Was wuenschen Sie, Magdalena? Der Herr Direktor wird gleich hier sein.
Warten Sie nur einige Minuten!"

Sie war aeusserst verwirrt.

"Ich wollte - ich moechte - ich wollte nur anfragen, ob es vielleicht
moeglich sei, dass ich in die Genovevenklause ziehen koennte, da sie frei
geworden ist."

"Gefaellt es Ihnen nicht mehr auf dem Forellenhof?"

Sie wich aus.

"Ich moechte sehr gern in tiefere Einsamkeit."

"Ist Ihr Arzt damit einverstanden?"

"Ja."

Irgendein Angestellter kam und meldete, der Direktor sei zur Bahn
gefahren.

"Nun, dann warten wir jetzt vergebens auf ihn, Magdalena. Wenn es Ihnen
recht ist, gehen wir zusammen nach der Klause und sehen, wie es dort
steht. Ich werde schon dafuer sorgen, dass Sie die Klause bekommen."

"Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Doktor, aber ich moechte Ihnen
meinetwegen den Weg nicht zumuten."

"Nicht der Rede wert; ich gehe jetzt sowieso spazieren. Kommen Sie!"

Ich merkte, wie ungern sie mir folgte. Ihr Gesicht war sehr blass, und ihre
Lippen zuckten. Das ehemals so prachtvolle rotblonde Haar war schwarz
gefaerbt; das veraenderte sie am meisten. Aber auch der frueher so rosige
Teint war verloren; die Haut schimmerte blass und feucht; die Kinderaugen,
die so uebermuetig blitzen und lachen konnten, hatten wohl ihre wunderbare
Schoenheit noch, aber sie blickten muede und traurig.

Waehrend wir so gingen, sprach ich ueber harmlose Dinge, ueber die Ernte,
ueber Vater Barthel. Sie gab kurze Antworten, blieb immer einen Schritt
hinter mir und vermied es, mir ins Gesicht zu schauen. Als wir an den
schmalen Pfad kamen, atmete sie ersichtlich auf. Jetzt konnten wir nicht
mehr nebeneinander gehen. Sie bestand darauf, dass ich voranschritt.

So kamen wir zur Klause. Hoch ragte das Bild des Erloesers, und ich dachte
an jenen kalten Wintertag, da ich grausam zu dieser Frau gewesen war und
mir nachher der milde Freund Mariens von Magdala einfiel. Heute wollte ich
nicht grausam sein. Diese Frau war so muede, so geschlagen; sie brauchte
keine Strafe mehr.

"Magdalena", sagte ich, "ich habe gehoert, dass Sie gern mit unserer kleinen
Luise gespielt haben. Das Kind ist viel auf dem Forellenhof. Wird es Ihnen
hier nicht fehlen?"

Sie seufzte schwer.

"Ja, es wird mir fehlen. Aber auf dem Forellenhof nimmt es jetzt meist das
junge Fraeulein, die Baerbel, und mir hat Luise versprochen, dass sie mich
alle Tage besuchen will. Sie spielt gern mit dem Reh."

"Und Sie haben dem Kinde auch viele Geschichten erzaehlt?"

"Ja, sie hoert gerne Maerchen."

"Haben Sie auch mit ihr gelesen, geschrieben und gerechnet?"

"Ja, ich tue das sehr gern."

"Hm."

Ich machte eine Pause.

Dann sagte ich:

"Das Kind ist ja bald hier, bald dort, und es soll sich auch weiterhin
austoben. Aber als staendiges Unterkommen haette ich fuer die Kleine gern ein
stilles Heim. Wenn es Ihnen recht ist, Magdalena, gebe ich Luise zu Ihnen
in Pflege."

Da schrie sie kurz und jaeh auf.

"Herr Doktor, wenn Sie das tun, erweisen Sie mir eine grosse Gnade!"

Ich sah ihr in die flammenden Augen und sagte: "Ich werde es tun."

Nun fasste sie mich an den Haenden; ihr ganzer Koerper bebte.

"Eine Gnade!" wiederholte sie. "Ich bin so verlassen, und ich habe das
Kind so lieb!"

Sie liess mich los, legte einen Arm ueber die Augen, trat ein wenig zurueck
und stand so ein Weilchen still da. Ploetzlich begann sie bitterlich zu
weinen.

"Was ist Ihnen, Magdalena?"

"Es geht nicht; es geht nicht!" schluchzte sie; "wenn Sie - wenn Sie
wuessten, wer ich bin, wuerden Sie mir das Kind nicht uebergeben. Ich bin eine
- eine schlechte Frau!"

Ich ging zu der Ungluecklichen, legte einen Arm um ihre Schultern und sagte
erschuettert:

"Du bekommst das Kind doch, obwohl ich weiss, wer du bist!"

Sie prallte zurueck.

"Sie wissen - wer ich ..."

"Ja, Kaethe, ich hab dich erkannt!"

Da warf sie die Arme in die Luft, stiess einen Schrei aus und verschwand um
den Felsen in den Wald.

Ich eilte ihr nach und holte sie mit Muehe ein.

"Wenn Joachim mich erkennt, schlaegt er mich tot!" wimmerte sie.

"Er erkennt dich nicht. Niemand kennt dich ausser mir. Und ich werde dich
schuetzen!"

Sie musste sich an mir festhalten, als ich sie zur Klause zurueckfuehrte.
Dort setzte ich sie auf die Bank vor der Haustuer und streichelte ihren
Scheitel.

"Jetzt sind Sie wieder Magdalena, und ich bin wieder der Herr Doktor. Wir
kennen uns nicht. Das, was jetzt hier geschah, ist nicht gewesen! Morgen
frueh bringe ich das Kind. Beruhigen Sie sich, Magdalena, fuerchten Sie
nichts, aengstigen Sie sich nicht. Das Kind darf sich ja nicht wundern. Es
soll ja eine heitere, zufriedene Pflegerin haben. Auf Wiedersehen!"

Ich liess sie allein.

         -------------------------------------------------------

Meine Mutter hat sich um Luise wenig mehr gekuemmert. Sie hat wohl sicher
Tag und Nacht an das Kind gedacht, aber nicht nach ihm gefragt. Sie hat
keine Freude an dem Maedchen, sie liebt es nicht; sein Dasein aber regt sie
auf, laesst sie leiden.

Die Mutter kommt kaum alle zwei oder drei Wochen einmal zu mir heraus. Ich
glaube nicht, dass sie an meiner Schoepfung viel Freude hat. Sie ist von
stockkonservativer Natur; alles Neue erscheint ihr verdaechtig.

Ein- oder zweimal hat die Mutter aber doch Luise fluechtig wiedergesehen.
Sie ist dann in schwere Aufregung geraten. Und eines Septembertags, kurz
nachdem das Kind in der Genovevenklause untergebracht worden war, sagte
die Mutter zu mir:

"Ich quaele mich mit dem Gedanken, ob es nicht unrecht ist, Joachim die
Anwesenheit seines Kindes zu verheimlichen."

"Quaele dich nicht, Mutter! Joachim hat bis jetzt dem Kinde seine
Anwesenheit auch verheimlicht, ja das Kind nicht einmal wissen lassen, dass
er ueberhaupt existiert."

"Du sprichst immer recht lieblos von deinem Bruder!"

"Ich spreche so, wie ich nach seinem Verhalten sprechen muss!"

Sie wandte sich beiseite, und ihre feine Gestalt zitterte in Zorn und
Trotz.

"Ich werde Joachim aufklaeren!" sagte sie bestimmt.

"Das wirst du nicht tun, liebe Mutter! Du wirst mit mir warten, bis
Joachim menschlich wieder so weit ist, sich von ferne wenigstens seiner
Vaterpflicht zu erinnern und sich einmal zu erkundigen, was aus seiner
Tochter geworden ist. Lass ihn! Er macht jetzt Ferien von seinem voellig
verfehlten Ichleben."

"Er ist schuldlos an seinem Unglueck!"

"Nein! Er ist nicht ohne Schuld."

"Fritz!"

"Er ist nicht ohne Schuld gegen sich selbst; denn er hat sich durch seinen
masslosen Hass viel tiefer ins Unglueck gebracht, als ein kluger Mensch, der
sich beherrschen kann, noetig hatte, und er hat sich gegen sein Kind
schaebig benommen."

"Das ist unerhoert, was du zu behaupten wagst. Nun werde ich Joachim
bestimmt aufklaeren."

"Tue es nicht, Mutter, ich rate dir gut. Joachim wird jetzt noch nicht mit
dem Kinde zusammenleben wollen."

"Nun, so muesste man eben das Maedchen vorlaeufig noch nach einer guten
Pension bringen."

"Das wuerde nicht geschehen; sondern wenn eine Trennung noetig waere, wuerde
Luise hierbleiben, und Joachim wuerde von mir entlassen werden."

"Entlassen?"

"Ja, es hat sich so gefuegt, dass Joachim gegenwaertig mein Angestellter ist.
Er hat einen sehr kurzfristigen Vertrag."

"Du bist masslos hochmuetig und lieblos!"

"Ich handle so, wie es mir mein Herz und meine Vernunft vorschreiben."

"Berufe dich nicht auf dein Herz", sagte sie, "du hast keines!"

Und sie ging.

Ich habe in den folgenden Tagen seelisch gelitten. Nicht nur der Mutter
wegen, die ich liebe und mit der ich mich so wenig verstehe, sondern auch,
weil ich rundum Leute sehe, die sich von der Last ihres Alltagslebens
befreit in Ferienruhe des Daseins erfreuen und ich selbst mittendrin stehe
im Ichleben, im Familienjammer.

Und da daemmerte mir, dass es gut sei, wenn ich selbst der Liebe fernbliebe,
dass ich in freiem, ungestoertem Zoelibat meiner grossen Idee am besten dienen
koenne, Herz und Sinne zwar leer von manchem Glueck bleiben wuerden, aber Arm
und Fuss frei von jeder auch noch so goldenen Kette, frei zum
Vorwaertsschreiten und Handeln.

Zur Mutter ging ich nach drei Tagen. Ich sprach freundlich zu ihr und
sagte ihr, dass ich ihre Natur und ihr Handeln ja begriffe und verstaende.
Sie schuettelte zwar das schoene Koepfchen, aber sie liess sich von mir
kuessen, und ich stieg froehlich den Berg wieder hinan. Ich kann nicht lange
traurig sein; mein Herz wendet sich ab vom Kummer, wie eine Pflanze sich
abwendet vom sonnenleeren Nordhimmel.





                       DIE SCHLACHT BEI WALTERSBURG


Jeder deutsche Kurort hat seine "Sensation der Saison", so wie jedes
Affentheater seine "groesste Attraktion der Gegenwart" hat. Auch unser
Ferienheim hatte seine Sensation.

Anton, der aelteste Sohn des Waldschulzen, will Pauline, die aelteste
Tochter des Forellenbauern, heiraten, und es hat sich darum eine heisse
Schlacht entsponnen.

Die Sache hat eine romantische Vorgeschichte gehabt. Das jungfraeuliche
Herz Paulinens pendelte. Es pendelte zwischen unserem Schulzensohne und
einem jungen Gastwirt aus Neustadt hin und her, und so gerieten die beiden
Kavaliere in die uebliche Rivalenwut und vergerbten sich bei guter
Gelegenheit die beiderseitigen Felle. Bis dahin waere alles in Ordnung
gewesen; aber nun mischte sich Piesecke ein und brachte romantischen
Schwung in die Geschichte. Piesecke war eines Sommertags in Neustadt
gewesen und hatte sein Roesslein in der kleinen Ausspannung des dortigen
Paulinenverehrers untergestellt. Von ungefaehr hatte er dann von der
Sommerlaube im Gaertchen aus das Gespraech zweier Neustaedter Burschen
belauscht, die sich verschworen, mit ihrem Freund, dem Gastwirt, und noch
zwei anderen am naechsten Mittwoch gen Waltersburg zu ziehen, und falls sie
in der Daemmerung am Gartenzaun des Forellenbauern den Schulzensohn im
traulichen Gespraech mit Pauline erwischten, diesen greulich zu verbleuen,
auch sonst an umherschweifendem Burschenvolk des verhassten Waltersburg ihr
Muetchen zu kuehlen.

Als Piesecke solches hoerte, kam sein fuerstliches Blut in Wallung.
(Piesecke stammt aus einer Heldenfamilie. Sein Urgrossvater hatte als
General in fuenf Treffen gegen Napoleon I. nicht gesiegt!) Waehrend er nun
gen Waltersburg heimfuhr, entwarf Piesecke einen Feldzugsplan, wie dem
Anschlag der Neustaedter siegreich zu begegnen und die Ehre Waltersburgs zu
retten sei. Er warb zunaechst ein Heer. In dasselbe traten mit grosser
Begeisterung ausser dem Schulzensohn der Komponist Emmerich sowie der Maler
Methusalem vom Forellenhof, auch der Saenger Hagen Korrundt, der immer noch
bei uns nachtwaechterte, und die gegenwaertigen Insassen unserer
Raeuberhoehle. Diese letzteren waren vier fragwuerdige Gestalten, die sich
Schinderhannes, Karaseck, Jaromir und Moor nannten, ein faules,
unordentliches Leben fuehrten und nun froh waren, dass sie einmal etwas
Rechtes zu tun bekamen. Acht Mann und er, Piesecke, als Anfuehrer gegen
fuenf Neustaedter - mit dieser betraechtlichen Uebermacht, hauptsaechlich aber
durch seine ueberlegene Strategie, hoffte der Nachkomme des
Napoleonbekaempfers den Sieg zu erringen.

In der Raeuberhoehle hat Piesecke seinen Plan entwickelt. Die Schlacht
sollte nicht am Gartenzaune stattfinden; denn erstens ueberlasse ein guter
Feldherr die Wahl des Schlachtfeldes nie seinem Gegner, sondern bestimme
selbst, wo er sich schlagen wolle, und zweitens koennte am Gartenzaun Vater
Barthel oder Frau Susanne dazukommen, und dann gaebe es ein Malheur. Anton
sollte vielmehr im Abendscheine mit seiner Braut weiter den Wiesenweg gen
Waltersburg hinabwandeln bis zweihundert Schritt hinter die naechste
Waldecke und daselbst dicht am Bach abwarten, bis er von den lauernden
Neustaedtern angefallen wuerde. Alsbald wuerde er ihm mit noch sechs Mann zu
Hilfe eilen, die ueberraschten Neustaedter wuerden - die Uebermacht erkennend
und bedrueckt durch ihr schlechtes Gewissen - die Flucht hinab gen
Waltersburg ergreifen wollen, aber da wuerden Moor und Schinderhannes, die
weiter unten in den Hinterhalt gelegt wuerden, hervorbrechen, den
Neustaedtern den Weg verlegen und - die ganze Rasselbande sei gefangen. Er
wolle ein fuer die Neustaedter sehr demuetigendes Dokument aufsetzen, das die
Gefangenen unterzeichnen und in dem sie ihre voellige Niederlage zugeben
muessten, und dieses Dokument solle in der Raeuberhoehle unter Glas und Rahmen
aufbewahrt werden als ein Zeichen, dass der langjaehrige Kampf zwischen
Waltersburg und Neustadt mit dem endgueltigen Sieg der Waltersburger
geendet habe. Dem unbequemen Mitbewerber um Pauline aber werde man zu
einem unfreiwilligen Bad im Bach verhelfen, wodurch alle waermeren Gefuehle,
die die Jungfrau etwa in ihrem Herzen noch fuer den Gastwirt hegen sollte,
abgekuehlt werden wuerden; denn er, Piesecke, wisse aus seinem eigenen
bewegten Leben aus vielen Faellen, dass nichts so sicher die Liebe des
Weibes ertoetet, als wenn der Geliebte vor ihr laecherlich wird.

Waehrend dieser Ausfuehrungen hatte Emmerich bereits auf dem Tisch einen
Siegesmarsch komponiert und Methusalem auf der einen weissgetuenchten Wand
die Umrisse zu einem Triptychon grossen Umfangs entworfen. Die Seitenteile
des Bildes sollten die "Tuecke" und der "Kampf" heissen, das Mittelstueck
aber "Der Sieg".

Die "Tuecke" wuerde Anton und Pauline im Daemmerlicht dahinwandelnd und von
den Neustaedter Unholden belauert zeigen, der "Kampf" eine besonders
dramatische Szene aus der Waldschlacht darstellen und das Mittelstueck den
Sieg Waltersburgs in grosser Apotheose feiern. Das Mittelstueck war schon
etwas ausgefuehrt. Im Hintergrund der Forellenhof, auf einem Ross Piesecke
als Triumphator voranreitend, ihm folgend Anton und Pauline mit Kraenzen im
Haar; als naechstes Paar die Vertreter der Kuenste, Emmerich mit der Harfe
und Methusalem selbst mit einem Farbentopf und Pinsel, zuletzt die
baerenhaeutigen Kriegsgenossen.

Und nun musste die ganze Kriegsgenossenschaft stundenlang stillsitzen, da
der Maler sie zeichnete. Emmerich benutzte die Zeit, ihnen seinen
Siegesmarsch, zu dem er rasch eine Textunterlage geschaffen hatte,
einzuueben.

"So", sagte nach einer Stunde Methusalem, "der Sieg ist ganz und die Tuecke
teilweise gesichert; fehlt bloss der Kampf."

"Der wird gigantisch!" rief Piesecke.

Die Sache verlief nicht ganz programmaessig. Zwar gingen die Neustaedter
wirklich in die Falle und ueberfielen Anton zweihundert Meter jenseits der
Waldecke, aber die Kerle rissen nicht - wie vorausgesehen - durch die
Uebermacht erschreckt und ihr boeses Gewissen beunruhigt aus, sondern
blieben da, und da sie sehr handfeste Burschen waren, verhieben sie die
Waltersburger jaemmerlich. Das kam aber daher, dass sich die in Anrechnung
gebrachte Uebermacht Waltersburgs alsbald in eine faktische Minoritaet
verwandelte; denn der Feldherr Piesecke wurde gleich bei Beginn der
Schlacht dadurch kampfunfaehig gemacht, dass ihn ein riesenhafter Neustaedter
Braeuknecht in die Hoehe hob und in den Bach warf; Methusalem konnte sich an
dem Ringen auch nicht beteiligen, da er etwas abseits stehen und die Szene
mit dem Bleistift in rasender Geschwindigkeit in seinem Skizzenbuch
verewigen musste, und der Musiker Emmerich fuehlte sich dazu berufen,
ebenfalls abseits zu stehen und den Mut seiner Kameraden durch Absingung
seiner Siegeshymne anzufeuern. So kaempften nur der Saenger Hagen Korrundt,
der Braeutigam Anton und die Raubgesellen Karaseck und Jaromir, die aber -
da sie in ihrem Privatberuf Wiener Gigerls waren - gegen die rohe Gewalt
der Neustaedter Raufer nicht aufkamen. Es gab fuerchterliche Pruegel, und der
Maler Methusalem rettete Waltersburgs Ruhm nur dadurch, dass er
nachtraeglich seine Schlachtskizze umkehrte, wodurch alle, die unten lagen,
nach oben kamen, und umgekehrt. Moor und Schinderhannes, die hundert Meter
weiter unten im Hinterhalt lagen, um den Neustaedtern den Rueckzug
abzuschneiden, hoerten den Skandal, lugten um die Baumstaemme, kamen aber
nicht zu Hilfe, da sie doch eben im Hinterhalt zu liegen hatten.

Wer weiss, wie schrecklich diese Schlacht bei Waltersburg noch ausgelaufen
waere, wenn nicht eine starke auswaertige Macht sich eingemischt haette.
Durch den Wald erscholl ploetzlich eine scharfe Stimme:

"Pauline! Pauline!"

Pauline hatte bis jetzt an einer Birke gelehnt und zu einem Vierteil mit
Entsetzen, zu drei Vierteilen aber mit Stolz zugesehen, welch grauses
Maennerwerk da fuer sie und um sie getan wurde. Als sie nun aber die rufende
Stimme hoerte, schrie sie:

"Um Himmels willen, die Mutter! Macht, dass ihr fortkommt!"

Drauf rissen erst die beiden Braeutigame aus, und mit ihnen verlor sich
rasch ihr Anhang. Pauline eilte nach Hause zu und bekam von ihrer
energischen Mama ein paar Ohrfeigen, weil sie sich "herumgetrieben" habe;
alles Mannesvolk aber fluechtete gen Waltersburg.

Und da hat es sich begeben, dass der Neustaedter Gastwirt, der den Rueckzug
der anderen deckte, als er sich ausser Frau Susannes Ruf- und Sehweite
fuehlte, doch noch in die Haende der Waltersburger fiel. Sechs Mann haben
ihn gefangengenommen und ihn nochmals verpruegeln wollen. Aber Methusalem
hat gesagt:

"Pst! Man darf sich an einem geschlagenen tapferen Feinde nicht
versuendigen! Man soll ihn vielmehr ehren. Deshalb werde ich dem Feinde
jetzt mit der schoenen gruenen Farbe, die ich in diesem Flaeschchen habe,
einen Lorbeerzweig auf die Stirn malen."

Der Gastwirt hat mit Haenden und Fuessen geschlagen, aber sechs Kerle haben
ihn gehalten, und Methusalem hat ihm einen Lorbeerzweig auf die Stirn
gemalt. Mit Oelfarbe!

Der Gastwirt hat sich in Neustadt nicht mehr sehen lassen koennen und nach
drei Tagen Selbstmordgedanken gehabt. Da hat ihm Methusalem ein Mittel
geschickt, durch das er die unerwuenschte Ehrung abwaschen konnte.

Aus dem Triptychon ist nichts geworden. Nur eine schoene Bleistiftskizze
von Methusalem, auf der alle Waltersburger oben liegen, ist unseren
Sammlungen einverleibt und zeugt von der Schlacht auf unseren Gemarkungen,
die sich gegen den Erbfeind Neustadt abgespielt hat.

Piesecke hat an jenem Abend grollend am Bachrand gesessen, triefend vor
Naesse, und alle Schwachheit und Feigheit der Kaempfenden sowie die
Niedertracht der nicht in den Kampf eingreifenden Teile seines Heeres mit
einem einzigen, aus seinem hochfuerstlichen Mund hervorzischenden Wort
charakterisiert:

"Plebs!"





                                  HERBST


Das erste Halbjahr, da das Ferienheim in Betrieb ist, geht zu Ende. Wenn
ich es ueberschaue, erfuellt mein Herz rechte Befriedigung. Nicht nur der
aeusseren Erfolge wegen. Unser Unternehmen steht glaenzend da. Wir haben
lange nicht alle aufnehmen koennen, die zu uns kommen wollten. Die Ernte
auf den Feldern und in den Gaerten war gut, unsere Bauern sind zufrieden,
und unsere Kassen und Kasten sind gefuellt. Vieles, ja das meiste, verdankt
dieser aeussere Erfolg der glaenzenden Organisation, die Stefenson dem Ganzen
gegeben hat und die er von Amerika aus geleitet und weiter ausgebaut hat,
wenn auch der Sonderling noch immer nicht nach Europa zurueckgekehrt ist.

Was mich als Arzt und Mensch am meisten freut, ist der Umstand, dass kaum
einer unserer Kurgaeste ohne grossen gesundheitlichen Gewinn von uns
fortgezogen ist. Das bestaetigt meine eigene Erfahrung, das bestaetigen
meine Kollegen, das sagen vor allem unsere Kurgaeste selbst, die schweren
Herzens Abschied nehmen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Wenn sie nach dem
Rathaus kommen, ihre Uhr, ihr Geld zurueckerhalten, liegen diese Dinge kalt
und fremd in ihren Haenden, und wenn sie im "Zeughaus" ihre eigenen Kleider
wieder anlegen und, ohne noch einmal umkehren zu duerfen, durch die grosse
Hinterpforte auf die Strasse gelassen werden, wo der Wagen wartet, stehen
die meisten befangen da wie aengstliches Volk, das zum ersten Male in die
Welt zieht. So sicher, geborgen und heimisch haben sie sich in ihren
Ferien vom Ich gefuehlt.

Sie schreiben alle freundliche Briefe des Dankes und guten Erinnerns und
sagen, dass sie draussen unsere Anstalt preisen, und wenn sie dem oft
gehoerten Einwand begegnen, es sei wohl doch eine etwas kindliche,
theatralische Sache, so beklagten sie alle diejenigen, die nicht wuessten,
wie herzstaerkend und verjuengend die Rueckkehr zu kindlicher Schlichtheit
sei und wie sie gerade vom Theatralischen erloese, von der boesen, so
raffiniert eingeuebten und so schwer zu spielenden, immer aber im tiefsten
Grunde erfolglosen Theaterei unseres Lebens ...

Auch diejenigen, die organisch leidend waren, haben durch gewissenhafte
aerztliche Kunst sowie durch die Gemuetsruhe und Herzensheiterkeit, die sie
umfing, die besten Erfolge gehabt.

Der Sommer war gut; es mag Herbst werden. Die Froehlichkeit stirbt deswegen
nicht aus.

Diese grossen Kinder der Welt fuehlen hier alle die tiefe Schoenheit des
Herbstes, von dem sie frueher nichts wussten, als dass mit seiner Ankunft
"Neuanschaffungen" noetig seien, die Gasrechnungen hoeher wurden und die
Theater- und Konzertsaison beginne.

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Nach Andeutungen und Schilderungen eines unserer Kurgaeste will ich
schildern, wie ein Herbstmorgen im Ferienheim verlaeuft.

Der Herbstwind hat gesungen die ganze Nacht. Und wie er an den Fenstern
ruettelt und welkes Laub und duerre Zweige an die Scheiben warf, hat sich
das Menschlein fest in die Decke gehuellt und mit grossen Augen ins Dunkle
gestarrt. Langsam ist seine Phantasie an Bord eines schwarzen
Wolkenschiffes gegangen, das durch das kalte Meer des Himmels fuhr zu
einem unbekannten Ziele. Ein schwarzer Mann stand am Steuer des Schiffes;
muede, schweigende Seelen lehnten oder sassen an seinen Bordwaenden. Lautlos
glitt das Schiff. Nur der Sturm sang seine Melodie, und wilde Gaense
schrien ihr Sehnsuchtslied in den Wind. Sie folgten dem Schiff wie grosse
Moewen, und ihr weisses Gefieder zuckte gespenstisch durch die Nacht. Unter
dem Wolkenschiff war der grosse Ozean der Luft. Menschenhaeuser lagen wie
Muscheln auf dem Meeresgrund, die Waelder standen wie seltsames wirres
Gewaechs wilder Schlingpflanzen, manchmal ragte ein Berg auf wie eine
Insel, um die das Wolkenschiff herumschwimmen musste. Von der Insel glimmte
das Licht einer Berghuette her wie der Schimmer einer Lampe aus einsamem
Strandhaus. Ein Felsen ragte auf wie eine Klippe, an der ein
unvorsichtiges Schiff zerschellen kann. Das Luftmeer rollte, grollte,
stampfte, es schleuderte die schwarze Flotte der Nacht hin und her. Die
wilde Fahrt war voll Grausen, aber auch voll Schoenheit. Immerzu, immerzu
ging es vorwaerts. Da drang ein Laeuten aus der Tiefe. Irgendein Vineta lag
drunten auf dem Grund, da gingen die Glocken. Nun wurde ein lichter
Schimmer am Horizont sichtbar. Dort lagen die weissen Berge des Morgens.
Und im Morgenlande lag die Heimat.

Da fielen dem Traeumer die Augen zu - er stieg herab von dem dunklen Schiff
-, stieg ans lichte Land und war zu Hause. Weib und Kind waren bei ihm,
und die guten Freunde kamen und schuettelten ihm die Haende.

Er erzaehlte ihnen, wo er gewesen sei.

Da klopfte es an die Tuer.

"Gottfried, stehen Sie auf, es ist halb sieben Uhr!"

Gottfried rieb sich die Augen und besann sich. Richtig, er war nicht auf
einem Wolkenschiffe, er war auch nicht zu Hause, er war Kurgast im
Ferienheim, richtiger gesagt Bauernknecht auf dem Forellenhofe.

Sechseinhalb! Es war noch ganz dunkel in der Stube. Und kalt war es. Ein
feiner Regen spritzte ans Fenster. Jetzt waere es wohlig, noch eine oder
zwei Stunden zu schlafen. Ach, bloss noch ein paar Minuten! Sacht beginnt
"Gottfried" wieder einzuschlafen. Aber in dem Augenblick, da sich das
Bewusstsein vom letzten Faden loesen will, schrickt er auf und springt mit
beiden Beinen aus dem Bett. Er wird sich doch nicht von dem Barthel - dem
Bauern - einen Meldezettel an den Arzt schreiben lassen wie ein
Schuljunge, der was "pexiert" hat, von seinem Lehrer. Dieser Barthel ist
ein ganz netter Kerl, aber er "klemmt" einen sofort, falls man ueber die
Hausordnung hinweggeht. Und es ist so bloed, sich dann beim Doktor
entschuldigen zu muessen. Unglaublich, wie leicht ein Mensch in die alten
Pennaeleraengste zuruecksinken kann. Also aufstehen! Beim Anziehen haelt man
sich hier nicht lange auf, es ist zu kalt in der Bude. Auch das
Waschwasser ist kalt. Warmes muesste extra verordnet werden. Und man schaemt
sich hier unglaublich, wenn man so etwas wie verfeinerte Beduerfnisse
erkennen lassen will. Es passt nicht zu einem, wenn man Gottfried Stumpe
heisst. Eigentlich war's doch schoen im Traume, so ploetzlich zu Hause zu
sein. Wie sie alle zaertlich und besorgt waren und nach den Augen schauten,
ob da ein Wunsch abzulesen sei. Hier war das anders, hier hiess es nicht
wuenschen, sondern gehorchen. Ein Wunder war's ja nicht, wenn man manchmal
ein bisschen Heimweh hatte, zumal man fast gar nichts von Hause erfuhr.
Gestern war eine Postkarte gekommen, nach sechs Wochen die erste
Nachricht. "Lieber Mann! Bei uns sind alle wohl, und es ist alles in guter
Ordnung. Wir denken Deiner in Liebe und haben nur den einen Wunsch, dass Du
Dich voellig erholst. Mit treuen Gruessen Dein Weib und Deine Kinder." Das
war alles. Es war ja eigentlich genug, es war ganz nach dem Herzen der
Kurdirektion; aber Details fehlten gaenzlich. Ob nun Fritzchen im
Griechischen auf das volle "Genuegend" gekommen war, ob Lenchen waehrend der
Ferien zum Grossvater reiste, ob der Kollege Neumann sich wirklich den
Adlerorden erschlichen hatte, wer Stadtverordnetenvorsteher geworden war,
wie die Elektrizitaetsaktien standen - ah, kein Wort! Das ging ihn
wahrscheinlich nichts an, ihn, den Knecht Gottfried Stumpe. Auf die
gewohnte Anrede "Herr Amtsgerichtsrat" hatte er beinahe voellig vergessen.
Sie war ihm wie ein Klang aus sagenhafter Zeit. Er war einfach Gottfried.

"Gottfried", hatte gestern die dicke Susanne gesagt, "helfen Se mir mal
meine Brille suchen; ich hab mir se verlegt und muss die Butterrechnung
schreiben."

So wurde man sogar zu persoenlichen Dienstleistungen herangezogen. "Man",
der Herr Amtsgerichtsrat! Wie oft ueberhaupt dieses Weib, die Susanne, die
Brille verlegt, ist unglaublich. Methusalem hat ihr jetzt eine Art
Soldatengurt gestiftet, daran haengt wie eine kleine Saebelscheide das
Brillenfutteral. Da soll sie ihre Augenwaffe immer bei sich haben. Aber
sie traegt das Koppel nicht, sie hat es dem Methusalem um die Ohren
schlagen wollen.

Dieser Methusalem ist ein ganz netter Kerl; nur, er erlaubt sich zuviel
Frechheiten. Ihn, den Amtsgerichtsrat, hat er gezeichnet. Aber nur von
hinten. Er sagt, er haette einen interessanten Ruecken.

Das Waschwasser ist abscheulich kalt. Und der Spiegel ist klein. Von
ordentlichem Frisieren ist keine Rede. Den Nackenscheitel hat er laengst
aufgegeben.

Richtig, jetzt kommt noch das Schandvieh, der vom Doktor verordnete
Dackel, verbeisst sich in die herabhaengenden Hosentraeger und zieht und
zerrt daran. "Man" macht eine Bewegung, wie Pferde, die nach hinten
ausschlagen wollen, verliert dabei seinen Pantoffel und bemerkt, dass der
Dackel die Hosentraeger jaehlings loslaesst, sich auf den Pantoffel stuerzt und
mit ihm unter dem Bett verschwindet. Mag er. Mag er ihn zerfressen! Der
Pantoffel gehoert der Kurverwaltung. Und der Dackel ist ihm oktroyiert.
Einfach oktroyiert! Er hat Hunde nie leiden moegen. Schon gar nicht als
Schlafkumpane. Er hat sie immer als wandelnde Flohfabriken verabscheut.
Methusalem hat neulich einen "wissenschaftlichen" Vortrag im Rathaussaal
gehalten und vorher durch oeffentlichen Anschlag angekuendigt. Das Thema
lautete: "Kann der Mensch (_homo sapiens_) von dem Hunde (_canis
familiaris_) einen Floh (_pulex irretans_) erhalten?" Er - Amtsgerichtsrat
_Dr._ - nein, Gottfried Stumpe, hat den Bloedsinn nicht mitmachen wollen.
Zuletzt hat er gerade an dem Vortragsabend rein gar nichts vorgehabt und -
um die Zeit totzuschlagen - hingehen wollen. Aber da hat es geheissen: Der
Saal sei ueberfuellt, die Polizei lasse niemand mehr zu. Tags darauf hat am
Rathaus eine "Rezension" des Methusalemschen Vortrags ausgehangen. Isidor
Karfunkelstein vom Grundhof hat sie geschrieben. Natuerlich Blech! Am
Schluss hat es da geheissen: "So wies der Vortragende in seiner lichtvollen,
hinreissenden Art aufs ueberzeugendste nach, dass Hunde- und Menschenfloh
zwei ganz verschiedene Spezien sind, dass es einem Hundefloh niemals
einfalle, die schoen behaarten Jagdgruende seiner tierischen Pfruende
freiwillig zu verlassen, um auf dem glatten Parkett der Menschenhaut
ungluecklich zu debutieren; dass dem Hundefloh das tierische Blut viel
besser munde als das menschliche; dass ein bei einem Menschen gefundener
Hundefloh eine ausserordentliche Ausnahme, einen armen Verirrten darstelle,
der hoellisch an Heimweh leide, kurz, dass wohl ein Dackel von einem
Menschen einen Floh bekommen koenne, aber nicht umgekehrt. Eine Resolution,
die darauf hinausging: die Mitglieder der Versammlung als Angehoerige der
Kulturwelt seien fest entschlossen, den alten Aberglauben, dass ein _pulex
irretans_ vom _canis familiaris_ freiwillig zum _homo sapiens_ uebergehe,
auszurotten, wurde mit ueberwaeltigender Mehrheit angenommen. Die
ohnmaechtige geringe Opposition wurde ausgelacht."

Das war also ein "wissenschaftlicher Vortrag" in diesen Ferien vom Ich.

Verrueckt! Aber alles Volk lief hin, Herren und Damen! Rauften um die
Plaetze!

Nun hat das Beest, der Dackel, den Pantoffel wirklich zerfetzt. Er guckt -
mit elenden Plueschueberresten in der Schnauze - hoechst durchtrieben unter
dem Bett hervor, und seine weit aufgerissenen Augen fragten: Gibt es nun
Keile oder nicht?

Er schlaegt ihn nicht. Mag Vater Barthel neue Pantoffeln besorgen.

Er regt sich nicht auf. Dazu ist er nicht da. Frueher wuerde er gekollert
haben. Jetzt nicht mehr. Er ist Gottfried Stumpe, dem solche Kleinigkeiten
sehr egal sind.

Der Dackel versteckt inzwischen die Zeichen seiner Schandtat weit unter
dem Bett, dann kommt er naeher, macht ein aeusserst treuherziges Gesicht,
wedelt mit dem Schwanze und bietet das Bild unverdaechtigster
Harmlosigkeit. Gottfried sieht ihn an, beschliesst, die abscheuliche
Heuchelei zu uebersehen und sagt einfach und gelassen:

"Du bist ein Schweinekerl!"

Der Dackel blinzelt nach dem Fusse, auf dem sein "Herrchen" in blossen
Socken steht, nimmt den "Schweinekerl" als etwas ganz Selbstverstaendliches
hin und springt dann zaertlich an dem von ihm liebreich geneckten Manne in
die Hoehe. Und der schabt ihm freundlich den Nacken, dort, wo das Fell so
lose sitzt wie ein viel zu weiter Anzug.

"Gottfried, maehren Sie nicht wieder so lange beim Anziehen! Sie erkaelten
sich!"

Das war Vater Barthel. "Maehren" hatte er gesagt. Der Mann war nicht
satisfaktionsfaehig. Wenn ihm frueher mal einer "Maehren Sie nicht so lange"
gesagt haette! Zum Beispiel, als er in Sachen Pimpel _contra_ Karsubke
wegen eines Objektes von drei Mark und fuenfzig Pfennig neun Termine
ansetzte, von dem der letzte drei Stunden dauerte!

Tja - Ferien vom Ich!

Der Treppenflur ist durch den gelbroten Schein von Petroleumlampen
erleuchtet. Petroleum ist ein Licht, das aus der Erde gequollen ist. Darum
ist es wahrscheinlich so warm. Leute, die um eine Petroleumlampe sitzen,
sehen alle aus wie Bergvolk, das im Innern der Erde haust -
halbbeleuchtete Hoehlengesichter, die sich an den dunkel bleibenden Waenden
doch hell abheben. Alles im Zauberschein stillen, trauten Zusammenhockens,
ein Wissen und Bekennen: draussen ist Nacht. Alles andere grellere Licht
luegt den Tag vor.

Im Hausflur unten sagt die huebsche Magd Emilie: "Hoppla!", weil Herr
Gottfried an ihre Milchkanne stoesst. Und dann tritt er in die grosse
Bauernstube. Da umfaengt ihn das ganze grosse Behagen des zu frueh Erwachten,
der in eine warme Stube tritt. Alle Glieder dehnen sich in Wohligkeit. Um
den Tisch sitzen schon die Genossen und Genossinnen. Viele trinken Kakao,
andere loeffeln Milchsuppe. Er suppt. Susanne muss ihm den huebschen,
wahrhaft kuenstlerisch geformten Napf zweimal fuellen. Die
Fruehstuecksunterhaltung ist spaerlich und nuechtern wie ueberall. Zu Hause
wuerde er jetzt Kaffee trinken und die Zeitung dazu lesen. Das bisschen
Koffein wuerde ihm wahrscheinlich nichts schaden; aber dass er die Zeitung
wieder mal auf den Tisch hauen oder zerknuellt an die Wand schmeissen wuerde
- das waere schlimmer. Hier gibt's keine Zeitung. Es geht auch so. Sollten
Amerika und Japan inzwischen Krieg bekommen haben, ist's ihm voellig egal,
wer dabei zugrunde geht, gleichgueltiger als der vom Dackel zernagte
Latschen.

Der Regen spritzt noch immer an die Scheiben. Ein "Sauwetter" wuerde er zu
Hause sagen, die Gummischuhe anziehen, den Mantelkragen hochschlagen und
auf dem schnellsten Wege zur Strassenbahn trachten, um zum Gericht zu
fahren.

Hier - Gottfried Stumpe - oh weh! Gestern war das Wetter nicht viel
besser, und er hat Duenger fahren muessen. Die Arbeit verteilt Vater
Barthel. Gottfried glaubt, der Bauer habe etwas gegen ihn. Jedenfalls -
das steht fest - dieser Methusalem wird immer bevorzugt. Ist's schoen und
warm, dass er auf dem Kartoffelfelde Allotria mit dem Weibsvolk treiben
kann, geht er hinaus; regnet es und blaest der Wind, wird er zu haeuslichen
Arbeiten verwandt. Alles Protektion auf der Welt! Herr Amtsgerichtsrat Dr.
- nein, Gottfried Stumpe, haette nie gedacht, es noetig zu haben, sich um
das besondere Wohlwollen eines Bauern Barthel oder einer Frau Susanne
bemuehen zu muessen. Er verschmaeht auch alle Liebedienerei, um sich
Verguenstigungen zu verschaffen. Dieser Methusalem - er ist ja sonst ein
netter Kerl - ist schon fuenf Monate hier, aber eigentlich ein Kriecher;
denn er soll Frau Susanne auf einem Schaffboden in einer fabelhaft
geschmeichelten Weise portraetiert haben, dass er, trotz gelegentlicher
Anrempelung, lieb Kind im Hause ist und bleibt. Denn Susannes Bild haengt
jetzt in einer Muenchener Ausstellung; das schmeichelt natuerlich solch
alter Schachtel gewaltig.

Die dicke Lene drueben am Nachbartisch - Gottfried muesste sich furchtbar
taeuschen, wenn er in ihr nicht die Gattin des Juweliers Rosenbaum erkannt
haette - sagt eben Vater Barthel eine plumpe Schmeichelei ueber seine
Uhrkette, die ein klobiges Ding ist und vielleicht einen Taler gekostet
hat. Aber Barthel, der ein geriebener Patron ist, merkt den Braten und
sagt:

"Ja, ja, Lene, meine Uhrkette is zwar sehr schoen; aber Rueben abkloppen
muessen Sie heute trotzdem."

"Es ist so furchtbar kalt!" stoehnt die Dicke.

"Lene", belehrte sie Vater Barthel wohlwollend; "es is kalt, das is wahr.
Aber Sie sind hier, um duenner zu werden, und Kaelte zieht die Koerper
zusammen."

Saemtliche Fruehstuecksleute grinsen. Auch Gottfried freut sich. Gestern, als
er Duenger fahren musste, hat er sich bloss damit getroestet, dass es die
Arbeiter auf dem Ruebenstande noch schlimmer hatten als er. Die Rueben aus
dem nasskalten, manschigen Acker zu nehmen, sie aneinander zu "klopfen",
damit ueberfluessige Erde abfaellt, und sie fuer den Wagen zu sammeln, ist an
solchen Regentagen keine schoene Arbeit und nichts weniger als Manikure.
Die Finger werden blaurot. Nur Pulswaermer helfen etwas. Scheusslich. Er -
Gottfried - freut sich auf seine Duengerfuhre. Da pendelt er so langsam
neben seinen beiden nachdenklichen Roesslein einher, und der Ammoniakgeruch,
den seine Ladung ausstroemt, stoert ihn nicht. Der soll sogar ausgezeichnet
gesund fuer die Lungen sein.

"Methusalem, Sie werden heute Holz hacken!" hoert er Vater Barthel weiter
reden.

Richtig! Es regnete - folglich blieb Methusalem im Trockenen.

Gottfried hasste in diesem Augenblick den Methusalem, wie er zu Hause den
Kollegen gehasst hatte, der den Adlerorden erschleichen wollte. Solche
Leute verstehen es eben, immer "nach oben" zu schielen.

"Oben" - das waren hier Vater Barthel und Frau Susanne.

Barthel tat so, als ob er unparteiisch sei.

"Das sage ich Ihnen aber, Methusalem, gravieren Sie mir heute wieder ein
Bild auf die Axt, haben Sie das letztemal Holz gehackt!"

Methusalem gelobte, keine Barthelsche Holzaxt mehr zu verunzieren, sondern
fleissig Holz zu hacken. In diesem Augenblick trat der Brieftraeger in die
Stube. Er hatte eine riesige Tasche umgehaengt, und in dieser Tasche
steckte ein einziger Brief.

"Herrn Methusalem auf dem Forellenhof."

Methusalem oeffnete den Brief, las und sank mit einem Seufzer wie
ohnmaechtig auf die Ofenbank. Die Weiber quiekten, am lautesten Susanne.
Barthel hob den auf den Fussboden gefallenen Brief auf und las ihn ohne
weiteres vor:






        "Sehr geehrter Herr!

Ihre von der gesamten Fachkritik glaenzend beurteilte Zeichnung 'Baeuerin
auf dem Schaffboden' ist heute fuer den Preis von fuenftausend Mark verkauft
worden.

                                                 Die Ausstellungsleitung."






Grosse allgemeine Verwundernis.

Frau Susanne wurde knallrot. Dann hielt sie sich die Leinwandschuerze vors
Gesicht. Barthel aber klopfte sie auf die Schulter und sagte:

"Mutter, schaem dich nich! Was kannst du dafuer, dass du so 'ne interessante
Frau bist!"

Methusalem erholte sich, stand auf und bot ein Bild des Jammers.

"Kinder", sprach er mit zerknirschter Stimme, "ihr alle kennt mich und
werdet daher Mitleid mit mir haben. Neunhundertachtundneunzigeinhalbes
Jahr bin ich alt; eineinhalb Jahr habe ich bloss noch zu leben. Und nun
werd' ich ploetzlich ein Kroesus. Dass ich in der kurzen Spanne Zeit meines
irdischen Wallens nicht die Riesensumme von fuenftausend Mark ausgeben
kann, werdet ihr einsehen. Und doch muss sie mangels jeglicher Leibeserben
weggeschafft werden. Ihr koennt glauben, dass dieser Fall mein Gemuet hart
bedrueckt. Doch werden wir Mittel und Wege finden, hier so lange Feste zu
feiern, bis ich von dem Alp des Geldes erloest bin."

Gegen diese Auffassung hielt nun Barthel eine zornspruehende Rede ueber
Sparsamkeit, Maessigkeit und Unvernunft. Manche stimmten ihm zu, andere
widersprachen ihm, es gab ein erhebliches Durcheinander. Inzwischen ging
Frau Susanne immerfort mit roten Wangen und schaemig flimmernden Augen hin
und her.

"Denken Sie doch, Frau Susanne - fuenftausend Mark - in Muenchen auf der
Ausstellung! Fuer Ihr Bild!"

"Ruhe!" kommandierte Barthel. "Wir muessen wieder an ernste Dinge denken.
Ekkehard, Sie nehmen einen Schubkarren, fahr'n 'runter nach Waltersburg
zum Kaufmann Scholz und hol'n das Faesschen Heringe ab, das ich bestellt
hab. Lassen Sie sich's aber recht festbinden, dass es nicht 'runterkugelt!"

"Jawohl!"

"Thusnelda, Emilie-Karlotti, Strunzel und Eva helfen beim Buttermachen."

Vierstimmiger piepsiger Frauenchor:

"Jawohl!"

"Knusperhase, Friedrich Schiller, Li-hung-tschang, Mussolini und Fuhrmann
Henschel werden Aeppel pfluecken. Baerbel und die Lustige Witwe werden die
Aeppel nach der Aeppelkammer tragen."

Septett: "Jawohl!"

"Der Alte Dessauer hat Jagdurlaub bis zum Abendbrot; das Veilchen im
Winkel wird helfen, die Heringe einmarinieren, die Ekkehard bringt;
Piesecke kommt zwei Stunden lang an die Jauchenpumpe; Andreas Hofer,
Moritz Arndt, Fitzlibutzli, der Knecht Elieser, Ali-Baba und Jeremias
Gotthelf gehen zum Ackern aufs Feld. Lene und Joachim Hans von Ziethen
helfen beim Ruebenabkloppen. Fehlt noch jemand?"

Herr Amtsgerichtsrat Dr. - nein Gottfried Stumpe, erhob sich.

"Ich!"

"Ach so - Sie, Gottfried! Nu, Sie helfen auch beim Ruebenabkloppen."

Gottfried erblasste. Zu widersprechen wagte er nicht. Er hoerte nur noch mit
beissendem Ingrimm, dass Barthel den Methusalem aus Anlass seines Briefes
einen Tag beurlauben wollte. Methusalem aber wies die Ehre zurueck.

"Nimmermehr!" rief er pathetisch, "denn sehen Sie, Vater Barthel, eine
ungeheure Lebenslust, ein Kraftueberschuss durchstroemt ploetzlich meinen fast
tausendjaehrigen Leib. Ich komme mir vor wie ein Fuenfunddreissiger. Wo soll
ich hin mit der Freud? Austoben muss ich mich. Und das kann ich nur, wenn
ich Holz hacke. Ich will keinen Urlaub, ich hacke Holz!"

Punkt ein Viertel nach sieben Uhr erklaerte Barthel das Fruehstueck fuer
aufgehoben. Nun gingen alle ihre Wege, die meisten hinauf nach den
Badehaeusern, um ihre "Anwendungen" zu machen. Auch Gottfried Stumpe
schritt hinaus in den fein spruehenden Regen. Er war sehr schlechter Laune.
Auf seinem Kurzettel stand heute ein zehn Minuten langes Bedampfen des
Magens (er litt an Magennerven), dann ein Buerstbad mit nachfolgendem
kuehlen Abguss. Was so die Nervoesen bekommen! Frueher war er auch massiert
worden und hatte im Gymnastiksaale turnen muessen. Jetzt fiel das weg.
Wahrscheinlich war er schon zu gesund zu solch anstaendiger Behandlung.
Jetzt musste er einfach arbeiten. Rueben abkloppen. Mit Maegden und alten
Weibern zusammen. Scheusslich!

Es war ein reines Wunder, wie man sich das als Kulturmensch gefallen liess.
Dass man nicht einfach sagte: Rutscht mir den Buckel lang; ich reise ab!
Solche Schweinerei, wie Rueben, die im Dreck liegen, abzukloppen, mache ich
nicht mit! Man reiste aber nicht ab. Man wusste, dass sich die Kurverwaltung
aus einer Abreise rein gar nichts machte, weil schon immer Hunderte darauf
warteten, neu eingereiht zu werden. Alle Widerstandskraft verliert man bei
dem Gedanken: sie brauchen dich nicht, du aber brauchst sie. Denn es war
nicht zu leugnen, dass man hier absolut von Grund auf gesuender wurde.

Also bis acht Uhr war er mit seinen Anwendungen fertig; dann musste er sich
nach der kuehlen Abgiessung eine halbe Stunde lang warm laufen; dann durfte
er eine halbe Stunde lang in irgendeinem bequemen Lehnstuhl des Kurhauses
verpusten.

Dann aber musste er unwiderruflich aufs Feld.

Rueben abkloppen! Wenn nur inzwischen der elende Spruehregen aufhoerte. Ein
einziger Trost war, dass bei solchem Wetter das Aepfelpfluecken vom nassen
Baum auch kein Heidenspass war.

Wie kaemen sonst gerade Friedrich Schiller, Mussolini und Fuhrmann Henschel
dazu, dass sie ...

Neid und Missgunst plagten ihn immer noch etwas; auch war er noch reichlich
oft schlechter Laune. Das kam wahrscheinlich vom Magen. Aber es war doch
schon zehnmal besser mit ihm als zu Hause. Wie hatte er da oft getobt und
gekollert, mit dem Gerichtsdiener, mit den Angeklagten, mit den Zeugen, ja
mit Weib und Kind. Die Fliege an der Wand aergerte ihn, das Klopfen des
Regens ans Fenster regte ihn auf. Jetzt - wer diesen Dackel und diesen
Vater Barthel vertrug, ohne tobsuechtig zu werden, musste schon sehr gesund
sein.

Bei seinem Spaziergange traf Gottfried seinen Freund Emanuel Geibel vom
Sonnenhof. Das war der Mann, mit dem er sich am besten verstand, mit dem
er wirklich befreundet war. Sie hatten sich eines Tages beim Pilzesuchen
an einem Waldrande getroffen, jeder mit einem Koerbchen und einem Messer
bewaffnet, hatten einander gegenuebergestanden und gelacht. Dann hatten sie
sich einander vorbestellt: "Emanuel Geibel vom Sonnenhof - Gottfried
Stumpe vom Forellenhof. Freut mich! Freut mich!" Und am sonnigen Waldrande
gesessen und geschwatzt. Allmaehlich aber waren sie in zivilisiertes
Gespraech gekommen, auf Hygiene im allgemeinen, auf Volkswirtschaftliches,
auf hohe, schliesslich auf ganz hohe Politik, dann noch hoeher hinauf auf
die Kunst, haben sogar einen etwas torkeligen Aufstieg in metaphysische
Gebiete versucht, sich in die Firnenzonen der Philosophie und Religion
verklettert und sind dann mit einem waghalsigen Sprung auf die letzte
Gipfelhoehe der Menschheit gesetzt - auf den im Blauschnee glitzernden,
aller gewoehnlichen Sterblichkeit ewig unerreichbaren Gaurisankar der
heiligen Jurisprudenz.

Da ist dem Amtsgerichtsrat etwas schwindelig geworden. Emanuel Geibel
entpuppte sich als ein hervorragender Jurist, als eiskalter
Verstandesmensch, als einer, der nicht nur ueber den Hanswurst, den
jetzigen Justizminister, spottete, der mit seinem geistigen Zwergenmass die
Riesenschleppe des Ministertalars gar zu possierlich schleifte, sondern
der auch an die Dogmen der anerkanntesten juristischen Groessen mit geradezu
souveraener Ueberlegenheit die Sonde legte. Wie er allein ueber Liszt
urteilte. Dem Amtsgerichtsrat war klar, dass der Mann, der sich unter dem
Namen Emanuel Geibel versteckte, eine eminente Groesse der
Rechtswissenschaft war, hoffentlich der kuenftige Minister. Dann wuerde
vieles an den unhaltbaren verrotteten Zustaenden der heutigen Rechtspflege
gebessert werden. So beschloss der Amtsrichter dreierlei: erstens lieber
gar keine, als eine dumme Bemerkung zu machen, sondern zumeist den andern
reden zu lassen und ihm zuzustimmen; zweitens ganz leise durchschimmern zu
lassen, dass er durch ein ungerechtes Schicksal, vielmehr durch widrige
Gegenstroemungen ins Dunkle gestellt worden sei und gewissermassen auch
etwas mit der Jurisprudenz zu tun habe; drittens privatim sich als
Gottfried Stumpe treuherzig die Sympathie Emanuel Geibels zu erwerben. Das
alles ist gelungen. Eines Tages hat Geibel sogar mit ihm Bruederschaft
gemacht. Denn Emanuel hatte bei allem messerscharfen Verstand ein
poetisches Gemuet, und der Mann, der eben noch Worte gesprochen hatte, von
denen jedes mit Schwefelsaeure getraenkt war, konnte ploetzlich
traumversunken stehenbleiben und seufzen:

   "Oh, darum ist der Lenz so schoen
   Mit Duft und Strahl und Lied,
   Weil singend ueber Tal und Hoeh'n
   So bald er weiterzieht."

Oder, weil ihm eben einfiel, dass gar nicht Fruehlingszeit sei:

    "Herbstlich sonnige Tage,
    Mir beschieden zur Lust,
    Euch mit leiserem Schlage
    Gruesst die atmende Brust.
    Oh, wie waltet die Stunde
    Nun in seliger Ruh;
    Jede schmerzende Wunde
    Schliesset leise sich zu."

Der eiskalt schliessende Jurist hatte sich ganz in die suessen, goldenen
Melodien Geibelscher Lyrik eingesponnen. Und darum wohl hatte er des
Dichters Namen fuer seine Ferien vom Ich gewaehlt. Die Gegensaetze beruehrten
sich auch hier.

Diesem Emanuel Geibel begegnete nun Gottfried Stumpe, als er sich an jenem
feuchtkalten Herbstmorgen nach der Abgiessung "trocken lief". Die Begegnung
war nicht ganz zufaellig. Gottfried wusste, dass Emanuel abreiste. Er habe
nur sechs Wochen Urlaub, hatte Geibel ihm gesagt, er koenne nicht laenger
abkommen. Natuerlich, es gab eben im Justizdienst unersetzliche Kraefte.

Wortkarg stiegen die beiden Freunde miteinander zum "Zeughaus" hinunter.

"Nun gehe ich da hinein", sagte Emanuel traurig, "und komme nicht mehr
durch diese Tuer in unser liebes Heim zurueck, sondern trete auf der anderen
Seite in meinem Weltanzug auf die Strasse hinaus, die ins kalte Leben
zurueckfuehrt. Ach, mein Freund, mir ist sehr schwer ums Herz. Ich wollte,
wir waeren jetzt oben im Walde und suchten Pilze. Ich hab dich gern
gehabt."

Gottfried Stumpe wandte sich zur Seite. Emanuels Seele aber wurde wieder
vom Geiste seines Meisters umfangen, und er sagte mit leisem Beben:

   "Wenn sich zwei Herzen scheiden,
   Die sich dereinst geliebt,
   Das ist ein grosses Leiden,
   Wie's groess'res nimmer gibt;

   Es klingt das Wort so traurig gar:
   Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar!
   Wenn sich zwei Herzen scheiden,
   Die sich dereinst geliebt."

Wohl verwunderte sich Gottfried ueber diese grosse Zartheit, aber sie packte
ihn, und die Augen wurden ihm feucht.

Der Freund ging hinein ins Zeughaus. Auf der anderen Seite wuerde er nun
hinaus auf die Strasse treten, die aus diesen friedlichen Ferien
zurueckfuehrt in die harte Schule des Lebens. Gottfried ging um das Zeughaus
herum und gelangte durch ein Seitenpfoertlein ebenfalls hinaus auf die
Strasse. Er wollte den Freund noch einmal sehen. Mochte er zu spaet auf
Barthels Feld kommen, es war ihm einerlei.

Nach einer Viertelstunde kam Emanuel. Fast haette ihn Gottfried in dem
nuechternen Reiseanzug nicht erkannt.

"Ah, da bist du noch!"

"Ja, ich wollte dich noch einmal sehen."

"Das ist lieb von dir!"

Emanuel zog die Uhr - eine einfache silberne Taschenuhr.

"Ganz fremd mutet mich das Ding an. Es ist so grausam pedantisch. Es zaehlt
Minuten und Sekunden. Drinnen in der Heimat ist es besser, da duerfen einem
nur eine Glocke oder der Grossknecht oder Mond und Sterne sagen, wie spaet
es ist. Und dann das Geld, das bedrueckt mich am meisten. Was soll ich mit
den paar Kroeten tun? Mir eine Burg des Gluecks davon bauen? Lieber Gott!"

"Du wirst noch hoch hinauf kommen!" troestete ihn Gottfried.

"Nein!" sagte Emanuel bitter. "Da drinnen, da ist es ja geboten, ueber das
eigene Ich zu schweigen. Aber hier draussen auf der Landstrasse will ich
mich dir gegenueber nicht verbergen. Ich hab Pech gehabt. Haett' gern
studiert. Aber wie ich in der Unterprima war, starb der Vater. Da musste
ich abgehen von der Schule. Wurde ein Subalternbeamter. Ich bin Sekretaer
am Amtsgericht zu H."

"Emanuel!"

Gottfried rang die Haende ineinander. Ein Subalternbeamter! Dieser
Ministerstuerzer! Dieser Liszt-Kritiker! Dieser gewaltige Umstuerzler von
oben! Ein Sub - sein Duzbruder! Wenn das sein akademischer Stammtisch
wuesste!

"Emanuel!"

Gottfried stand so verdattert da, dass in die weichen Zuege Emanuel Geibels
wieder die essigsaure Schaerfe trat, die aber doch nur zu den resignierten
Worten fuehrte:

"Gottfried! Sie waren da drinnen Gottfried und ich Emanuel - wer wir
draussen sind, braucht uns nicht mehr zu kuemmern, braucht Sie nicht zu
genieren."

"Ich bin Amtsgerichtsrat Dr. Stein", sagte Gottfried noch ganz benommen.

"Dann erlaube ich mir, dem Herrn Amtsgerichtsrat eine weitere erfolgreiche
Kur zu wuenschen", sagte Emanuel hoeflich, verneigte sich, ergriff seine
kleine Handtasche und wollte gehen.

Da aber hatte ihn Gottfried am Arm.

"Nein, lieber Emanuel, wir bleiben Freunde - auch draussen -, verstehst du?
Von dem bloedsinnigen Kastengeist bin ich im Ferienheim befreit worden."

Emanuel setzte die Handtasche auf die Strasse.

"Ich danke dir!" sagte er schlicht, aber in tiefer Freude.

Sie schieden voneinander. Der Amtsgerichtsrat ging mit beklommenem Herzen,
das jeder hat, der von einem Freunde Abschied nahm, nach dem Ruebenfelde.
Da waren die Leute fleissig an der Arbeit. Nur Joachim Hans von Ziethen,
der auch zum Rueben "abkloppen" kommandiert war, sprang in kuehnen
Husarenspruengen ueber ein lustig brennendes Feldfeuerchen hinweg, um sich
warm zu machen, in Wirklichkeit aber - wie der Amtsgerichtsrat mit
neidischem Grimm bei sich feststellte -, um sich von der Arbeit zu
druecken.

Zehn Minuten spaeter sprang er mit ueber das Feuer, bis von ferne die
Gestalt Barthels auftauchte.

Da begaben sich die beiden Drueckeberger schleunigst an die Arbeit.





         VON DER WEIBLICHEN PUTZSUCHT UND HERRN PIESECKES LEIDEN


Gestern vormittag traf ich die kleine Luise, die sich eben von einem
Haufen spielender Kinder trennte.

"Willst du schon aufhoeren zu spielen, Luise? Die Sonne scheint doch so
schoen."

"Ich will zu meiner Mamma."

"Zu deiner Mamma?"

"Ja, nach Hause!"

"Sagst du zu Magdalena jetzt Mamma?"

"Ja. Alle Kinder haben eine Mamma. Ich will auch eine haben. Meine Mamma
soll Magdalena sein."

"Hast du deine Mamma lieb?"

"Lieber wie dich!"

Das klang nicht frech, nur tief ueberzeugt.

"So. Hm. Lieber wie mich! Das glaube ich gern. Ihr spielt wohl schoen
zusammen?"

"Nein, wir schneidern. Wir machen ein Kleid fuer mich. Aber es passt immer
nicht richtig, weil Mamma das Schneidern nicht gelernt hat, und da will
uns jetzt die Selma kein neues Zeug mehr geben."

Selma ist die Beherrscherin unserer weiblichen Schneiderei, eine etwas
schwierige Alte. Das Maedchen ging neben mir her. Mit grosser Munterkeit
sagte sie:

"Wenn Pappa Stefenson da waere, wuerde er die Selma maechtig ausschimpfen,
weil sie sagt, es ist zu teuer, wenn man fuer ein Kinderkleid vierzig Mark
verbuttert und nichts zustande kriegt. Ach, es wird doch so schoen! Wir
naehen alle Tage neue Schleifen dran."

"Ich werde mit der Selma sprechen."

"Ja? Wirst du wirklich? Fuerchtest du dich nicht? Dann sage ihr, wir muessen
ein Meter schottische Seide haben und unten ein bisschen Pelzbesatz. Ich
hab mir's so ausgedacht: oben an dem Kleid will ich einen Matrosenkragen,
in der Mitte will ich schottische Seide und unten Pelzbesatz. Das wird
sehr fein!"

"Ja, das glaube ich. Will das deine Mamma auch so?"

"Mamma will so, wie ich will."

Das war das Maedel, das vor einem Jahr in der Berliner Ackerstrasse
Schnuerbaender verkaufte! Die Erinnerung an diese elende Vergangenheit ist
in ihr voellig erloschen. Gut so! Und auch ihre Kleiderwuensche verstand
ich. Die Kinder hupfen bei uns alle in einer gesunden, einfachen Tracht
umher. Aber ein Maedchen hatte geprahlt, es haette zu Hause ein
Matrosenkleid, ein anderes hatte sich mit einem Kleide mit schottischer
Seide grossgetan, ein drittes sogar von Pelzbesatz gefabelt. So war in
Luise der Wunsch entstanden, alle diese Herrlichkeit in einem einzigen
Kleid zu vereinigen. Die Weibermode setzt ueber die hoechsten Mauern, die
man um ein Ferienheim ziehen kann. Dagegen laesst sich nichts tun. Auch
unsere weibliche Ferienkleidung wird mit tausend Spitzfindigkeiten
"modernisiert" und "stilisiert". Was man allein mit einer heimlich
angebrachten Sicherheitsnadel alles "raffen" kann, wieviel "Schick" man
durch solch einfache Mittel in die vorgeschriebene Gewandung bringen kann,
grenzt ans Wunderbare. Wenn in meinem Ferienheim ueberhaupt mal ein
Aufstand entstehen sollte, wird es eine Frauenrevolution sein. Anfangs
wollte ich fuer alle weiblichen Feriengaeste ein und dieselbe Tracht. Aber
selbst Selma, die, eine Aszetin an Einfachheit und an Grobheit, einem
preussischen Kammerunteroffizier, der Helme und Stiefel "anprobiert", weit
ueberlegen ist, kam mir schliesslich mit dem Vorschlag, vier verschiedene
"Modelle" muessten eingefuehrt werden, eines fuer die Dicken, eines fuer die
Duennen, eines fuer die Langen, eines fuer die Kleinen. Damit habe ich mich
einverstanden erklaert; inzwischen ist bereits noch durchgesetzt worden,
dass die Blonden blaue, die Schwarzen rote Blusen bekommen.

Fuer die kuehlen Abende werden farbige Umschlagtuecher geliefert. Oh, wie
gross sind die Wunder der Schoepfung! Manche unserer Damen drapieren das
Tuch vom Guertel abwaerts um den Kleiderrock, die meisten tragen das Tuch
rechts oder links ueber die Schulter malerisch geworfen, andere machen sich
eine "ungarische Schuerze" daraus, wieder andere eine Muff; Turbane um den
Kopf werden ebenso geschickt aus dem Tuch hergestellt wie schlichte
Nonnenschleier; einige tragen das zusammengelegte Tuch nur ueber dem Arm,
und einige wenige greifen auf den urspruenglichen Zweck zurueck, die
schlagen das Tuch um die Schultern.

Dr. Michael hat die Putzsucht der Frauen fuer eine unheilbare Krankheit
erklaert. Ich bin nicht seiner Meinung. Diese Putzsucht ist keine
Krankheit, sondern eine Naturnotwendigkeit; das Weib muss sich putzen, so
wie sich das Kaetzchen beschlecken muss.

         -------------------------------------------------------

Neulich kam Piesecke zu mir, ausserhalb der Sprechstunde. Er war noch
erregter, als er sonst oft ist, und sprach zunaechst eine Menge wirres Zeug
durcheinander, aus dem hervorgehen sollte, dass er der ungluecklichste
Mensch der Welt sei. Ich unterbrach ihn.

"Piesecke, ich glaube jedes Wort, was Sie sagen, aber sprechen Sie
langsamer! Sprechen Sie recht gelassen! Sagen Sie mir ohne alle
Umschweife, was los ist."

Er rang die Haende ineinander und jammerte:

"Ach Gott, ich liebe sie, ich liebe sie!"

"Wen? Mich?"

"Ach, doch nicht Sie, sondern sie!"

"Also Hanne vom Forellenhof."

"Woher wissen Sie ...?"

"Ich weiss es. Sie haben sich oft genug auffaellig benommen."

"Und wissen Sie auch, dass sie fortzieht?"

"Ja, morgen nachmittag. Sie hat ein gutes Engagement an ein Stadttheater
bekommen."

"Ich ertrag es nicht; oh, ich ertrag es nicht. Sehen Sie, Herr Doktor, Sie
koennen machen mit mir, was Sie wollen, Sie koennen der beste Arzt der Welt
sein, Sie koennen hundert Sanatorien fuer mich bauen, wenn mich dieses
Maedchen verlaesst, bin ich verloren."

"Gruselig!"

"Was sagten Sie?"

"Gruselig!"

"Herr Doktor, spotten Sie nicht! Diesen Verlust ertrage ich wirklich
nicht; er bedeutet mein Ende."

"Dann wird in Ihrer Landeszeitung ein schoener Nekrolog ueber Sie
erscheinen."

Er war empoert.

"Sie haben kein Herz fuer mich. Aber es ist gut, dass Sie von unserer
Landeszeitung gesprochen haben. Schliesslich bin ich doch ein Prinz!"

"Hier nicht! Hier sind Sie Piesecke."

"Das weiss ich; aber ich vergesse nicht, was ich draussen bin. O nein! Sehen
Sie, und das habe ich ihr gesagt."

"Was? Wem?"

"Der Hanne habe ich gesagt, dass ich ein Prinz bin."

"Sie sind wohl verrueckt geworden, Piesecke. Auf solche Indiskretionen
steht die Strafe der Entlassung aus unserer Anstalt."

"Schimpfen Sie nicht, Herr Doktor; ich bin heute schon genug ausgeschimpft
worden."

"Was hat denn Fraeulein Hanne zu Ihrer Quasselei gesagt?"

"Ausgelacht hat sie mich. Sie haelt mich fuer einen Sargfabrikanten aus
Hannover. Stellen Sie sich vor, Herr Doktor, ausgerechnet fuer einen
Sargfabrikanten haelt sie mich."

"Das Geschaeft eines Sargfabrikanten ist ein sehr ehrbares."

"Ach Gott, nun sind Sie auch noch gegen mich. Und ich hatte meine ganze
Hoffnung auf Sie gesetzt. Sie sollten ja Fraeulein Hanne sagen, dass ich
wirklich ein Prinz bin und dass sie ein Engagement an unserer Hofoper
annehmen soll."

"Was haetten denn Sie davon, wenn Fraeulein Hanne in Ihrer Residenzstadt
saenge und Sie inzwischen hier bei uns Duenger fahren muessten?"

"Ich hatte gehofft, Sie wuerden mich fuer ein paar Wintermonate beurlauben."

"Daran denke ich nicht im Traume. Bis zum Mai bleiben Sie laut unserer
Abmachung hier. Das entspricht auch ganz den Intentionen Ihres Herrn
Bruders, des regierenden Fuersten."

Piesecke sass gebrochen vor mir.

"Mit mir ist's alle", sagte er tonlos.

"Mit Ihnen war es alle, mein Lieber, als Sie zu uns kamen. Inzwischen
haben Sie sich aber bei uns einen ganz netten Fonds neuer Lebenskraft
gesammelt."

Er schuettelte trostlos den Kopf.

"Wohl bin ich gesundheitlich vorwaerts gekommen; aber das nuetzt mir alles
nichts mehr - ich muss sterben. Es gibt Dinge, die ein Mensch nicht
verwinden kann."

Ich stand auf.

"Entschuldigen Sie, Piesecke, aber das Mittagessen wartet auf mich. Ich
hab Hunger. Wenn Sie also aus dem Leben scheiden wollen, gehaben Sie sich
wohl! Es freut mich, Sie mal kennengelernt zu haben. Mahlzeit!"

Da fasste ihn der Zorn.

"O nein, Herr Doktor, so entkommen Sie mir nicht! So mit einfach
'Mahlzeit', wenn es um mein Leben geht! Ich bin nicht mehr der willenlose
Mensch, der ich im Mai war. Ich wehre mich meiner Haut. Und da muss ich
Ihnen sagen, dass Ihr Sanatorium eine Moerdergrube ist."

"I, der Dauz!"

"Jawohl, Dauz! Ich werde Sie schon bedauzen! Wissen Sie, wer der neue
Kurgast auf dem Forellenhof ist, der sich Fritz Steiner nennt?"

"Nein!"

"Ein Geheimpolizist aus meiner Vaterstadt ist er. Ich habe ihn
wiedererkannt; denn ich hatte frueher mal mit ihm zu tun. Nun habe ich
gedacht, er sei hergeschickt, um mich zu ueberwachen. Denn er hat mich
frueher schon mal ueberwacht. Aber nein, wie ich ihn gestellt habe, hat er
mir gesagt, dass er auf den langen Ignaz auf dem Forellenhof abzielt. Er
wird den Beweis erbringen, dass Ignaz ein langgesuchter Raubmoerder ist, ein
frueherer Fleischergeselle."

Ich setzte mich wieder.

"Also, Piesecke, ist das wahr?"

"Habe ich Sie je belogen, Herr Doktor?"

"Nein, Piesecke, belogen haben Sie mich nie. Aber taeuscht sich auch Herr
Steiner nicht?"

"Das weiss ich nicht. Er wartet noch etwas vom Gericht ab - ich glaube,
Fingerabdruecke oder so etwas - und dann will er zur Verhaftung schreiten."

Mir wurde unbehaglich.

"Haben Sie auch eine Auseinandersetzung mit dem langen Ignaz gehabt?"

"Jawohl. Er will mich umbringen."

"Bitte, erzaehlen Sie!"

"Er hat mich schon immer verfolgt und gemisshandelt; er ist ein sehr roher
Kerl. Wie ich nun Fraeulein Hanne das gesagt hab, dass - nun, dass ich eben
doch ein Prinz bin, glaubte ich, ich sei mit ihr und mit Vater Barthel
allein in der grossen Stube. Auf einmal kommt der lange Ignaz hinter dem
Ofen hervor, hat gruengelbe Augen und packt mich an der Kehle. Ich habe
mich gewehrt; aber wenn Vater Barthel und Fraeulein Eva mir nicht geholfen
haetten, haette mich der Kerl erwuergt. Wir haben dann den Mordgesellen zur
Tuer hinausgeworfen, aber er hat gedroht, er werde mich schon erwischen."

"Hm. Also, lieber Piesecke, ich gebe Ihnen gern zu, dass mir dieser Knecht
Ignaz auch in hohem Grade unheimlich und widerlich ist. Ist er ein Schuft,
der sich in mein ehrliches, sauberes Heim eingeschlichen hat, dann werde
ich der erste sein, ihn den Behoerden ausliefern zu helfen. Aber auch wenn
er nicht der von den Gerichten Gesuchte ist, wird der brutale Mensch
entfernt werden. Das verspreche ich Ihnen." Piesecke sank schon wieder in
sich zusammen.

"Ach, selbst dieser Raubgesell ist in die blonde Eva verliebt. Und ich
soll sie verlieren! Mag mich doch der Ignaz umbringen. Dann ist es
wenigstens alle mit mir. Ich habe niemand, niemand, der mich gern hat,
nicht einmal einen guten Freund!"

Da tat er mir leid.

"Piesecke", sagte ich, "das duerfen Sie nicht sagen. Sie haben einen guten
Freund. Und das bin ich. Ich will Ihnen das dadurch beweisen, dass ich
Ihnen etwas sage, was noch niemand von mir gehoert hat. Auch ich, Piesecke,
habe die schoene Eva sehr liebgehabt und mir nichts sehnlicher gewuenscht,
als dass sie meine Frau werde."

Er starrte mich an.

"Auch Sie, Herr Doktor? Und warum haben Sie die Eva nicht genommen?"

"Weil sie mich nicht will."

"Sie nicht will?" wiederholte er verwundert. "Sie will nicht mal Sie, und
da soll sie mich wollen?"

Es lag eine ruehrende Demut in dem Ton, in dem er das sagte.

"Sehen Sie, Piesecke, wenn man jemand wirklich liebhat, darf man nicht an
sich selbst denken, soll man nur denken: Werde du gluecklich! Es ist etwas
Grosses und Schoenes um das Verzichten! Wir werden es zusammen tragen. Es
gibt Frauen, die das Glueck oder vielmehr das Unglueck haben, dass alle
Maenner sich in sie verlieben, und gerade das Leben solcher Frauen bleibt
oftmals ganz leer. Wir wollen unserer Eva wuenschen, dass sie gluecklich
wird, und wir zwei wollen zusammenhalten."

Seine leichtsinnigen und doch so grundgutmuetigen Augen schauten mich
feucht an.

"Ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Herr Doktor!"

"Ich habe Sie gern, Piesecke", sagte ich und legte ihm fest die Hand auf
die Schulter.





                              ABSCHIEDSABEND


Am Abend ging ich nach dem Forellenhofe. Die schoene "Hanne" nahm Abschied
von uns. Von Mai an war das Maedchen bei uns, und jetzt, da es gehen
wollte, war mir's, als schwaenden Sommer und Sonne dahin, und es koenne nun
nichts mehr geben als graue Tage. Ich litt wie Piesecke; ich jammerte nur
nicht so. Aber auch vielen anderen Leuten ging Evas Abschied nahe; ich
hoerte, dass die dicke Susanne schon tagelang mit rot verquollenen Augen
herumlaufe.

Wenn der November kam, wuerden sich wahrscheinlich unsere Kurgaeste an Zahl
vermindern; dann wollte ich auch mal ausspannen, wollte fuer ein paar
Wochen Ferien machen. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich dann
wahrscheinlich nach einer grossen Stadt reisen wuerde, nach Berlin oder
Wien. Ich bin nun schon so lange in dieser Einfachheit und in diesem
ruhigen Frieden, dass ich mich wahrhaftig manchmal sehne, in einer
elektrischen Strassenbahn zu fahren, ein gutes Theater zu besuchen, mal in
einem vornehmen Restaurant zu speisen. Es kann gar nicht anders sein: wenn
der Doktor aus dem Friedensidyll einmal Ferien vom Ich machen will, muss er
in Glanz und Laerm hinein. _Variatio delectat._ Ich nehme es unseren Bauern
nicht uebel, dass sie sich zuweilen Sonntags nach Neustadt
hinueberschleichen, um dort ins Kino zu gehen, und die haemischen
Bemerkungen der "Neustaedter Umschau" ueber diesen Fall beweisen nur, dass
das Blatt keine Ahnung von dem Abwechselungsbeduerfnis des Menschen hat.
Wer immer im Laerm sitzt, wird stumpf, wer immer in der Stille ist, auch;
nur die wechselnde Welle traegt des Menschen Schiff.

Dass mich neben diesen Erwaegungen auch der Gedanke leitete, ich koenne meine
Ferienreise vorteilhaft ueber die Stadt verlegen, wo Eva diesen Winter
singen wuerde, wollte ich mir kaum zugestehen. Denn ich hatte doch ein Ende
gemacht mit meiner Liebe; ich wusste doch recht gut, dass ich nicht eher ein
idealer Leiter dieses Ferienheims sein wuerde, als ich nicht selbst von
allen persoenlichen Banden und Sorgen befreit war, dass ich immer noch
selbst zu sehr in der alten Haut steckte ...

Die grosse Stube im Forellenhof war dicht besetzt mit Menschen. Viel alte
Freunde kamen, um sich von Eva zu verabschieden. Ein paar Kraenze von
Astern hingen an den Waenden, die letzten Rosen des Gartens bluehten auf dem
Tisch. Wenn ein Kurgast von uns Abschied nimmt, erhaelt er als Andenken ein
Album ueberreicht, in dem einige gute Bilder nach Radierungen,
Heliogravueren, Aquarellen und Zeichnungen von unserem Heim enthalten sind,
ausserdem aber eine Anzahl Photographien, auf denen der betreffende Gast in
irgendeiner Situation, die er miterlebt hat, verewigt ist. Denn
photographiert wird bei uns viel. Bei der Arbeit, vor dem Bauernhaus, beim
Feldfeuerchen, bei irgendeinem Ulk, beim Waldfest, beim Kirchgang, bei
tausend anderen Gelegenheiten wird von unseren Kurgaesten photographiert.
Und jeder, der auf einem Bilde freiwillig oder unfreiwillig mit
aufgenommen ist, bekommt einen Abzug in sein Album geklebt.

Eva bekam ein Album in vier Baenden. Sie war sehr lange bei uns, und es
hatten gar zu viele Amateure nachgesucht, wenigstens eine ihrer Aufnahmen
in Evas Album zu bringen. Methusalem hatte einige reizende
Bleistiftskizzen beigesteuert. Die letzte war ein Stimmungsbild von der
Landstrasse, die unten am Zeughaus vorbeifuehrt, zeigte einen im Abendschein
entschwindenden Wagen und hatte die Unterschrift:

"Die Sonne geht unter."

Auch du, mein Sohn Brutus? - Es fiel mir auf, wie lustig Methusalem sein
wollte, wie zerstreut er war, wie gemacht heute sein Lachen klang. -

Eva sass im Scheine der grossen Haengelampe und durchblaetterte das Album. Sie
sagte nicht viel, aber mit einem Male rannen grosse Traenen ueber ihre
Wangen. Dann wischte sie sich energisch das Gesicht ab und sagte:

"Nein, ich darf mich wohl nicht allzusehr unterkriegen lassen. Aber diese
Buecher sind herrlich. Sie werden mein liebstes Besitztum sein. Alle, alle
sind drin - nur einer fehlt. Ignaz, warum sind Sie nicht auf einem
einzigen Bilde? Mir ist das aufgefallen."

Ignaz, der am Ofen lehnte, wandte sich weg und drueckte die Wange gegen die
Kacheln des Ofens. "So ein ekliger Kerl, wie ich, ist nicht fuer Bilder",
sagte er mit seiner knurrenden Stimme. Aber es klang wie ein Schluchzen
darin.

"Es tut mir leid, Ignaz", sagte Eva freundlich; "Sie waren gut und treu zu
mir!"

Da ging der Knecht stumm zur Tuer hinaus. Ich sah, wie der Kurgast
"Steiner", von dem ich nun wusste, dass er ein Detektiv war, dem langen
Ignaz mit einem messerscharfen Blick nachschaute.

Barthel hatte zu Ehren des Abends ein Faesschen Moselwein angezapft und
hielt eine Rede:

"Meine Damens und Herr'n! Der heutige Abend is nich so wie sonst, sondern
anders. Es is ein ernster Abend, weil Fraeul'n Hanne fortzieht, und deshalb
hab ich Sie zu einem Glaeschen Wein eingeladen, und ich wuensche, dass er
Ihnen allen recht wohl bekommen moege. Wir sind alle sehr traurig; denn wir
verlieren Fraeul'n Hanne sehr, sehr ungern."

Der Redner wurde unterbrochen. Frau Susanne weinte und prustete so heftig,
dass sie sich zur Tuer hinaus retten musste. Auch Barthel fuhr mit der Hand
nach den Augenwinkeln.

"Sehen Sie, meine Herr'n, meiner Alten geht es auch nahe. Eine Zeitlang -
ich kann das wohl jetzt ruhig sagen - is sie wegen Fraeul'n Hanne und mir
eifersuechtig gewesen. Aber es war bloss blinder Laerm; ich weiss doch, was
ich mir schuldig bin!"

Wieder eine Unterbrechung. Zwei Herren und eine Dame hielten sich das
Taschentuch vor den Mund.

"Sehen Sie, meine Damens und Herr'n, mit einem Hausvater, wie ich, ist das
ein reines Elend, obwohl es mir gut geht. Denn sehen Sie, die Leute, die
hierherkommen, verstehen alle rein gar nichts, und die meisten sind sehr
faul und haben das Arbeiten nich gelernt. Ich muss sie erst alle muehsam
zurechtstutzen. Und wenn man dann mal so 'ne Perle bekommt wie die Hanne,
die so famos Butter machen kann, und sie zieht wieder fort, dann ..."

Mit Barthels Fassung war es aus. Er weinte in sein rot gebluemtes
Taschentuch und konnte schliesslich nur noch sagen:

"Nun trinken wir halt auf Fraeul'n Hannes ihre Gesundheit!"

Das Maedchen war sehr bewegt. Es wurden noch einige kurze Ansprachen von
Gaesten gehalten, die Hanne feierten und in denen auch Vater Barthel
unmaessig viel Weihrauch gestreut wurde, und schliesslich musste Hanne singen.
Sie war ruhiger geworden, stimmte ihre Laute und sang mit ihrer zarten,
lieblichen Stimme das Lied, das aller Abschiedslieder Krone ist und
bleiben wird:

    "Morgen muss ich fort von hier
    Und muss Abschied nehmen -"

Waehrend des Liedes oeffnete sich leise die Tuer. Der lange Ignaz schlich
sich herein, lehnte den Kopf an die Wand und presste die Haende an die weisse
Mauer.

Die Lampe flackerte; die Spaetherbstrosen bluehten auf dem Tisch.

Als Eva das Lied beendet hatte, stuerzte ploetzlich einer vor, warf sich dem
Maedchen zu Fuessen und rief:

"Gehen Sie nicht fort - gehen Sie nicht fort, Fraeulein Hanne; ich muss
sonst sterben!"

Es war Piesecke. Und da sah ich auch schon, wie sich der lange Ignaz
umdrehte, wie ein wilder, giftiger Blick ueber Piesecke und das erschreckte
Maedchen hinfuhr, und im naechsten Augenblick hatte Ignaz den zarten
Piesecke erfasst, schleuderte ihn sich wie einen Sack ueber die Schulter und
verschwand mit ihm durch die Tuer.

"Dass kein Unglueck geschieht!" rief ich und eilte nach. In aufgeschreckter
Unordnung draengte alles nach dem Hofe. Dort hatte der starke Ignaz den
zappelnden Piesecke bereits mit gewaltiger Wucht auf den grossen
Duengerhaufen geworfen. Es war dem so schmaehlich Behandelten weiter kein
koerperliches Unheil zugestossen; aber ich war doch so erzuernt ob der neuen
Gewalttat des Knechtes und der Stoerung unserer schoenen Stimmung, dass ich
sagte:

"Ignaz, Sie gehen jetzt schlafen! Und morgen frueh werden Sie Ihr Buendel
schnueren. Dafuer werde ich sorgen!"

Er wandte sich trotzig zur Seite. Ich ging aufgeregt nach der Stube zurueck
und traf daselbst den Detektiv Steiner, der allein zurueckgeblieben war und
ein Blaettchen Papier, auf dem Fingerabdruecke zu sehen waren, sorgsam mit
den schwachen Spuren verglich, die des Knechtes Ignaz Arbeitsfaeuste an der
weissen Mauer hinterlassen hatten. Ohne auf mich zu achten, ging der Beamte
in den Hausflur hinaus, in den eben der lange Ignaz eingetreten war, trat
auf den Knecht zu und sagte:

"Josef Wiczorek, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!"

Die Umstehenden starrten den Sprecher an.

"Was wollen Sie, Herr Steiner?" fragte der Bauer Barthel erschrocken.

"Ich heisse nicht Steiner, ich bin Geheimpolizist und habe meine
Legitimation in der Tasche. Ich bitte, dass mir Gelegenheit gegeben wird,
den verhafteten Josef Wiczorek, der sich hier unter dem Namen Ignaz Scholz
aufgehalten hat, sofort nach dem Amtsgerichtsgefaengnis in Waltersburg zu
transportieren."

Josef Wiczoreks Augen verglasten sich. Ein kurzes Grunzen - und ploetzlich
schlug er mit beiden Faeusten um sich, machte sich Platz und verschwand
blitzschnell im dunklen Hofe.

"Haltet ihn!" rief der Polizeimann; "er ist ein lange gesuchter
Raubmoerder!"

Wir schrien alle, wir rannten. Ich stiess mit Barthel zusammen und machte
meinem Grimme Luft.

"Barthel, das haben wir Ihnen zu verdanken, Sie haben den mir laengst
unheimlichen Gesellen gehalten; Sie haben behauptet, Sie kennten ihn von
Jugend auf als ehrlichen Kerl. Nun kommt diese Schande ueber uns."

"Herr Doktor, lieber Herr Doktor, verzeihen Sie mir", wimmerte Barthel,
"ich konnte nicht anders!" Er verlor sich von meiner Seite ins Dunkel.





                              GERICHTLICHES


Wie wenn ein Marder in einen Taubenschlag eingebrochen ist, so war es.
Alles flatterte wirr durcheinander in Aufregung und Angst. Alle Hoefe
oeffneten sich, von Mund zu Mund flog die Kunde, auf dem Forellenhof sei
ein Raubmoerder ertappt worden, aber entwichen. Der lange Ignaz! Die Weiber
kreischten und schauten neugierig aus Fenstern und Tueren, die Maenner
wagten sich mit Stoecken bewaffnet fuenfzig Meter vors Haus, ihre Frauen
jammerten von der Haustuer aus ueber diese Tollkuehnheit und riefen die
Maenner zurueck - es war abscheulich! Der Loew' ist los, und alles verliert
den Verstand. Nur einige Mutige stuermten hinaus, den Unhold zu fangen,
taten sich zu Gruppen zusammen, bewaffneten sich in der Eile, so gut sie
konnten.

Ich schuettelte in der nebligen Abendluft erst meine Gedanken zurecht,
sagte mir, dass die Verfolgung bei dieser Rabenfinsternis ganz aussichtslos
sei, und ging nach der Direktion, um den Direktor zu sprechen. Er war
nicht zu finden. Dafuer traf ich den Geheimpolizisten an. Er stand am
Telephon. Nach Waltersburg telephonierte er, nach dem Neustaedter Bahnhof,
nach zehn anderen Stationen im Umkreis, nach der Provinzialhauptstadt.
Immer dasselbe: "Im Ferienheim Waltersburg hat sich unter dem falschen
Namen Ignaz Scholz, genannt der lange Ignaz, der Raubmoerder
Fleischergeselle Josef Wiczorek aufgehalten. Ist soeben nach erfolgter
Verhaftung entwichen."

Darauf folgte genaue Beschreibung und Aufforderung zur abermaligen
Verhaftung.

Ich sass ganz zerschlagen auf dem Schreibtischstuhl unseres Direktors, der
immer noch nicht aufzufinden war, und hoerte zu, wie "Herr Steiner"
telephonierte. Er schnarrte mit seiner scharfen Polizeistimme die Schande
meines lieben Ferienheims in alle Winde. Endlich war er fertig. Er wandte
sich an mich.

"Herr Doktor, Sie sind der verantwortliche Leiter dieses Sanatoriums?"

"Nur vom aerztlichen Standpunkt aus verantwortlich."

"Und wer traegt die Verantwortung fuer die gesetzliche Ordnung?"

"Mister Stefenson und in seiner Vertretung Direktor von Bruening."

"Wo ist der Direktor?"

"Ich weiss es nicht."

"Wo ist Mister Stefenson?"

"In Amerika."

Der Polizeimann notierte alles in seinem Buch.

"Was ist Ihnen von diesem angeblichen Knecht Ignaz Scholz bekannt, Herr
Doktor?"

Ich sagte ihm, dass mir dieser Knecht Ignaz allerdings persoenlich stark
unsympathisch gewesen sei, dass ich aber - ausser einigen Grobheiten oder
auch Roheiten, die er begangen - keine Veranlassung gehabt habe, den
Menschen fuer einen Verbrecher zu halten, zumal mir der Bauer Barthel, dem
ich vertraue, erklaert habe, er kenne Ignaz von Jugend auf als ehrlichen
Menschen.

"Dieser sogenannte Ignaz hiess laut Anmeldung Scholz?"

"Jawohl, Ignaz Scholz."

"Hm! Wenn einer schon Scholz heisst! Jeder Scholz verkruemelt sich unter der
Masse der Scholze wie ein Koernlein im Sand des Meeres. Ich moechte Sie
bitten, Herr Doktor, mich vorlaeufig nicht zu verlassen."

"Das soll doch nicht heissen ..."

"Das soll nur heissen, dass ich Ihrer in jedem Augenblick beduerfen koennte."

Der Ton, den der Polizist anschlug, verletzte mich, aber ich fuehlte mich
ganz wehrlos, als der Mann seine amtlichen Vollmachten vor mir
ausbreitete.

"Ich moechte nur bemerken, Herr Doktor, dass ein Kurort wie der Ihrige, wo
niemand unter seinem wahren Namen auftreten darf, ein geradezu grossartiger
Schlupfwinkel fuer verfolgte Verbrecher ist."

Was sollte ich erwidern? Dass in jedem Kurort, in Zoppot, Ostende, Abbazia
sich jeder Mensch ohne Legitimation unter irgendeinem Namen niederlassen
koenne? Ich unterliess es.

"Kommen Sie!"

Das war Befehlston. Ich blieb sitzen. Der Gewaltige wollte wohl eben ein
strenges Wort sagen, da wurde die Tuer aufgerissen, und Piesecke trat ein.
Flugs stand der "Geheime" stramm und schlug die Hacken zusammen. Piesecke
sah schlimm aus. Er hatte ein verschwollenes Auge, und sein Anzug war
schmutzig und zerrissen. Trotzdem nahm er dem Polizeimann gegenueber eine
echte Herrenhaltung an und sprach in einem so voellig veraenderten Ton, dass
ich seine Stimme nicht wiedererkannte:

"Mann, wie kommen Sie dazu, den Knecht im Forellenhof zu verhaften?"

"Melde Euer Hoheit untertaenigst, der Knecht Ignaz ist identisch mit dem
Fleischergesellen Josef Wiczorek, der am 17. Februar dieses Jahres seinen
Meister ermordet und beraubt hat."

"Woher wissen Sie das?"

"Die Verdachtsgruende haeuften sich: das Signalement des Steckbriefes
stimmt, eine Pruefung der Fingerabdruecke gab die Gewissheit."

Piesecke sah den Mann durchdringend an.

"Ich kenne Sie! Als Kriminalbeamter haben Sie nicht allzuviel getaugt; da
sind Sie dazu auserlesen worden, Spaeherdienste am Hofe zu leisten. Auch
jetzt sind Sie hierhergekommen, um mich zu beobachten. Ich habe Sie
gestellt; Sie sagten mir, Sie seien nur des Knechtes wegen da. Aber das
ist Schwindel. Sie sind meinetwegen da. Ja oder nein? Diese Geschichte mit
dem Knecht ist nur Ausrede."

"Ich darf Euer Hoheit darueber keine Auskunft erteilen."

Piesecke lachte veraechtlich.

"Unser Hausminister hat patente Leute. Am dritten Tage, als Sie da waren,
habe ich Sie erkannt trotz Ihres falschen Namens und Ihrer Maske. Also
berichten Sie nach Hause, es sei mir voellig egal, ob Sie hier seien oder
nicht; falls Sie mir zu laestig fielen, so koennte ich mich vergessen und
Ihnen gelegentlich die Peitsche um die Ohren knallen."

Der Polizeimann wurde dunkelrot.

"Haben Sie verstanden, was Sie dem Minister berichten sollen?"

"Zu Befehl, Hoheit!"

"Wenn Sie nun dazu ausersehen sind, mich zu belauern, wie kommen Sie dazu,
hier eine ausserhalb Ihrer Bestimmungen liegende polizeiliche Handlung, wie
die Verhaftung dieses Knechtes, vorzunehmen?"

"Ich berichtete meinen Verdacht an den Ersten Staatsanwalt und erhielt die
noetigen Vollmachten."

"Dagegen laesst sich wohl nichts tun?"

Diese Frage war an mich gerichtet.

"Nein - nichts!"

"Wie urteilen Sie ueber diesen Fall, Herr Doktor?"

"Es ist ein Unglueck fuer unsere junge Anstalt. Aber es liegt uns natuerlich
fern, der Festnahme eines Verbrechers irgendwelche Hindernisse zu
bereiten."

"Selbstverstaendlich! Ich begreife nur den Bauern Barthel nicht. Er ist
doch ein ehrlicher Mann, und er hat doch versichert, den langen Ignaz von
Jugend auf zu kennen. Haben Sie dafuer eine Erklaerung, Herr Doktor?"

"Nein! Ich bin um so bestuerzter, als Barthel mir nach der Verhaftung eben
sagte: ich moege ihm nicht zuernen, er habe nicht anders gekonnt. Ich sage
das ganz offen vor Ihnen, Herr Kommissar, damit Sie sehen, dass von hier
aus nichts verschleiert wird."

Der Kommissar verneigte sich.

"Hoheit" presste die Lippen aufeinander.

"Hm! Ich will nicht wuenschen, dass dem guten Barthel da eine Tragik
erwachse, dass dieser sogenannte Ignaz vielleicht ein Freund oder gar ein
naher Verwandter von ihm ist, den er in seiner Gutmuetigkeit versteckt hat.
Und Sie, Kommissar, Sie brauchen mir das von vorhin nicht uebermaessig
uebelzunehmen. Schreiben Sie also dem Minister: Se. Hoheit ist bei besserer
Gesundheit und hat daher einen Aufpasser nicht mehr noetig. Jetzt will ich
Sie nicht mehr aufhalten. Wohin wollen Sie zunaechst?"

"Nach dem Forellenhof zurueck, den Bauer Barthel zu vernehmen oder
eventuell ebenfalls zu verhaften."

"Schoen, wir werden Sie begleiten, wenn Ihnen das zulaessig erscheint."

"Ich bitte untertaenigst um die Begleitung, Hoheit."

Der Kommissar oeffnete die Tuer, stand stramm, und "Hoheit" ging in laessig
vornehmer Haltung an ihm vorbei.

Ein kleiner Anlass von draussen aus der alten Welt, und durch die
Bauernjacke schimmerte der hochgeborene Herr. Ich aber als Arzt freute
mich trotz meiner gedrueckten Stimmung, als ich sah, dass durch seine
Gesundung langsam aus dem Piesecke wieder ein Prinz wurde, ja, ich haette
das Wort "Piesecke" jetzt nicht zu sagen, nicht einmal zu denken gewagt.

Im Forellenhof war schwerste Bestuerzung. Die dicke Susanne lag kurz und
krampfhaft weinend in einem Korbstuhl; die Frauen bemuehten sich um sie.
Barthel war nicht zu Hause. Auf dem Tisch standen noch die Rosen, an den
Waenden hingen die Asternkraenze.

"Welch ein entsetzlicher Abschluss!" klagte Eva.

Ich betrachtete die Fingerabdruecke an der Wand. Sie waren deutlich. Der
lange Ignaz hatte, ehe er sich an die Wand lehnte, das Kohlenfeuer
besorgt. Der Kommissar trat zu mir und dem Prinzen und sagte:

"Es tut mir leid; aber ich muss zurueck zur Direktion und von den Behoerden
telephonisch auch die Verhaftung des der Beguenstigung dringend
verdaechtigen und verschwundenen Bauern Barthel fordern."

Der Prinz kniff den Mund zusammen. Dann sagte er:

"Tun Sie das! Wenn ich mich auch hier getaeuscht habe, glaube ich an nichts
mehr auf der Welt. Dann soll alles zum Deibel gehen!"

Er schaute mich mit halbem Blick an. Da sagte ich:

"Ich werde morgen frueh mit Einverstaendnis unseres bevollmaechtigten
Direktors den von Ew. Hoheit unterzeichneten, bis Mai verpflichtenden
Revers vernichten, und Ew. Hoheit steht ohne alle Weiterungen frei, die
Anstalt zu verlassen."

Er antwortete nicht. Ich dachte daran, dass er durch seinen Kniefall vor
der schoenen Hanne, durch eine ganz direktionslose Tat, den Anlass zu all
diesen Scherereien geschaffen hatte. Und er dachte wahrscheinlich selbst
daran; denn er sagte:

"Ich weiss, dass ich noch lange nicht geheilt bin; aber ich kann wohl
ueberhaupt keine Heilung finden. Weil ich keine Treue finde!"

Ich wandte mich ab, trat zum Tisch und zerpflueckte gedankenlos eine Rose.

Da tat sich die Tuer auf. Barthel erschien. Verstoert. Als er den Kommissar
sah, wollte er zurueck, aber der Polizist war bereits an seiner Seite.
Susanne begann zu schreien, und ich war froh, als sie und alle Frauen das
Zimmer verlassen mussten.

Als wir allein waren, wurde Barthel verhaftet. Er sank ganz gebrochen auf
die Bank am Ofen.

"Die Schande! Die Schande! Ach, haett' ich es nicht getan!"

Der Kommissar schritt zum sofortigen Verhoer.

"Barthel, Sie haben behauptet, den Knecht Ignaz von Jugend auf zu kennen.
Ist das wahr?"

Barthel ruehrte sich nicht.

"Heisst dieser Knecht in Wahrheit Ignaz Scholz?"

In Barthels Gesicht kam ein verstockter Ausdruck. Er schwieg.

"Wollen Sie mir nicht Rede stehen, Barthel?"

Keine Antwort.

"Sie machen sich ungluecklich. Warum antworten Sie nicht?"

"Ich kann nicht!"

Nun wandte ich mich an Barthel.

"Lieber Barthel, denken Sie nicht ein ganz klein wenig an den guten Ruf
unserer Kuranstalt? Habe ich es nicht immer gut mit Ihnen gemeint? Warum
bereiten Sie mir diese schwere Ungelegenheit?"

Da begann er zu weinen.

"Ich kann es nicht mehr aendern. Verzeihen Sie mir ...!"

Ein Knecht wurde aufgefordert, ein Pferd vor einen Wagen zu schirren.
Darauf fuhr der Kommissar mit Barthel nach dem Waltersburger
Amtsgerichtsgefaengnis. Frau Susanne lag in Schreikraempfen, auch die
anderen Frauen weinten laut. Ich verliess den Forellenhof. In allen Stuben
unserer Ferienanstalt brannte Licht. Ich wusste, in den meisten eroerterte
man die sofortige Abreise. Ich ging nach der Direktion. Der Direktor war
noch immer nicht aufzufinden. So setzte ich mich in seinen
Schreibtischstuhl und starrte ohne eigentlich klare Gedanken ins Licht der
Lampe. Draussen kehrten kleine Trupps von Verfolgern zurueck. Sie hatten von
dem Fluechtling nichts entdeckt, wie zu erwarten gewesen war. Kurz nach
zehn Uhr laeutete das Telephon. Verbindung von Neustadt.

"Der polizeilich gesuchte Josef Wiczorek, _alias_ Ignaz Scholz, ist
soeben, als er in einen Wagen vierter Klasse des neun Uhr siebenundvierzig
Minuten hier abgehenden Personenzuges steigen wollte, verhaftet
worden ..."

Ich sandte nach dem Prinzen, bestellte einen Wagen, und wir fuhren nach
Neustadt. Auf der Polizei wurde uns weiter keine Auskunft erteilt, als dass
Wiczorek eingesperrt sei und wir alles Weitere abzuwarten haetten.

Wir blieben in Neustadt ueber Nacht. Am naechsten Morgen stand in der
"Neustaedter Umschau" ein Artikel mit der zentimetergross gedruckten
Ueberschrift "Kuranstalt Waltersburg ein Hehlernest???"

Mit der ganzen Niedertraechtigkeit, deren der vertrottelte Redakteur dieses
Blaettchens faehig war, hetzte er gegen unsere Anstalt. Alle
Spiesserinstinkte, alle Philisterbedenken, alles Kopfschuetteln
beschraenkter, phantasieloser Koepfe wurde gegen die Grundidee unserer
Kuranstalt wieder lebendig; die Schimpferei begann wieder, der alte
lendenlahme Spott humpelte neu auf den Plan. Der Artikel endete
schliesslich mit einer schamlosen Denunziation:

"Das Gesetz, das bei uns in Neustadt heilig gehalten wird, verbietet uns,
zu behaupten, dass sich die 'Kuranstalt Waltersburg Ferien vom Ich' infolge
ihrer mehr als eigentuemlichen Einrichtungen, wie Verbot, den eigenen Namen
zu fuehren, die eigene Kleidung zu tragen usw., zu einem Zufluchtsort
lichtscheuen Gesindels auswaechst. Immerhin wird der aufsehenerregende
Fall, dass sich ein Raubmoerder auf einem der besuchtesten 'Hoefe' des
'Ferienheims' mit Wissen des Bauern monatelang verstecken und daselbst
allerhand Roheiten ausueben konnte, zu schwersten Bedenken Anlass geben,
denen sich auch die Behoerden nicht werden verschliessen koennen."

Ich sah unser Heim aufs schwerste bedroht, sah eine fuerchterliche Waffe in
der Hand unserer Feinde. Eben wollte ich den Fall an Stefenson kabeln, da
wurden wir zur Polizei beschieden. Es handelte sich, wie uns eroeffnet
wurde, um eine Konfrontation mit dem gestern Verhafteten, der ploetzlich
behaupte, weder der gesuchte Raubmoerder Josef Wiczorek noch der Knecht
Ignaz Scholz zu sein.

Da mich der Polizeibeamte persoenlich kannte, hatte ich nicht notwendig,
mich zu legitimieren, wurde aber aufgefordert, Herrn Pieseckes
Persoenlichkeit festzustellen, und zwar nach seinem wahren Namen und Stand,
nicht nach dem Pseudonym, das er bei uns fuehrte. So sagte ich: "Se. Hoheit
Prinz Ernst Friedrich von ..."

"Ist das - ist das Ihr Ernst, Herr Doktor?" fragte der Beamte nicht ohne
Bewegung.

"Nicht nur sein Ernst, sondern sogar sein Ernst Friedrich", sagte Piesecke
hohnvoll und hielt dem Beamten seinen Siegelring hin. "Kennen Sie dieses
Wappen?"

Der Beamte sah auf das Wappen mit der Krone, stand auf und verneigte sich
tief.

Da erschienen zwei Gerichtsdiener mit dem Verhafteten.

         -------------------------------------------------------

Ich fasste mir an den Kopf: ich glaubte eine Wahnvorstellung zu haben. Der
da eintrat, war - Mister Stefenson.

"Stefenson", rief ich, "Stefenson, wie kommen Sie ..."

"Melde gehorsamst, Herr Rat", sagte der eine der Gerichtsdiener, "der
Gefangene hat eine Peruecke und den Bart abgenommen, hat sich gewaschen und
sieht jetzt auf einmal ganz anders aus als gestern abend."

"Wer ist dieser Mann?" fragte der Beamte mit einem Blick auf mich.

"Es ist Mister Stefenson, mein Kompagnon, der Begruender unseres
Ferienheims", brachte ich heraus.

Ich musste mich setzen.

"Und wer behaupten Sie selbst zu sein, Verhafteter?"

"Ich behaupte dasselbe wie der Herr Doktor", sagte dieser gelassen;
"allerdings mit einer kleinen Einschraenkung. Ich war und gelte noch als
Mister John Stefenson, Kaufmann aus Neuyork, Chikago, Trinidad; aber ich
habe mich unterdessen auf meine rein deutsche Abstammung besonnen und
heisse mit Genehmigung der hohen deutschen Behoerden seit etwa vierzehn
Tagen Johannes Stefan - Stefan, wie meine hanseatischen Vorfahren seit
etwa vierhundert Jahren geheissen haben."

Der Beamte fing an, an den Fingern abzuzaehlen:

"Josef Wiczorek - Ignaz Scholz - John Stefenson - Johannes Stefan - und
hier Prinz Ernst Friedrich - ich moechte die Herren ernsthaft darauf
aufmerksam machen, dass das Gericht von Neustadt keine Waltersburger
Spielerei, sondern eine staatliche Behoerde ist, die nicht mit sich spassen
laesst."

Der Beamte hatte ja ganz recht. Ich beteuerte ihm nochmals, dass ich in dem
Manne, wenn er auch wirklich mit dem gestern verhafteten angeblichen Josef
Wiczorek, _alias_ Ignaz Scholz, identisch sei, zweifelsfrei meinen
Kompagnon John Stefenson wiedererkenne.

"Und Sie wollen in der ganzen Zeit, da sich dieser Mann bei Ihnen
aufhielt, keine Ahnung gehabt haben, wer er eigentlich ist?"

"Ich habe in der Tat von Stefensons Anwesenheit in Waltersburg nicht das
mindeste gewusst, sondern waehrend all der Monate mit Stefenson nach Amerika
telegraphisch und brieflich verhandelt."

"Sie kennen doch aber die Schrift Ihres Kompagnons?" fragte der Beamte
weiter. "Waren die amerikanischen Briefe in dieser Schrift geschrieben?"

"Jawohl!"

"Wie ist das moeglich?" wurde der Verhaftete gefragt.

Der zuckte die Achseln und sagte verbindlich:

"Das ist Geschaeftsgeheimnis!"

"Wir werden der Sache auf den Grund gehen", entgegnete der Beamte ernst,
"und Ihnen zeigen, dass hier kein Ort fuer Maskeraden ist."

Da wurde zum Glueck "Herr Steiner", unser Geheimpolizist, gemeldet. Der
Kommissar verneigte sich tief vor Piesecke und darauf mit etwa zehn
Prozent dieser Verneigung vor uns anderen insgesamt und sagte:

"Herr Rat, es ist mir soeben auf meine gestrige Meldung von der
zustaendigen Staatsanwaltschaft der telegraphische Bescheid zugegangen, dass
der gesuchte Wiczorek vorgestern in Braunschweig verhaftet worden, dass
seine Identitaet festgestellt ist und auch bereits ein Gestaendnis vorliegt.
Ich bitte also, den Knecht Ignaz Scholz aus der Haft zu entlassen, da sich
der Verdacht, der zu seiner Verhaftung fuehrte, als unbegruendet erwiesen
hat."

Stefenson laechelte freundlich. Der Richter machte ein enttaeuschtes
Gesicht.

Es gab noch allerlei Formelkram zu erledigen, dann wurden wir alle,
Stefenson eingeschlossen, entlassen.





                               AUFKLAeRUNGEN


Auf der Strasse trat der Kommissar an den Prinzen heran und sagte:

"Ich bitte Ew. Hoheit untertaenigst um Verzeihung wegen der Behelligung."

Hoheit legte dem Manne huldvoll die Hand auf die Schulter.

"Mein Lieber, ich hab gar nischt gegen Sie. Aber tun Sie mir 'nen
Gefallen: reisen Sie ab. Sie sind hier uebrig. Lenken Sie mal die
Aufmerksamkeit des Ministers auf den Prinzen Emanuel. Der scheint mir ein
lockeres Huhn und der Beaufsichtigung sehr beduerftig zu sein. Er ist
gegenwaertig in Syrakus. Sie haben keine Ahnung, Mann, wie schoen es in
Syrakus ist. Da machen Sie sich mal nuetzlich! Glueckliche Reise und viel
Vergnuegen!"

Der Kommissar reiste ab ...

Mich ging das alles kaum etwas an. Ich dachte nur an Stefenson. Er war
zunaechst nach seiner Zelle zurueckgegangen und hatte uns durch einen
Gerichtsdiener sagen lassen, wir moechten im "Hotel Bristol" auf ihn
warten. Nach einer reichlichen Stunde kam er. In mir war inzwischen das
Gefuehlsbarometer hinaufgeschnellt und heruntergestuerzt, vom Glutwetter der
Bewunderung bis zum Regensturm der Wut - hin und her, her und hin. Ich
konnte diesem unberechenbaren Manne gegenueber niemals zu ruhiger
Beurteilung kommen. Schliesslich beschloss ich, ihm offene Feindschaft
anzusagen.

Als er kam und sein Glas Sherry bestellt hatte, sagte er so ruhig, als ob
er eine eben abgebrochene Unterhaltung wieder aufnehme:

"Dieser Redakteur von der 'Neustaedter Umschau' ist ein schwerfaelliger
Kopf. Nicht mal richtig stenographisch aufnehmen kann der Pinsel. In
meinem Artikel von gestern abend waren mehrere Dummheiten."

"Ah - Sie haben den Artikel ueber Ihre Verhaftung in der Umschau selbst
geschrieben?"

"Na, selbstverstaendlich. Der Trunkenbold kann's doch nicht. Als ich so
unerwartet verhaftet werden sollte, bin ich zunaechst nach der Redaktion
des feindlichen Blattes gegangen, hab dort einen Artikel diktiert (und
natuerlich auch bezahlt) und bin dann nach dem Bahnhof hinaus und hab mich
da festnehmen lassen. Der Artikel ueber die Verhaftung war eher fertig als
die Verhaftung selbst. Das ist man doch in solchem Fall seinem Unternehmen
schuldig."

Das Barometer stieg wieder. Aber es lag noch eine schwere Depression ueber
mir, und ich sagte:

"Ich glaube nicht gerade begriffsstutzig zu sein; aber Ihre Art, sich zu
geben und zu handeln, ist so ueberaus merkwuerdig, dass ich nicht mehr
mitkann, sondern Ihnen aufs ernsthafteste erklaeren muss ..."

"Ein Extrablatt!"

Ein Bote stuermte ins Zimmer.

"Bitte, lesen Sie!" sagte Stefenson ruhig.

Die "Neustaedter Umschau" vertrieb ein Extrablatt. Es war ungefaehr ein
halbes Quadratmeter gross und enthielt in Fettdruck die Nachricht:

"_Ehrenerklaerung._

Die 'Neustaedter Umschau', immer bemueht, ohne nach rechts oder links zu
schauen, lediglich der Wahrheit die Ehre zu geben, erklaert: Die gestrige
Verhaftung des Waltersburger Knechts ist zu Unrecht erfolgt. Der als
'Raubmoerder Wiczorek' von einem uebereifrigen Beamten (dessen amtliche
Massregelung bevorsteht!!) hier auf dem Bahnhof verhaftete Mann war kein
anderer als der geniale Gruender der Kuranstalt 'Ferien vom Ich' selbst,
Herr John Stefenson - oder, wie er in Begeisterung fuer sein angestammtes
reines Deutschtum sich jetzt mit Bewilligung unserer Behoerden nennt, Herr
Stefan! Dieser Multimillionaer, dessen Einfluss in Amerika unbegrenzt ist,
hat in der demuetigen Gestalt eines Bauernknechts (nicht als Kurgast) den
ganzen Sommer ueber in Waltersburg gelebt, alle Lasten, Muehen und
Zuruecksetzungen des von ihm gewaehlten geringen Standes getragen, um
unerkannt die Probe auf sein gigantisches Exempel zu machen, um als
Fremdling, selbst von seinem naechsten Freunde unerkannt, von unten her
sein Werk zu pruefen. Diese Pruefung ist so gluecklich ausgefallen, dass
Stefan mit Freuden in die irrtuemlich verhaengte Haft ging. Den Neustaedter
Behoerden zollt er fuer ihre Gewissenhaftigkeit alle verdiente Anerkennung.
Heute morgen neuneinhalb Uhr stellte sich bei den Behoerden der
unbegruendete Verdacht heraus. Der wahre Josef Wiczorek sitzt - laut
amtlicher Depesche - in Braunschweig in Untersuchung; der bei uns
Verhaftete wurde nicht nur von dem leitenden Arzt von Waltersburg, sondern
auch von Sr. Hoheit dem Prinzen Ernst Friedrich von ... als Herr Stefenson
identifiziert. Die 'Neustaedter Umschau', deren Devise 'Ehre und Wahrheit'
ist, scheut sich nicht - _errare humanum est_ - ihren gestrigen Artikel
Wort fuer Wort zurueckzunehmen."

"Diesen Artikel haben Sie wohl auch diktiert?" fragte der Prinz.

Stefenson nickte.

"Ja, direkt dem Setzer. Ich hab noch die Korrektur gelesen, ehe ich
hierherkam."

"Sie sind ein smarter Kerl!" sagte Hoheit voll Anerkennung. "Nu sagen Sie
mir bloss, was haben Sie gegen mich gehabt? Warum haben Sie mich immer so
miserabel behandelt? Noch gestern haben Sie mich auf den Mist geworfen,
direkt auf den Mist. Ist das anstaendig?"

Stefenson zuckte die Schultern. Dann sagte er mit aufrichtiger Waerme:

"Sehen Sie mal, lieber Piesecke - ich moechte Sie der Einfachheit halber
noch mal so nennen -, ich hab gar nichts gegen Sie gehabt! Im Gegenteil!
Sie haben mir besser gefallen und mehr imponiert als die meisten anderen.
Nur, dass Sie so hinter meiner Braut her waren, das konnte ich mir nicht
gefallen lassen."

"Hinter Ihrer Braut?"

"Ja, also sagen wir: hinter der Forellenhof-Hanne! Mit der werde ich mich
heute oder morgen verloben."

Piesecke prustete los und sagte lachend:

"Also Ignaz oder Stefan oder Wiczorek oder Stefenson oder wie Sie sonst
heissen moegen - mir ist ja das ganz egal -, da werden Sie kein Glueck haben!
Die Hanne mag keinen; nicht mal den Herrn Doktor da hat sie gemocht."

"Also haben Sie doch -?" fragte Stefenson mit einem Blick auf mich.

"Gar nichts habe ich", sagte ich zornig. "Gar nichts! Im uebrigen moechte
ich um einige kurze Aufschluesse bitten, von denen es abhaengen wird, ob ich
noch laenger an diesem Tisch sitzenbleibe oder nicht."

"Oho - oho! Also, was ist aufzuschliessen?"

"Waren Sie der Journalist Brown, der im Mai zu uns kam?"

"Ja, natuerlich war ich der! Aber Sie haetten mich doch damals beinahe
erkannt. Deshalb habe ich ja meine Maske geaendert und bin als Knecht Ignaz
wiedergekommen."

"Wie kamen Sie damals dazu, mir den seltsamen Brief zu geben?"

"Na, den hatte ich doch selbst geschrieben, in der Annahme, Sie mit den
beiden Maedchen zu treffen. Waere meine Voraussetzung nicht zugetroffen, so
haette ich eben den Brief in der Tasche behalten. Das war doch nur Bluff."

"Wie konnten Sie aber in der ganzen Zeit Briefe aus Amerika an mich
schreiben, da Sie doch bei uns waren?"

"Es gibt Kabel, lieber Freund, durch die man anordnen kann, was zu
schreiben ist."

"Und Ihre Handschrift? Ich bekam fast alle Briefe handschriftlich, nur
wenige in Maschinenschrift."

"Ja, da habe ich in einem meiner Bueros einen Spezialisten, der meine
Handschrift so taeuschend nachmachen kann, dass ich selbst nicht zu
unterscheiden vermag, was von mir oder von ihm geschrieben ist. Ein
goldehrlicher Mann, einem anderen duerfte man die Ausuebung der aeusserst
gefaehrlichen Kunst nicht gestatten. Na, sehen Sie, es gibt fuer einen
Grosskaufmann wie mich taeglich mindestens zwei Dutzend Anlaesse, wo er
handschriftlich schreiben muss: an Verwandte und gute Freunde, wo
Maschinenschrift zu kalt wirkt; an Geschaeftsgenossen, mit denen man intime
Dinge verhandeln will, die kein Angestellter wissen darf; an alle Leute,
die etwas darauf geben, wenn ein vielbeschaeftigter Mann sich die Muehe und
Zeit nimmt, einen handschriftlichen Brief zu senden; schliesslich an alle
offenen und verkappten Autographenjaeger - fuer sie alle ist Mister Jenkins
da, und er machte seine Sache fuer zweitausend Dollar im Jahre geschickt
und reell. Er hat auch in Ihrem Falle sehr brav gearbeitet."

"Grossartig! Grossartig!" klatschte der Prinz in die Haende. Mein Barometer
aber fiel auf Sturm. "Ihr Verhaeltnis zu Bauer Barthel", sagte ich kalt,
"brauchen Sie mir nun nicht mehr zu erklaeren. Er hat gewusst, wer Sie
waren, deshalb hielt er Sie, deshalb log er, er kenne Sie von Jugend auf;
deshalb hat er Sie sogar gestern nicht verraten."

"Stimmt! Aber das duerfen Sie dem Barthel nicht uebelnehmen. Wir haben ein
schriftliches Abkommen, laut dessen er fuenfhundert Mark an mich haette
zahlen muessen, falls er mich je verraten haette. Denken Sie mal -
fuenfhundert Mark! Es ist klar, dass sich da Barthel lieber einsperren
laesst."

"Hat sonst noch jemand auf dem Forellenhof Sie gekannt?"

"Nein. Auch Susanne nicht."

"Das ist mir lieb. Aber der Direktor Bruening hat Sie gekannt und sich
wahrscheinlich stets heimlich mit Ihnen besprochen. Deshalb erschienen mir
alle seine Anordnungen immer so von Ihrem Geiste diktiert."

"Auch das ist richtig. Ich war nur der lange Ignaz, aber in Wirklichkeit
leitete ich die ganze Anstalt durch den Direktor. Wir hatten alle Tage
eine kleine Konferenz. Ich war immer von allem unterrichtet. Ausser Barthel
und dem Direktor hat aber niemand gewusst, wer ich war, nicht mal die
kleine Luise, und das ist mir schwer geworden."

Seine Augen schimmerten warm bei dem Gedenken des Kindes, und das Wort,
das ich ueber seine Abgefeimtheit sprechen wollte, unterblieb. So sagte ich
nur kuehl und gemessen:

"Wollen Sie mir sagen, Herr Stefenson, warum Sie diese ganze Komoedie mit
uns gespielt haben?"

"Komoedie?" verwunderte er sich; "wieso Komoedie? Darf in den Ferien vom Ich
nicht jeder auftreten, wie er will? Ist das nicht Ihre eigene Idee? Und
was meinen Sie, was ich selbst von dieser Idee, die mir gefiel und fuer die
ich viel Geld gewagt habe, gehabt haette, wenn ich als Mister Stefenson
dageblieben waere? Der Direktor waere ich gewesen, einen langweiligen
Verwaltungsposten haette ich gehabt, nichts von dem Zauber trauten
Geborgenseins, den unsere Anstalt spendet, haette ich geniessen koennen.
Nein, am eigenen Leibe wollte ich ausprobieren, wie es tut, wenn man
Ferien macht vom Ich. Deshalb wurde ich Bauernknecht. Ich habe mich
wohlgefuehlt als 'langer Ignaz', ich habe beobachtet, erlauscht, geprueft
von unten her, was an unserer Sache ist, ob sie absurd, phantastisch,
unfruchtbar, oder ob sie im Kern echt und gut ist, und ich hatte das Glueck
zu sehen, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Nicht nur die gute
geschaeftliche Bilanz, die ich erwartet hatte, hat mich belehrt, dass ich
mich unserer Gruendung freuen darf, sondern das, was ich sah und hoerte, als
ich unerkannt mitten unter den Feriengaesten war."

"Sie haben auch mich pruefen wollen?" sagte ich.

"Ja, auch Sie! Ganz natuerlich. Ich werde wieder nach Amerika zurueck
muessen, weil leider meine Ferien aus sind, und ich will wissen, wem ich
das Werk hier, ich kann sagen den Liebling unter all meinen
Unternehmungen, den einzigen Ausflug ins Romantische, den ich je gemacht
habe, hinterlasse. Ich kann ruhig scheiden. Ich werde jetzt wirklich
hinuebergehen. Weil ich muss! Weil mich die Pflicht ruft. Ich weiss, das Heim
ist in guten Haenden. Und eines, lieber Freund, vergesse ich Ihnen mein
Lebtag nicht. Es gab einen Sommerabend, an dem Sie die Haende ausstreckten
nach der schoenen Hanne. An diesem Abend fanden Sie meinen Brief, in dem
ich Ihnen sagte, dass ich Fraeulein Eva Bunkert, die Forellenhof-Hanne, als
meine Braut betrachte. Und seit diesem Abend sind Sie dem Maedchen aus dem
Wege gegangen. Sehen Sie, das habe ich auch nur als Knecht Ignaz erfahren
koennen, dass ich an Ihnen so einen treuen Freund habe. Das allein lohnt ein
halbes Jahr Bauernarbeit."

Er sprach mit grosser, ehrlicher Waerme. Ich aber sagte: "Sie taeuschen sich.
Ich haette das Maedel zu gewinnen gesucht; aber ich wusste, dass sie immer nur
an Sie dachte, dass Ihnen ihr Herz gehoert."

"Ist das moeglich? Ist das moeglich? Fraeulein Hanne will wirklich ..."

Der Prinz sank in sich zusammen. Er war ploetzlich wieder vollstaendig
Piesecke.

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Es ist noch viel geredet worden; ich weiss nicht mehr, was alles.
Schliesslich habe ich Stefenson recht geben muessen, dass er sich unerkannt
unter unser kurioses Voelklein mischte. Was sollte er sich nicht
ueberzeugen, wie seine Gruendung wirkte? Ich ueberwand meinen Unmut, so gut
ich konnte, aber ein Stachel blieb, dass Barthel und der Direktor mehr
gewusst hatten als ich. Eine Freundschaft zwischen Stefenson und mir wollte
ich nicht mehr gelten lassen.

Piesecke schlich sich ins Heim zurueck, ohne uns. Er wollte weiterhin
Piesecke sein, und vergebens zerbrachen sich unsere Kurgaeste die Koepfe,
wer der in der "Neustaedter Umschau" genannte Prinz sein moege. Der
"Verdacht" blieb schliesslich auf einem Referendar sitzen, der im Grundhof
wohnte und sich die Rolle des heimlichen Herzogs wohlgefallen liess. Dieser
Referendar lehnte alle grobe Arbeit von nun an ab. Die Damen waren
entzueckt ueber seine hocharistokratischen Haende. Sie ruehmten die edle
Zurueckhaltung in Ton und Gebaerde, die Guete, die nie zur Vertraulichkeit
wird, sondern immer Guete bleibt, die Sprache, die trotz ihres leise
verschleierten Timbers und ihrer entgegenkommenden Art doch unabweisbare
Befehle gibt, die Augen, die so wissend, so durch den Hoehenblick von
Jugend auf geschaerft zu blicken wussten; sie ruehmten selbst kleine
Nonchalancen, die sich eben nur der unter dem Kronenhimmel Geborene
gestattet. Dieser Mann lachte und laechelte nicht; er zuckte nur mit den
Mundwinkeln. Er sagte nicht "nein" zu irgendeinem Verlangen, sondern
dieses Verlangen erstarb von selbst vor einem einzigen Faltenwoelkchen, das
sich auf der Stirn des Hohen bildete; er konnte aber auch durch ein
einziges freundliches Lidersenken gewaehren, "ja" sagen, wie kein anderer
Mensch "ja" zu sagen vermag.

Keine Erziehung fuehrt zu solcher Haltung. Kein Emporkoemmling kann sie
erlernen. Rasse! Vererbung von Herreninstinkten durch Jahrhunderte! Das
ist's! Und der heimliche Herzog ging in schlichter, leutseliger Wuerde
durch das Gewimmel aller derer, die ihm taeglich in den Weg zu laufen
wussten. Er empfing keine Besuche - er erteilte Audienzen; er plauderte
nicht - er hielt Cercle.

Mir machte alles dies so viel Spass, dass ich den Direktor ersuchte, dem
heimlichen Herzog noch auf weitere zwei Wochen die wesentlich
erleichterten Zahlungsbedingungen zu gewaehren; denn der Referendar hatte
bisher nur gelegentlich geringe Remunerationen genossen, und sein Vater,
der ein biederer Sattlermeister war, hatte auch nicht viel Geld uebrig.

Das alles hatte mit ihrem Artikel die "Neustaedter Umschau" getan. An
Piesecke dachte kein Mensch ...

Barthel, der Heimtuecker, war inzwischen auch aus der Haft entlassen
worden. Er liess sich bei mir melden, aber es wurde ihm gesagt, ich sei
nicht zu sprechen. Da kam er nach einer Stunde mit seiner Susanne wieder.

"Herr Doktor", sagte Susanne mit kirschrotem Kopf, "dass er ein Lump ist,
weiss ich. Unsern guten Herrn Doktor so zu beschwindeln wegen lumpiger
tausend Taler, die er jetzt von Ignaz, der ja Stefenson gewesen ist,
Schweigegeld kriegt. Was soll uns das Geld? Was geht uns Herr Stefenson
an? Wir halten uns an unseren guten Herrn Doktor. Aber was das schlimmste
ist, mich hat er auch beschwindelt mit dem langen Ignaz. So ein Lump! Sein
eigenes Weib beluegt er. Ich hab ihm nie getraut, nie im Leben! Nicht ueber
den Weg! Aber jetzt lass ich mich scheiden; er hat gesessen, und mit einem
Zuchthaeusler hat eine anstaendige Frau nichts zu tun."

Was blieb mir uebrig, als fuer den in erbaermlichem Zustand dastehenden
Barthel Partei zu ergreifen und der empoerten Susanne gut und mild
zuzureden? Sie wollte aber auf keinen Zuspruch hoeren. Sie blieb dabei, sie
muesse sich scheiden lassen, da er "gesessen" habe. Schliesslich weinte sie.

"Und was er fuer ein Liedrian ist, Herr Doktor!" schluchzte die brave Frau.
"Fuer die tausend Taler, die er jetzt von Stefenson kriegt, will er sich
eine Dreschmaschine kaufen, wo ich ihm doch sage, dass er das Geld lieber
in die Sparkasse tragen soll." Da erkannte ich, dass das Barthelsche
Eheglueck noch nicht hoffnungslos verloren war, und ich entliess die beiden,
indem ich sie meines Wohlwollens versicherte.

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Ich sass allein in meiner Klause. Ich war in einer Stimmung, die ich nicht
kannte. Wie war das, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebte
- war das traurig, war es komisch, war es erbaermlich? Sollte ich lachen,
sollte ich zuernen?

Sollte mir das Herz weh tun, weil die blonde Hanne fortzog?

Sollte ich grollen, weil Stefenson dem Direktor und einem Bauern mehr
Vertrauen geschenkt hatte als mir, den er seinen Freund nannte?

Sollte ich mich aergern ueber den Barthel, weil er profitsuechtig gewesen
war?

Es blieb ganz still in mir. Wahrscheinlich waren das alles ganz gute,
liebe Leute. Nur das Leben schuettelte die Menschen durcheinander, wie ein
Kind die Steinchen schuettelt, die es in ein Saecklein gesammelt hat. Wenn
es eine Reibung gibt, was schadet es? Ein Kruemlein alter, weicher
Heimaterde broeckelt ab, und der Stein schimmert durch, hart und
widerstandslustig. Dem Stein aber kann keine Reibung mehr schaden, kann
ihn nur glaetten.

Alte, weiche Heimaterde, wie du mich umsponnen hattest! Jedes
Kaeferwuermlein konnte an dir zehren! Ich moechte dich ja halten, denn du
bist gut und weich, aber das Leben schuettelt zu hart. Doch ich bin
getrost, ein gut Teil Kruemlein werden mir bleiben, darauf will ich mich
heimlich betten, und die glatte Flaeche wird nur nach aussen sein ... Als am
naechsten Morgen die blonde Hanne in mein Zimmer trat, pochte mein Herz
nicht rascher, als kaeme eine Patientin. Wohl war das Maedchen blasser, als
ich es je gesehen.

"Sie kommen sich verabschieden, Eva?"

"Ja. In zwei Stunden faehrt drueben in Neustadt mein Zug ab."

Wir schwiegen beide. Ploetzlich begann Eva laut und heftig zu weinen. Ich
haette hingehen moegen, um ueber ihre Stirn zu streichen; aber ich tat es
nicht.

"Eva, Sie wissen, dass Stefenson hier ist - dass er die ganze Zeit hier
war?"

Sie nickte.

"Er hat wohl mit Ihnen gesprochen?"

Da stand sie auf. Traenenlos, zornig sagte sie:

"Ja, er hat mit mir gesprochen. Er war so dreist, mich um meine Hand zu
bitten. Ein halbes Jahr lang hat er neben mir gewohnt, ohne dass ich ihn
kannte, hat mich beobachtet, belauert, geprueft, ob ich wohl - der hohen
Ehre wuerdig sei, seine Gattin zu werden, ob ich nicht am Ende ein
kokettes, leichtfertiges Weib sei, das heut dem, morgen jenem zulaechelt;
er hat diese Pruefung angestellt, weil ich beim Theater bin, weil ich keine
der unter hermetischem Verschluss stehenden Misses von Neuyork bin, die
heimlich oft liederlich genug sind; er hat mich, ohne dass ich es wusste,
geprueft, und ist nun so gnaedig, mir zu sagen: du hast deine Pruefung
bestanden. Aber ich - ich werfe ihm sein Diplom vor die Fuesse! Was ist denn
die Liebe? Liebe ist doch blindes Vertrauen. Welcher Mann hat denn eine
Garantie? Das Maedchen, der Vater, die Mutter, alle Muhmen und Vettern
koennen ihn beluegen, wenn sie wollen, er ist machtlos dagegen. Der Mann muss
das Maedchen sehen, er muss wie von einer himmlischen Erleuchtung gefuehrt
sagen: Du bist rein, ich lege meine Ehre und mein Glueck in deine Haende.
Sonst ..."

Sie sank weinend auf den Stuhl zurueck.

Hochauf loderte der glimmende Funke meiner Liebe wieder zu diesem schoenen
Maedchen, als ich so sein ehrliches weibliches Empfinden sah. In
ploetzlicher Muedigkeit stuetzte ich den Kopf in die Haende.

Ich zwang die Welle in meinem Herzen. Es wurde ganz still in mir. Eine
unheimliche, aber grosse Stille. Wie in der Wueste. Nur von ferne hoerte ich
die Traenen rinnen, wie Wasser einer fremden Oase. Ich haette lange so mit
dem aufgestuetzten Haupt sitzen moegen. Wieviel Zeit verging, weiss ich
nicht. Da hoerte ich Evas Stimme.

"Haben Sie keinen guten Rat fuer mich, lieber Freund?"

"Lieber Freund!" Unter allen Gestirnen, die an unserem Himmel flimmern,
ist dieses Wort wohl eines der hellsten. Aber wenn es ein Weib sagt, das
man liebt, bekommt dieser Stern ein ueberweisses Licht, ist wie ein Schimmer
aus einer Welt, die in Eiseskaelte untergeht.

"Warum sagen Sie nichts? Wissen Sie nicht einmal als Arzt etwas zu sagen?"

Da erhob ich mich.

"Wohl, liebe Eva! Ich glaube, ich kann Ihnen die Sache richtig
auseinandersetzen."

Ich war ueber mich selbst verwundert. Wie ein trockener, etwas pedantischer
Magister sprach ich:

"Sehen Sie, Eva, Sie stecken zu tief in der Romantik! Sie denken sich den
Freiersmann so wie Lohengrin, der als Fremdling ans Ufer steigt, die
Holde, die von aller Welt geaechtet wird, an der Hand nimmt und sagt: Frei
aller Schuld ist Elsa von Brabant. Und drei Minuten spaeter: Elsa, ich
liebe dich! Unser Stefenson ist nicht von dieser Schwanenritterart, er
faehrt auf dem Passagierdampfer, ist hausbacken, nuechtern, verfaehrt
vorsichtig."

"Verstellen Sie sich doch nicht, lieber Freund! Das ist doch nicht Ihre
Art, so zu sprechen!"

"Doch, doch! Es ist ganz meine Art, so zu sprechen! Eva, ich will Ihnen
ehrlich folgendes sagen: Stefenson hat nicht nur Sie pruefen wollen,
sondern auch mich, auch unsere ganze Anstalt. Er schaetzt wahrscheinlich
drei Dinge: Erstens das Geld, das er fuer ein Unternehmen anlegt (und das
ist ihm als Kaufmann durchaus nicht uebelzunehmen), zweitens seine
Geschaeftsfreunde, unter denen er keine unfaehigen Gesellen haben will (auch
das ist ohne weiteres zu billigen), und drittens die Liebe oder die Ehe,
in welcher Richtung er durchaus klar sehen will. Die Beurteilung dieses
dritten Punktes wage ich nicht, da ich von Liebe nichts verstehe."

In diesem Augenblick wurde die Tuer geoeffnet. Stefenson erschien.

"Ich bitte um Entschuldigung", sagte er, "und versichere, dass ich an der
Tuer nicht gehorcht habe. Ich entlasse Dienstmaedchen ob solch schmaehlicher
Schwaeche. Aber der Herr Doktor hat so deutlich gepredigt, dass jedermann,
der den anstossenden Korridor entlang ging, Wort fuer Wort verstehen musste.
Darf ich mir zu der Sache das Wort erlauben?"

"Bitte!"

"Erstens mal das Geld. Schoen! Ich schaetze es! Ich halte es fuer einen sehr
guten Freund. Fuer einen, der nicht nur die Stube ausmoebliert und das Essen
schafft, sondern auch fuer einen, der einem eine vernuenftige Koerperpflege
goennt, der die Theater und Museen aufschliesst, einen in der Welt
herumfuehrt, der gestattet, sich gegen aermere Mitmenschen anstaendig zu
benehmen, der den Doktor ruft, wenn man krank ist, und der einem
schliesslich ein Denkmal setzt, wenn sich kein Mensch um den Grabhuegel
bekuemmert, ja, fuer den einzigen Freund, der einem, wenn man zum Beispiel
in der Wut eine Gewalttat begangen hat und ins Zuchthaus oder sonst ins
Elend gekommen ist, hinterher wieder die Hand reicht und zu einem
ordentlichen Leben zurueckverhilft. Ein gutes Bankdepot ist wirklich ein
ausserordentlich reeller Freund. Nur dumme Kerle und veraergerte arme
Schlucker koennen es leugnen.

Zweitens: Geschaeftsfreunde duerfen noch eher in maessigen Grenzen unreell als
dumm, rueckstaendig, faul oder sonstwie borniert sein.

Drittens: Jeder Mensch, der ein Pferd kauft, das er uebermorgen
weiterverkaufen oder schlachten lassen kann, ueberlegt es nach zwanzig
Ruecksichten. Einer, der eine Frau nimmt, die er zeit seines Lebens auf dem
Halse behaelt, und der weniger vorsichtig verfaehrt, ist ein Dummian."

Stefenson brachte diese Saetze ohne alle Gemuetsbewegung vor, wie einer, der
unwiderlegbare Behauptungen aufstellt.

Die blonde Eva hatte ihn bisher nicht angesehen.

Jetzt stand sie auf, blickte ihm voll in die Augen und sagte kuehl:

"Alles, was Sie da sagen, ist nach Ihrer Meinung klug und richtig. Aber
ich - ich mag das nicht! Ich mag das alles ganz und gar nicht!"

Sie verliess das Zimmer. Wir riefen ihr beide nach.

Sie gab keine Antwort mehr.

Stefenson ging langsam durch das Zimmer, zuendete sich eine Zigarre an und
sagte nach einer Weile:

"Das ist daneben gegangen!"

"Ja, ganz daneben!"

"Sie freuen sich wohl?"

"Ach, ich kann nicht sagen, dass ich veraergert bin."

"Das kann ich mir denken!"

Darauf zuendete auch ich mir eine Zigarre an, und wir setzten uns gegenueber
und rauchten dicke Wolken.

"Was war denn eigentlich los?" fragte Stefenson.

"Nun", sagte ich, "Sie sind ein Mann, und sie ist ein Weib."





                        VOM BRUDER UND SEINER FRAU


Mit Eva Bunkert verliess uns auch die kleine Anneliese. Am Abschiedsabend
hatte sie sich nicht beteiligt. Es hiess, "Baerbel" sei nicht wohl und habe
sich zeitig zur Ruhe gelegt. Wie mein Bruder mit dem Maedchen stand, wusste
ich nicht. Joachim war verschlossener als je. Am Abend des Tages aber, da
die Maedchen abgereist waren, kam er zu mir.

Ganz unvermittelt sagte er: "Fritz, ich moechte fort. Morgen oder
uebermorgen."

"Fort? Wohin?"

"Wieder hinueber."

"Nach Amerika?"

"Ja."

Ich sah ihn schweigend an.

Da sagte er:

"Du hast wohl bemerkt, dass ich eine Neigung fuer Fraeulein Anneliese hatte.
Ich hoffte, es koennte mir ein neues Glueck in der Heimat erbluehen. Diese
Hoffnung hat mich betrogen - wie alle anderen."

"Ist es aus zwischen euch?"

"Ja. Das Maedchen hing an mir, und es war alles verabredet fuer baldige
Hochzeit. Da hielt ich mich gestern fuer verpflichtet, ihr mein Leben zu
schildern. Droben am Hange sind wir gewesen. Da habe ich ihr das Schwere
gesagt. Sie hat sehr geweint und sich schwer von mir losgerissen; aber sie
bleibt dabei, dass sie den geschiedenen Mann einer noch lebenden Frau nicht
heiraten duerfe. Du weisst wohl warum?"

"Ja. Ihre katholische Religion verbietet Anneliese solche Ehe."

Er fing an zu toben, an den Ketten zu zerren - ich liess ihn reden und
toben.

Zuletzt sagte er:

"Und ich weiss nicht einmal, ob dieses - dieses Weib noch lebt."

Ich blieb still.

"Weisst du etwas von ihr? Weisst du, ob sie noch lebt?"

"Sie lebt."

Er stoehnte. Ich merkte, wie sehnsuechtig er auf den Tod seiner Frau gehofft
hatte.

"Und - das Kind, wo ist es?"

"Es ist bei seiner Mutter."

"Das habt ihr zugegeben? So gewissenlos seid ihr gewesen?"

"Das Kind ist wohl aufgehoben bei ihr."

Er lachte rauh und ergoss eine Flut schwerster Schimpfworte ueber seine
Frau. Wieder liess ich ihn reden und toben. Zuletzt stiess er hervor:

"Wo haelt sich das Scheusal auf?"

"Deine Frau? Das sage ich dir nicht."

"Das _musst_ du mir sagen!"

"Nein, Joachim, ich sage es dir nicht!"

Er ballte die Faeuste und trat mit dem Fuss auf. Dann liess er die Arme
schlaff haengen und sagte in feindseligem Ton:

"Gut! Was ich wissen will, werde ich auch ohne dich erfahren."

Ohne Gruss verliess er mich. Ich trat ans Fenster und sah ihn unten ueber die
Wiese gehen. Das war der Mann, dem ich fuenf Jahre lang um die ganze Welt
nachgereist war. Weil er der Sohn meiner Mutter war. Nun wuerde ich eine
solche Familienaufgabe nicht mehr uebernehmen. Ich oeffnete nicht einmal das
Fenster, um ihm nachzurufen.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann zu arbeiten. Es ging
schwer. Ich war von der Aufregung der letzten Nacht und des Tages ganz
benommen. Es fiel mir ein, Joachim werde nun wohl zur Mutter gehen. Aber
die wusste ja auch nichts von Katharina, die bei uns Magdalena hiess, hatte
keine Ahnung von ihrer Anwesenheit hier im Heim. Es wurde spaet. Ich wollte
nur noch meine letzte Zigarre ausrauchen, dann schlafen gehen. Wie
gleichmuetig mich der Abschied des Bruders liess! Freilich, die Mutter wuerde
wieder sehr mit mir zuernen. Aber ich konnte das nicht aendern. Ich war
aller Familiensimpelei muede geworden.

Wie ich noch so still dasass, hoerte ich auf einmal jemand den Korridor
entlang eilen.

Die Tuer wurde aufgerissen.

Magdalena stand vor mir.

Mit wirrem Haar, in unordentlicher Kleidung. Entsetzt. Verstoert.

"Helfen Sie - helfen Sie - sie haben mir das Kind genommen."

"Was? Was sagst du, Kaethe?"

"Das Kind haben sie mir genommen - Luise - o Gott!"

"Wer hat es genommen?"

"Er - Joachim - er ist mit einem fremden Mann gekommen - sie haben das
Kind fortgeschleppt - meine Luise - meine Luise!"

Ich wollte die zitternde Frau auf einen Stuhl noetigen.

"Nein, kommen Sie bald - sie haben mich ja in die Kammer eingeschlossen
gehabt - eine Stunde ist es wohl schon her, dass sie mit dem Kinde fort
sind - ich habe die Kammertuer nicht aufgekriegt - kommen Sie schnell -
schnell!"

Die Frau schluchzte und zuckte in namenlosem Schmerz. Ich sah alles wie
durch einen Schleier. Wie kam Joachim nach der Genovevenklause? Wer hatte
ihm den Weg gewiesen?

Ploetzlich wurde mir alles klar. Ich war unvorsichtig gewesen, Joachim zu
verraten, dass Luise bei ihrer Mutter sei, und da unsere Mutter wusste, wo
das Kind war, fanden sie auch die Frau.

Oh, ich Tor! Ich sah, dass Kaethe am Halse rote Striemen hatte.

"Hat er dir etwas getan, Kaethe? Hat er dich etwa gar geschlagen?"

"Ich weiss es nicht. Aber das Kind ist fort, das Kind ist fort!"

Sie hatte wohl mit dem Manne gerungen, und er hatte sie mit irgendeinem
Helfershelfer in die Kammer gesperrt und das Kind entfuehrt. Der brutale
Kerl! Ein wuetender Hass gegen ihn schlug in mir auf.

"Erbarmen Sie sich, Herr Doktor, helfen Sie mir!"

"Nenn mich nicht Herr Doktor, Kaethe, nenne mich Fritz! Wir sind Verwandte.
Ich werde dir helfen, so gut ich irgend kann."

Demuetig und furchtsam wie ein gepruegelter Hund stand sie vor mir.

Ich zog mir den Mantel an.

"Ich bitte dich, Kaethe, geh nach Hause. Du kannst nichts tun. Ich werde
mich sofort auf die Suche machen."

"Ich kann nicht nach Hause gehen; ich muss Luise suchen -"

Mit irrsinnig flimmernden Augen sah sie mich an.

"Du kannst nichts tun, Kaethe. Ich werde sofort hinab zu meiner Mutter
gehen, dort werde ich wahrscheinlich Joachim treffen und mit ihm
abrechnen."

"Ich will mit. Ich fuerchte mich nicht, wenn sie mich auch schlagen."

"Du musst mir jetzt gehorchen, Kaethe! Sonst verdirbst du alles; sonst kann
ich dir nicht helfen!"

Da senkte sie stumm den Kopf.

Wir eilten auf einem Nebenpfade gen Waltersburg hin. Als der Weg nach der
Genovevenklause abbog, gebot ich der Frau, nach Hause zu gehen und zu
warten, bis ich ihr Nachricht braechte. Sie schlich davon. Aber als ich den
Berg hinabeilte, merkte ich, dass mir von ferne ein Schatten folgte.

Das Haus der Mutter war hell erleuchtet. Die Haustuer stand offen. Ich
eilte nach dem ersten Stock, nach dem Zimmer der Mutter, und trat ein,
ohne anzuklopfen. Mitten in der Stube stand Joachim; er war allein. In
offener Feindseligkeit blickten wir uns an.

"Wo ist das Kind? Wo ist Luise?"

"Nicht hier."

"Wo ist die Mutter?"

"Auch nicht hier."

"Willst du mir sagen, wo beide sind?"

"Nein! Aber ich will dir sagen, dass ich das Maedchen der Obhut des
Frauenzimmers, dem du es uebergeben, entrissen und in eigene Erziehung
genommen habe. Morgen frueh geht die Reise los. Ich nehme das Kind mit. Das
ist mein Recht. Das Kind gehoert mir."

Ich konnte vor Zorn kaum sprechen.

"Ah - und es ist wohl auch dein Recht, in eines unserer Haeuser
einzubrechen und ein wehrloses Weib seiner Freiheit zu berauben?"

"Das tat ich nur, um sie zu hindern, hinter uns herzuschreien und Skandal
zu erregen. Um allen Skandal zu vermeiden, bringt Mutter das Kind schon
jetzt nach auswaerts."

"Oh, wie bist du ruecksichtsvoll! Du willst keinen Skandal. Du vergissest
nur das eine: dass es ein grosser Skandal ist, wenn man sich benimmt wie ein
Bandit!"

"Huete dich nur!"

"Ich fuerchte mich nicht vor deiner Brutalitaet. Ich kann dich - wenn es mir
beliebt - wegen der Schandtat eines Einbruchs in eines unserer
verschlossenen Haeuser jeden Augenblick einsperren lassen. Ich werde es
hoechstwahrscheinlich auch tun und mich um keinerlei Skandal kuemmern."

"Du nimmst in sehr merkwuerdiger Weise Partei fuer jenes Weib."

"Ja, sie steht trotz ihres Fehltritts gerechtfertigter, ich will ruhig
sagen, viel anstaendiger vor meinen Augen als du!"

"Das bitte ich mir zu beweisen", sagte er heiser vor Wut. Er setzte sich
auf eine Tischkante; ich lehnte an einem Schrank ihm gegenueber.

"Ich erinnere dich daran, Joachim, dass das schoene Maedchen, das Katharina
hiess, damals zwar deine blinde, wahnsinnige Leidenschaft erregt, aber dass
sie dich niemals geliebt hat, dass sie so ehrlich war, es dir zu sagen."

"Hoer auf damit!"

"Nein, da liegt die Wurzel zu allem Unheil, das kam. Als du von dem
Maedchen abgewiesen warst, tatest du das, was du immer tatest, wenn du
einen Wunsch durchaus durchsetzen wolltest, du hingst dich an die
Kleiderrockfalten der Mutter."

Er sprang herunter vom Tisch und trat drohend vor mich.

"Benimm dich immerhin auch in dieser Stunde noch mit einigem Anstand,
Joachim! Du hast mir so viel von meinem Leben genommen, fuenf volle
bluehende Jahre, dass ich ein Recht habe, dich als meinen Schuldner zu
betrachten und endlich mit dir abzurechnen."

Er wich zurueck, lachte veraechtlich und trat ans Fenster.

"Ich habe dich nicht aufgefordert, mir zu folgen."

"Nein, aber die Mutter hat es getan, die dich von Kind auf zu einem
jaemmerlichen Egoisten erzogen hat."

"Sag noch ein Wort gegen die Mutter, und ich halte mich nicht laenger!"

"Du sprichst wie ein Raufbold, Joachim, und ich schaeme mich fuer dich. Wie
ich innerlich zur Mutter stehe, geht daraus hervor, dass ich auf ihren
stillen Wunsch hin, dich wiederzuhaben, meine Jugend opferte. Aber nicht
davon wollte ich sprechen, sondern von deinem Verhaeltnis zu Katharina. Das
Maedchen sagte dir damals, dass seine Liebe einem anderen gehoere, deinem
Freunde ..."

"Hoer auf - ich ertrage das nicht!"

"Ich weiss, trotz deiner Brutalitaet anderen gegenueber bist du, was die
eigene werte Person anlangt, sehr feinfuehlig; nicht einmal eine
wahrheitsgemaesse Aussprache ertraegst du. Aber ich erspare sie dir nicht.
Ich halte dir den Spiegel vor, damit du weisst, wenn du von hier
fortziehst, dass es jemand auf der Welt gibt, der keine Spur von Mitleid,
ja nicht einmal von Achtung mehr fuer dich hat, und das ist dein Bruder,
der dich unter allen Menschen auf der Welt am besten kennt."

Er erwiderte nichts mehr; er starrte mich nur an. Ich setzte kaltbluetig
die Abrechnung fort.

"Du wandtest dich damals an die Mutter, und die Mutter setzte bei den
Eltern des Maedchens alle Hebel fuer dich ein. Die Leute hatten sechs
Toechter. Eine von ihnen versorgt zu sehen, war ihr sehnlichster Wunsch. Du
warst approbierter Arzt, der andere, dein Freund, ein vermoegens- und
aussichtsloser Kandidat. Da wurde dem Maedel Tag und Nacht zugesetzt, bis
sie dich nahm. Das war in diesem Falle die Grundlage fuer die schwere
Ja-Frage am Altar nach dem 'freien, ungezwungenen, selbst ungenoetigten
Willen'."

Joachim war in einen Sofawinkel gesunken. Mir war das Herz so kalt und
leicht wie einem Staatsanwalt, der auf "schuldig" plaediert.

"Waehrend du die Flitterwochen hieltest, ging dein Freund beinahe zugrunde.
Nach einem Jahre hiess es, er habe sich beruhigt. Er kam zu euch. Die alte
Sehnsucht trieb ihn. Und da geschah Katharinas Unglueck. Du warst natuerlich
in deiner Ehre sehr tief verletzt. Ich sah das ein. Erst jetzt begreife
ich, dass in jener Ehe deine Gattenehre nicht von Gottes, sondern von
Mutters und Geldsacks Gnaden war. Das Weib hat gefehlt, ohne Zweifel.
Zweimal. Nicht nur, als sie dir die Ehe brach, sondern schon, als sie die
Ehe mit dir einging. Aber du und die Mutter - und wir alle, die wir
schuerend oder doch stillschweigend mitgewirkt haben, sind wir Gerechte?
Leute, die Steine aufheben duerfen? Oder Pharisaeer, die verdienen, die
Geissel des Messias ins Gesicht zu bekommen?

Katharina hat ihre Schuld gebuesst. Nicht durch deinen rohen Revolverschuss,
nicht dadurch, wie sie dich vor Gericht reinwusch, indem sie aussagte, sie
habe sich die Wunde selbst zugefuegt. Nein, mit aber tausend Traenen. Erst
jetzt weiss ich, wie ihr Mutterherz gehungert hat, wie sie durch all die
Jahre nach dem Kinde gesucht hat. Dieses Weib hat vielleicht an einem Tag
und in einer Nacht mehr gelitten und heisser zum Himmel gerufen als du in
der ganzen Zeit. Jetzt auf einmal erscheinst du wieder in der ganzen
Pracht und Herrlichkeit deines gesetzmaessigen Richtertums und beginnst
deine Brutalitaeten aufs neue. Und deshalb, sage ich, ist deine Frau ein
hundertmal anstaendigerer Mensch, als du bist!"

Er stand auf, zuckte ein wenig mit den Armen durch die Luft, als ob er
reden wolle, setzte sich aber wieder. Ich behielt ihn scharf im Blick und
fuhr fort:

"Das ist die Abrechnung, die deine Frau betrifft. Da kommst du immer noch
gut dabei weg, weil nicht nur dein eigenes, sondern auch das andere Konto
belastet ist. Nun komme ich auf dein Verhaeltnis zu deinem Kinde zu
sprechen. Und da - nichts fuer ungut, lieber Bruder - hast du dich glattweg
benommen wie ein Lump. Das Tier bekuemmert sich um sein Junges, traegt ihm
die besten Bissen zu, sorgt fuer seine Sicherheit. Du hast fuer deine eigene
Sicherheit gesorgt, die besten Bissen selbst gegessen, dem Kinde nicht
einen Pfennig, nicht ein armseliges Spielzeug, nicht ein Wort oder einen
Blick gegoennt. Der verkommenste Proletarier, der von zehn Mark, die er
verdient, neun versaeuft und eine Mark seiner Familie gibt, ist ein
besserer Vater, als du bist, denn du hast auch die zehnte Mark fuer dich
genommen."

"Die Mutter ...", aechzte Joachim.

"Ja, die Mutter hat die sogenannten Erziehungsgelder gezahlt. Nebenbei
gesagt, nicht nur von deinem, auch von meinem Erbteil. Ich wundere mich,
dass ich so etwas sagen kann; aber alle Sentimentalitaet ist mir
wahrscheinlich abhanden gekommen. Wir alle haben gefehlt, auch ich! Ich
haette dir nicht nachlaufen, ich haette mich lieber um das Kind kuemmern
sollen. Aber ich war ein unerfahrener, wehleidiger Geselle. Ich bin erst
jetzt, da ich ein grosses Werk angefangen habe, dazu gekommen, die Dinge,
die um mich her sind, klar und leidenschaftslos zu sehen und zu
beurteilen. Wenn ich nun, Joachim, alles zusammenfasse, so bist du weder
deiner Frau noch deinem Kinde gegenueber im Recht. Du hast dich bis jetzt
unbarmherzig zurueckgehalten und bist ploetzlich brutal hervorgetreten, als
deine neue Liebe scheiterte, als dich das von dir herbeigefuehrte Band, das
Priesterhand schlang, hinderte, nach deinem Wohlgefallen jetzt ein neues
zu schlingen. Was dich jetzt leitet, ist nicht Moral, sondern ist Wut, ist
enttaeuschte Selbstsucht! Du kannst die Lage deines bis heute verleugneten
Kindes nicht bessern; denn einen unfaehigeren Erzieher, als du bist, kann
es nicht geben!"

Joachim erhob sich.

"Meinst du, dass ich mir diese Grobheiten gefallen lasse?"

"Es sind nicht Grobheiten, es sind Wahrheiten, Joachim."

"Willst du jetzt dieses Zimmer und dieses Haus verlassen?"

"Nein, ich werde warten, bis die Mutter kommt."

"So werde ich gehen; ich verschmaehe es, weiter mit dir zusammen zu sein."

"Ganz in meinem Sinne. Ich verbiete dir aber, unser Ferienheim noch einmal
zu betreten. Ausserdem ist es nach deinem brutalen Verhalten
selbstverstaendlich, dass du als Arzt von uns entlassen bist."

Er antwortete nicht mehr; er nahm Mantel und Hut und tappte die Treppe
hinab. Ich konnte mir zunaechst ueber das, was ich gesprochen hatte, keine
klare Rechenschaft geben.

Ich hatte nur ein Gefuehl der Erleichterung, hatte mir einmal das Herz
abraeumen gekonnt.

Jetzt fiel unten die Haustuer zu. Ich sah Joachim vom Fenster aus, obwohl
eine mondscheinlose Nacht und die Strassenbeleuchtung sehr kuemmerlich war.
Joachim ging auf den Johannisbrunnen zu. Mit einem Male loeste sich dort
ein Schatten los. Ich erschrak. Katharina! Sie hielt den Bruder jedenfalls
fuer meine Person. Ich sah, wie die beiden aufeinander zugingen,
aufeinander einsprachen, wie das Weib entsetzt die Arme hoch hielt, sich
dann vor dem Bruder auf die Knie warf, wie er sie emporriss. Sie klammerte
sich fest an seinen Arm; er versuchte sich loszuloesen; sie rangen
miteinander.

Ich riss das Fenster auf.

"Katharina", rief ich hinunter, "sei vernuenftig!"

Sie hoerte nicht, liess nicht los, schliesslich rang sie weiter mit ihm, und
ich hoerte sie um das Kind bitten. Sie standen dicht am Brunnenrand. Da gab
Joachim dem Weibe einen gewaltigen Stoss, sie taumelte zurueck und fiel ueber
den niederen Brunnenrand ins Wasser.

Joachim blieb still stehen, wohl im Schreck, zwei, drei Sekunden lang;
dann beugte er sich ueber das Becken.

Da sprang das Weib aus dem Wasser heraus und rannte davon.

Ich hatte all diesen sich schnell abspielenden Vorgaengen sprachlos
zugesehen, dann war ich mit einigen Saetzen unten auf dem Markte. Joachim
stand noch am alten Fleck.

"Ah", lachte er, "du hast zugesehen - da wirst du wohl jetzt behaupten,
ich haette das Weib ertraenken wollen."

"Das werde ich nicht behaupten. Du hast sie nur zurueckgestossen, und sie
ist ungluecklich gefallen."

"Na also! Ich lasse mich auf der Strasse nicht anfallen, verstehst du? Eure
Komoedien verfangen nicht bei mir!"

"Joachim, wir muessen ihr nach, wir muessen sie suchen."

"Suchen? Ich denke nicht daran. Was geht sie mich an?"

"Joachim, sie muss voellig durchnaesst sein, es ist eine kalte Nacht; sie ist
halb irrsinnig vor Aufregung wegen des Kindes. Es kann ein Unglueck
passieren!"

Er antwortete nicht, wandte sich um und ging nach Mutters Haus zurueck. Ich
sah ihm nach, hoerte, wie er von innen den Haustuerschluessel umdrehte. Dann
eilte ich die Strasse hinunter, in der ich Katharina hatte verschwinden
sehen.

Ich rannte durch die ganze Stadt, auch teilweise hinaus auf die
Landstrassen. Es verging wohl eine Stunde und mehr Zeit; ich fand nichts.
Es hatte angefangen zu regnen, und es blies ein rauher Wind. Endlich sah
ich ein, dass ich allein nichts ausrichten koenne. Ich eilte hinauf nach
unserem Heim, ueberzeugte mich, wie ich schon angenommen hatte, dass die
Genovevenklause leer sei, weckte dann Stefenson, Barthel, Piesecke und
noch einige andere verlaessliche Leute, und wir gingen nach verschiedenen
Richtungen auf die Suche.

Morgens drei Uhr kehrte ich todmuede nach Hause zurueck. Die anderen waren
auch noch nicht lange da. Niemand hatte eine Spur von Katharina
entdeckt ...

Noch ehe aber der spaete Morgen graute, wurde die unglueckliche Frau
gebracht. Ein Waltersburger Bauer, der zeitig nach Neustadt fahren wollte,
hatte am Chausseerand ein bewusstloses Weib gefunden und an ihrer Kleidung
erkannt, dass sie zu uns gehoerte. Er hatte die voellig durchnaesste Frau auf
das Stroh seines Waegelchens gebettet und sie mit einer Pferdedecke
zugedeckt.

Ich liess die Bewusstlose nach einem unserer Krankenzimmer am "Stillen Weg"
schaffen und Dr. Michael rufen. Ihn verstaendigte ich ueber das
Vorgefallene, und wir begannen sofort unsere aerztlichen Massnahmen. Wir
verhehlten uns beide nicht, dass wir vor einer sehr ernsten Aufgabe
standen. Saemtliche Maenner, die um das traurige Vorkommnis wussten, auch der
Bauer, gelobten Stillschweigen.

Ich blieb fast den ganzen Vormittag bei der Kranken. Gegen zehn Uhr schlug
sie die Augen auf. Sie laechelte mich an, ohne dass sie bei klarer Besinnung
war, und sagte:

"Der heilige Johannes hat mich getauft; nun bin ich rein von Suenden!"

Die Augen fielen wieder zu, oeffneten sich aber bald aufs neue.

"Ich habe Luise gefunden. Als ich ganz muede war und auf die Strasse fiel,
ist sie zu mir gekommen."

Dann wieder tiefe Bewusstlosigkeit.

Gegen Mittag liess sich meine Mutter bei mir melden. Sie war sehr blass und
rang die Haendchen ineinander.

"Um Gottes willen, wie konnte das geschehen?"

Ich sah sie streng an.

"Es konnte geschehen, weil ihr so unbarmherzig waret, dieser Frau ihr Kind
zu entreissen. Sag mir das eine, Mutter, hast du darum gewusst, dass Joachim
in die Klause eindringen wollte?"

"Nein, ich habe ihm bloss gesagt, wo das Kind ist, und dann nichts
erfahren, bis er Luise brachte."

"Das ist mir lieb. Und wo ist Luise jetzt?"

"Ich - ich habe sie nach Neustadt gebracht zu einer Freundin von mir. Wir
wollten keinen Skandal in Waltersburg oder bei dir hier oben. Joachim
wollte auch bald am Morgen fort."

Ich dachte daran, wie sicher der muetterliche Instinkt die unglueckliche
Katharina geleitet hatte. Auf dem Wege nach Neustadt war sie
zusammengebrochen.

"Was wird nun werden?" fragte die Mutter. "Wie steht es?"

"Es steht sehr schlecht. Du kannst deinem Sohne Joachim sagen oder
schreiben, dass sein sehnlichster Wunsch, diese Frau moege sterben,
wahrscheinlich in Erfuellung gehen wird. Er mag sich einstweilen freuen."

Die Mutter weinte.

"Fritz, du musst nicht so von ihm denken. Er hat doch auch viel gelitten.
Gestern hat er unrecht gehandelt. Er ist dann die ganze Nacht wach
geblieben, und ich glaube, wenn die Frau jetzt stirbt, wird es sein
Gewissen sehr bedruecken. Er ist ja deswegen auch noch nicht abgereist."

Ich lachte.

"Hab keine Sorge, Mutter, Joachims Gewissen ist recht robust."

"Ihr werdet euch nie verstehen."

"Nein. Niemals! Mit solch einem Kerl niemals!" Sie sass noch ein Weilchen
da. Ich fand kein gutes Wort fuer Joachim, auch nicht fuer sie, fragte auch
nicht, was die beiden wohl nun mit Luise vorhaetten, und so ging sie ...

Unsere Patientin war schwer krank, und eine heftig einsetzende
Lungenentzuendung nahm uns bei der schlechten Beschaffenheit des Herzens
fast alle Hoffnung.

Am zweiten Tage abends wurde von Waltersburg aus wieder nach Katharinas
Befinden gefragt. Ich schrieb auf einem Zettel:

"Joachim mag sich noch etwas gedulden; es ist bald aus."

Am selben Abend hoerte ich draussen vor den Fenstern ein helles
Kinderlachen. Da sah ich Luise draussen. Stefenson hatte das Maedel um den
Hals gefasst und fuehrte sie die Strasse herauf.

Ich ging hinaus. Das Kind stuerzte auf mich zu.

"Onkel, lieber Onkel", rief es selig; "denke dir, Pappa ist wieder da."

Stefenson strahlte ueber das ganze Gesicht. Er fluesterte mir zu:

"Es ist nicht so gegangen, wie ich wollte. Ich hatte mir einen genialen
Plan zurechtgelegt, dem Kerl das Maedel zu nehmen; da gab er es leider
freiwillig her."

Das Kind klammerte sich an mich.

"Onkel, lieber Onkel, lass doch nicht mehr den boesen Mann zu mir kommen.
Ich hab so schreckliche Angst vor ihm!"

Ich sagte ihr nicht, dass der "boese Mann" ihr Vater sei. Es gibt
Hunderttausende von Kindern, fuer die der eigene Vater der "boese Mann" ist.
Die maennlichen Schweine fressen zuweilen den eigenen Nachwuchs auf; ich
schaetze menschliche Vaeter, die ihrer Kinder Jugendglueck vergiften, noch um
einige Grade niedriger ein als die selbstsuechtigen Borstentiere. Denn im
Schweinekoben ist der Schmerz kurz, bei lieblosen Menschenerziehern dehnt
er sich Jahr fuer Jahr.

"Kommt der boese Mann wieder?"

"Nein, Luise, er kommt nicht mehr!"

"Dann musst du der Magdalena sagen, dass wir nicht mehr in der
Genovevenklause wohnen wollen; wir wollen lieber wieder in den Forellenhof
ziehen."

"Hast du Magdalena lieb, Luise?"

"Ja, ich will wieder zu ihr. Wo ist sie?"

"Sie ist jetzt krank; aber vielleicht wird sie wieder gesund."

"Sie wird doch nicht sterben?" fragte das Kind weinerlich.

"Nein, Herzchen", sagte ich mit unsicherer Stimme. Langsam gingen
Stefenson und ich mit dem Kinde den "Stillen Weg" entlang ...

Keinem unter allen Suendern hat Christus so streng die Verdammnis angedroht
wie den Unbarmherzigen. Was er fuer sie hat, ist die "ewige Finsternis, wo
Heulen und Zaehneknirschen ist". Diese Hoellenstrafe trifft die
Unbarmherzigen schon auf dieser Welt. Denn Unbarmherzigkeit ist
Finsternis, und Hass heult und knirscht mit den Zaehnen und ist verbannt von
allem Frieden und allem Glueck.

In diesem Lichte sah ich meinen Bruder. Und als ich wieder einmal bei der
roechelnden, fiebernden Frau war, als ich ihre heissen Haende sich die Wand
hinaufkrallen sah, ihren qualvollen Husten hoerte, schickte ich auf neue
Anfrage aus Waltersburg einen Zettel an Joachim:

"Du bist als Amerikafahrer mit indianischen Gebraeuchen vertraut. Freue
dich, deine Frau haengt am Marterpfahl!"

Daraufhin liess er sich bei mir melden, aber ich empfing ihn nicht ...

In ihren Fiebertraeumen schrie die Frau immer wieder:

"Taufe mich, heiliger Johannes, taufe mich!"

Und sie jammerte nach dem Kinde.

Als sie das erstemal bei klarem Bewusstsein war, als sich der Fieberblick
in Angst und Todestraurigkeit verlor, wusste sie nichts zu sagen als:
"Luise ist fort!"

Da sah ich sie laechelnd an.

"Nein, liebe Kaethe, Luise ist hier. Du bist nur jetzt noch krank; du
bildest dir bloss ein, dass Luise fort ist."

"Ich - ich bilde es mir bloss ein?"

Ein kleines, halb irres Lachen flog um ihren Mund.

"Ich bilde es mir bloss ein!"

"Ja, liebe Kaethe - du denkst das bloss so ..."

"Ich denke es bloss so? Wo ist denn Luise? Warum ist sie denn nicht bei
mir?"

"Sieh nur, Kaethe, du bist krank; das Kind laermt zu sehr. Du weisst doch,
wie es laermt."

"Es ist so schoen, wenn es laermt!"

Und sie laechelte lieb und seltsam und schlief ein.

         -------------------------------------------------------

Es ging auf die Krisis zu. Wie das so ist in solchen Faellen: das Befinden
schwankte; einmal ging es der Kranken etwas besser, ein anderes Mal wieder
war es ganz zum Verzweifeln. Immer der eine Satz: "Wenn das Herz aushaelt,
dann ..."

Ja, wenn!

Am siebenten Tage liessen wir Luise zu der Kranken. Wir hatten Luise wohl
vorbereitet.

"Du darfst nicht schreien oder weinen oder laermen. Du darfst nur ganz
leise auf den Zehen ans Bett gehen, der Magdalena die Hand kuessen und
sagen: 'Mamma, ich hab dich lieb!'"

So hat es das Maedchen getan. Die Kranke lag mit verklaertem Gesicht, und in
ihren Augen war ein Strahlen, als ob ihr der Himmel offenstaende.

Als das Kind das Zimmer verlassen hatte, ging ein Froesteln ueber den Koerper
des Weibes:

"Es ist alles nicht wahr gewesen - ich hab das Furchtbare nur getraeumt -
Luise ist wirklich da ...!"

         -------------------------------------------------------

Am zehnten Tage wussten wir, dass Katharina am Leben bleiben wuerde. Freilich
wuerde sie nie mehr ganz gesunden. Das Herz war schon vor der Erkrankung
nicht in Ordnung gewesen und hatte nun schwer gelitten. Es wuerde ein sehr
stilles Leben sein, was Katharina fortan fuehren muesste.

Am hellen Mittag trat mir auf dem "Stillen Weg" der Bruder entgegen. Er
gesellte sich zu mir, ohne dass wir uns die Haende reichten.

"Lebt sie noch? Ist die Krise vorbei?" fragte er mit offener Furcht in den
Augen.

"Ja, es ist ueberwunden!"

Da atmete er auf.

"Ich habe schwere Tage und Naechte hinter mir", sagte er etwas stockend;
"deine Worte lagen mir immer in den Ohren, und du hast es mir auch durch
deine Botschaften nicht leicht gemacht. Aber ich hatte es wohl verdient."

Ich antwortete nicht. Er fuhr fort:

"Ich werde nun abreisen. Ich bitte dich, Kaethe zu einer Zeit, wo du es fuer
angemessen halten wirst, einen Brief von mir zu uebergeben. Er ist offen;
du sollst ihn vorher lesen. Der Brief enthaelt nichts als einen kurzen
Abschied, und dass wir jetzt, durch Land und Meer fuer immer getrennt, ohne
Feindschaft aneinander denken wollen."

Ich wandte den Kopf zur Seite.

"Und Luise?"

"Luise werde ich ihr lassen."

Wir gingen schweigend nebeneinander hin. Dann sagte er:

"Dass ich von dem Kinde ohne Abschied fortgehen muss, faellt mir sehr schwer.
Du wirst es nicht glauben; aber es ist wahr. Das Kind wuerde sich fuerchten,
wenn es mich wiedersaehe. Ich bitte, dass du dich weiter des Maedchens
annimmst. Mit einem Kapital werde ich es ausstatten. Willst du die Sache
uebernehmen?"

"Ja."

"Ich danke dir!"

Wieder gingen wir ein Stueckchen wortlos weiter.

"Ich koennte nun gehen, Fritz; aber das Schwerste habe ich noch zu sagen."

Ich sah ihn fragend an. Da brachte er heraus:

"Die Mutter will mit mir nach Amerika."

Ich blieb stehen.

"Du musst nicht glauben, Fritz, dass ich Mutter dazu ueberredet habe. Sie hat
es von selbst gewollt."

"Ja, ich kann es mir denken."

Etwas unendlich Bitteres quoll mir durch die Seele.

"Wann wollt ihr denn fort?"

"Morgen. Die Mutter laesst dich fragen, wann sie sich von dir verabschieden
kann. Willst du am Nachmittag zu ihr hinunterkommen?"

Ich musste erst ein paarmal Atem holen, dann sagte ich:

"Ja, ich werde kommen."

Joachim blieb stehen.

"So habe ich dir alles gesagt, Fritz. Nun kann ich mich von dir
verabschieden. Wenn du zu Mutter kommst, werde ich euch nicht stoeren,
werde ich schon fort sein."

Es wurde ihm schwer.

"Leb wohl, Fritz; hab keinen Groll mehr gegen mich. Ich danke dir fuer
alles Gute - auch, dass du mich fuenf Jahre lang gesucht hast - auch, dass du
neulich so mit mir gesprochen hast."

Die Stimme stockte ihm, und auch ich brachte es kaum heraus, als ich
sagte:

"Behuete dich Gott, Joachim!"

Als er sich schon abgewandt und die ersten Schritte gemacht hatte,
erscholl jenseits eines kleinen Gebuesches das selige Kinderlachen Luises.

Joachim wandte sich noch einmal um.

"Ist sie das?"

Ich nickte mit dem Kopf.

Da legte er die Hand ueber die Augen und ging schwer und langsam den Berg
hinab.

Und noch einmal erscholl das Lachen des spielenden Kindes hinter ihm her.





                             FREUND STEFENSON


Nun war es vorbei. Ich stieg von Neustadt aus den Weihnachtsberg hinauf.
Der Zug, der meine Mutter in die weite Welt davongefuehrt hatte, war laengst
nicht mehr zu sehen. Der Bruder war schon gestern bis zur
Provinzialhauptstadt vorangereist; ich hatte ihn nicht mehr getroffen.

Die Bitterkeit war aus meiner Seele gewichen und hatte einer stillen
Trauer Platz gemacht. Die letzten Stunden, die ich mit meiner Mutter
verlebt hatte, waren voll reinster Liebe gewesen, ohne Eifersucht, ohne
Neid, ohne Groll auf den Bruder, um dessentwillen sie mich und die alte
Heimat verliess. Joachim sollte nicht wieder einsam und verbittert durch
die Welt irren; die Mutter wollte nicht wieder Tag fuer Tag sehnsuechtig am
Fenster stehen und auf das schwermuetige Plaetschern des Johannesbrunnens
lauschen.

Mich wusste sie in Sicherheit, mit einer grossen Aufgabe betraut, die mein
Herz ausfuellen wuerde. So ging sie mit dem anderen, dem Einsamen.

Es war weiblich, es war muetterlich; es konnte wohl nicht anders sein.

Aber wie ich auf die andere Seite des Weihnachtsberges kam und mein altes
Waltersburg liegen sah, den Marktplatz mit dem Brunnen und mein
verlassenes Vaterhaus, da setzte ich mich todmuede an den Wegrand ins welke
Gras. Ich barg das Gesicht in den Haenden und sass lange so.

Als ich endlich aufblickte, sah ich mir gegenueber auf dem anderen Wegrande
Stefenson sitzen. Ich war unwillig, dass er sich so angeschlichen hatte,
aber er kam mir mit teilnehmendem Gesicht, ganz ohne seine sonstige
spoettische Art, entgegen, so dass mein Aerger verflog.

Stefenson setzte sich neben mich und legte mir die Hand aufs Knie:

"Sehen Sie, alter Junge, so was tut weh. Das begreife ich. Aber da muessen
Sie auch begreifen, dass ich Sie nicht allein lassen kann, dass ich mich um
Sie kuemmern muss. Ich bitte Sie, dass Sie mir einige Minuten zuhoeren. Sie
brauchen mir gar nicht zu sagen, was fuer Gefuehle Sie bewegen, aber ich
bitte Sie, mir zu erlauben, dass ich als Ihr Freund zu diesen Gefuehlen
Stellung nehme. Zunaechst mal, ob Ihrer Mutter der Aufenthaltswechsel auch
bekommen wird. Daran denken Sie ja wohl an erster Stelle. Nun, ich meine,
sie ist von guter Natur; Rio ist ein ganz gesunder Wohnort; Ihr Bruder ist
Arzt, der sie staendig ueberwachen kann; ausserdem ist er in der Lage, ihr
das Leben so angenehm wie moeglich zu gestalten, dann, Ihre Mutter sieht
einmal die Welt. Nicht mehr mit der Aufnahmefaehigkeit, der Spannkraft, dem
Ueberschwang der Jugend, aber mit dem ganzen Hochgenuss, mit dem ein reifer,
feiner Kopf die Schoenheiten dieser alten Erde betrachten kann. Und gar Rio
de Janeiro! Dort hoeren die Tauben die Voegel singen, dort sehen die Blinden
die Blumen bluehen; das wissen Sie ja selbst, Ihre Mutter wird leben wie im
Paradies. Aber das wird freilich alles nicht hindern, dass sie das Heimweh
bekommen wird - nach dem alten Nest da unten - nach dem Hause am Brunnen -
auch nach Ihnen. Schuetteln Sie nur nicht den Kopf, lieber Freund; eine
Mutter liebt immer am meisten das ihrer Kinder, das nicht bei ihr ist. Und
da denken Sie nur daran, dass sie eines schoenen Tages wieder dasein wird.
Inzwischen lassen Sie unten in dem Hause am Markt alles, wie es ist;
lassen Sie alle Tage die Moebel wischen, alle sechs Wochen frische Gardinen
aufstecken, im Winter die Stuben heizen, im Sommer die Polster einmotten,
auch Kupfer und Zinn in der Kueche putzen und den Kanari gut im Futter
halten, damit Ihre Mutter alles in Ordnung findet, wenn sie wiederkommt."

"Stefenson", sagte ich dankbar, "Sie sind ein seelenguter Mensch."

Das verdross ihn. Er sagte zunaechst gar nichts, spuckte dann mit grossem
Geschick bis zum gegenueberliegenden Wegrand und meinte endlich in gaenzlich
veraendertem Tone:

"Sie verstehen mich immer noch nicht. Das muessen Sie doch wissen, dass so
'n alter Fuchs wie ich immer seine Hintergedanken hat, wenn er mal 'nen
Abstecher ins Gefuehlsmaessige macht. Zum Beispiel jetzt habe ich gerade ein
wichtiges Geschaeft, bei dem Sie unbedingt mitwirken oder dem Sie
wenigstens zustimmen muessen, und da ist es mir natuerlich verdriesslich,
wenn Sie in verkaterter Stimmung sind."

"Und deswegen suchten Sie mich zu troesten?"

"Ja, nur deswegen!"

Ich laechelte. Er sah es und wurde erbost.

"Mensch, lachen Sie nicht! Was gehen mich denn Ihre
Familienangelegenheiten an? Glauben Sie, dass ich mich bei meinen tausend
Geschaeftsfreunden darum kuemmern kann, ob sie mal Krach mit einem Bruder
haben, ob mal ihre Mutter verreist, ob die Motten in ihre Moebel kommen
oder ihr Kanarienvogel verhungert? Haett' ich viel zu tun. Aber wenn zwei
Feldherren miteinander in den Krieg ziehen und der eine von ihnen
Zahnschmerzen hat, hat der andere dafuer zu sorgen, dass der Zahn gezogen
oder wenigstens plombiert wird. Sonst wird nichts aus ihrer Chose."

Ich laechelte nicht mehr, aber ich erwiderte auch nichts.

Da sagte Stefenson fast niedergeschlagen:

"Wenn Sie etwas Geschaeftssinn haetten, haetten Sie mich laengst gefragt, um
was fuer ein Geschaeft es sich handelt."

"So sagen Sie es mir - bitte!"

Er war verstimmt.

"Nun, ich kann ja den Weihnachtsberg auch ohne Sie von den Neustaedtern
zurueckkaufen."

"Den Weihnachtsberg wollen Sie zurueckkaufen?"

"Ich sagte es Ihnen eben. Wir muessen unser Heim bis zum Gipfel des Berges
ausdehnen, sonst spucken uns die Neustaedter auf den Kopf."

"Sie werden den wichtigsten Aussichtspunkt nie hergeben."

"Troesten Sie sich. Wozu habe ich in der 'Neustaedter Umschau' seit drei
Wochen Artikel gegen den Weihnachtsberg veroeffentlicht? Zum Beispiel, dass
sein Besuch von Neustadt aus ausserordentlich zu wuenschen uebrig lasse, weil
der viel bequemer zu erreichende Ochsenkopf eine viel bessere Aussicht
bietet, dass die Rentabilitaet ausserordentlich gering sei, die Paechter
nichts zu leisten vermoechten und solchen Kram mehr. Die Neustaedter sind
bereits muerbe. Denn sie sind wieder mal im Dalles. Nun habe ich vorgestern
einen Artikel gebracht, man solle den Weihnachtsberg, wenn sich eine gute
Gelegenheit boete, an irgendeine neutrale Person je eher je besser
verkaufen, damit er ja nicht mal in Waltersburger Haende fiele, was die
Konkurrenz drueben staerken wuerde."

"Was bezwecken Sie damit?"

"Dass mein Vertrauensmann, der sich als Privater um den Kauf der
Weihnachtsbergkuppe bemueht, die Sache billig bekommt. In vierzehn Tagen,
denke ich, koennen wir oben einziehen."

Wir waren inzwischen aufgestanden und stiegen langsam den Berg hinab.
Stefenson sprach immerfort von seinen Plaenen und brachte es wirklich
zuwege, dass meine Bangigkeit nachliess und ich ihm wenigstens mit halber
Aufmerksamkeit zuhoerte. Er begleitete mich bis in mein Arbeitszimmer. Dort
sagte Stefenson:

"Nun gestehen Sie es sich mal selber, lieber Freund: die ganze Zeit, da
unser Heim besteht, haben Sie, der die Lehre von den Ferien vom Ich
erfunden und gepredigt hat, selbst mit Haut und Haaren mitten im dicksten
Ichleben gesteckt. Hauptsaechlich wegen Ihrer Familienangelegenheiten.
Jetzt erst, wo sich alles in Frieden loest, werden Sie Ihrer Idee ganz und
mit Freuden dienen koennen. Sie lehren selbst: in den Ferien vom Ich los
von der Familie! Deshalb habe ich auch von Anfang an gemeint, wenigstens
einer von uns beiden muesse ganz ohne Familie sein."

"Und welcher von uns beiden soll das sein?"

"Sie!"

Fast haette ich ueber den alten Egoisten lachen muessen.

"Sie waeren aber doch viel geeigneter, Stefenson; denn Sie sind doch schon
ohne Familie."

"Sie vergessen, dass ich eine Braut habe."

"Eva Bunkert? Ich meine, dieser Verlobtenstand ist einseitig."

Er lachte.

"Bah - wegen der Auskneiferei - wegen dieser Marotte? Ich habe an Eva
einen vernuenftigen Brief geschrieben, habe ihr gesagt, ich wuerde ihr gern
nachreisen, wenn es nicht zu dumm waere, und wenn ich Zeit dazu haette. Sie
solle ja nicht annehmen, dass ich jetzt ploetzlich an ihrem Theater als
Coiffeur, Portier, Kulissenschieber oder dergleichen auftauchen wuerde, um
sie weiter zu beobachten. Das wuerde abgeschmackt sein; denn ich mache
keinen Witz zweimal. Im uebrigen liebte ich sie unveraendert weiter und
ueberliesse ihr, zu bestimmen, wann unsere Hochzeit sein solle. Diesen Brief
habe ich vor acht Tagen geschrieben und noch keine Antwort. Das ist doch
ein sehr guenstiges Zeichen."

"Ich wuerde dieses Zeichen anders auslegen."

"Nein. Sie graemt sich. Sie kann gar nicht schreiben. Waere ich ihr egal,
haette sie mir einen schnippischen, und waere sie ein oberflaechliches Weib,
sofort einen freundlichen Verzeihungsbrief geschrieben. So ist sie ein
braves Maedel, das mich liebt, und schreibt gar nicht."

"Es kann schon so sein", sagte ich muede; "ich hoffe, dass es Eva gut geht!"

"Nun, so ... so ... Vor fuenf Tagen hat sie das erstemal auf der Oper
gesungen. Zwei Kritiker haben sie bestehen lassen; einer hat sie etwas
mitgenommen. Mit dem habe ich mich telephonisch verbinden lassen. Ich habe
den Mann aufgeklaert, um was es sich handelt - so in grossen Zuegen natuerlich
-, und ihm gesagt, dass er mir einen Riesengefallen tun wuerde, wenn er
Fraeulein Eva Bunkert nach Strich und Faden verrisse und an der Oper
unmoeglich mache. Meine eventuelle Erkenntlichkeit fuer ihn habe ich dem
Kritiker wirklich nur ganz diskret und delikat angedeutet. Trotzdem hat
mir der Grobian gesagt, es sei schade, dass sich telephonisch keine
Ohrfeigen austeilen liessen; im uebrigen sei Fraeulein Bunkert ein
ausserordentlich hoffnungsvolles Talent. Das habe ich davon. Nun wird sie
auch dieser Kerl loben. Ach, du lieber Gott, die deutschen
Zeitungsschreiber sind sehr verschiedener Art."

"Und Sie fuerchten gar nicht, dass Eva Bunkert Ihnen verlorengehen koennte?"

"Nicht eine Minute. Sie hat gebissen. Ich halte sie fest. Wenn sie noch
ein wenig herumzappeln will, kann ich ihr den Spass ja goennen."

So purzelte Stefensons draufgaengerische, frische Art durch den bangsten
Tag meines Lebens. Und als ich am naechsten Morgen nach tiefem Schlaf
erwachte, fuehlte ich mich gesund und munter, stark genug, dem Leben ins
Auge zu schauen und mit Lust und Freude an meinem schoenen Werke weiter zu
schaffen.

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Etwa drei Wochen spaeter besuchte mich Stefenson wieder in meinem
Arbeitszimmer. Auf dem Tische lag die neueste Nummer der "Neustaedter
Umschau".

"Ich habe diesmal nichts drin", sagte Stefenson und wies auf die Zeitung.
Trotzdem schlug er sie auf. Und mit einem Male riss er die Augen auf, trat
ans Fenster.

"Haben Sie schon - haben Sie schon gelesen?" fragte er aufgeregt.

"Was denn? Was steht denn wieder in dem Schundblatt? Ich habe noch gar
nicht hineingeschaut."

"Da - da ..."

Er wies auf eine kleine Notiz. Ich las:

"Verlobung. Die Opernsaengerin Eva Bunkert, Tochter unseres verflossenen
Baurats August Bunkert, hat sich mit dem Grafen Hanns von Simmern, Sohn
des herzoglichen Kammerherrn Grafen Eugen von Simmern, verlobt. - Eine
rasche Kuenstlerkarriere!"

"Da haben wir's", sagte ich. "Die Sache ist in der Tat sehr rasch
gegangen."

"Rasch gegangen! Ist das alles, was Sie zu dieser Schandtat zu sagen
wissen?" bruellte Stefenson.

"Ja, was soll ich in meiner Ueberraschung dazu sagen? Es tut mir natuerlich
leid um Sie!"

"Leid! Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun. Niemand brauche ich leid zu
tun. Ich verbitte mir das! Denn ich kann froh sein, dass ich diese Gans los
bin. Ich bin auch ganz kolossal froh. Nach kaum vier Wochen ist dieses
flatterige Ding mit ihrer Lebenswahl fertig. Von einem zum andern. Immer
zu, immer zu! Was verliere ich dabei? Weil er ein Graf ist, weil sie sich
bei ihm in Taschentuecher mit einer neunzackigen Krone die Nase schneuzen
kann, deshalb gibt sie mich auf. Einen Mann wie mich, der diese bankerotte
Bauratstochter gegen alle Vernunftgruende geliebt hat und sie heiraten
wollte, gibt sie auf!"

Er sank in einen Stuhl. Sein Schmerz war masslos. Aber ich blieb kuehl.

"Lieber Freund", sagte ich, "es ist sicher fuer unsere Gruendung ganz gut,
wenn Sie familienlos bleiben, wenn Sie Ihre Selbstaendigkeit, den ruhigen,
klaren Blick ..."

"Halten Sie den Mund! Kommen Sie mir nicht mit solchem Bloedsinn. Satt hab
ich's, satt. Meinetwegen mag die ganze Geschichte hier zum Teufel gehen.
Mir liegt an nichts mehr etwas, an gar nichts mehr!"

Er wand sich in dem Lehnstuhl, in dem er sass, wie in Kraempfen. Ich stellte
mich ans Fenster und zuendete mir eine Zigarre an. Da knirschte er:

"Sprechen Sie wenigstens; sagen Sie etwas zu mir. Das kann ich doch wohl
verlangen."

"Sie lassen mich ja nicht zu Worte kommen, Stefenson. Und dann, ich weiss
selbst nicht, was ich zu der Sache sagen soll."

"Jawohl, Sie machen sich eben nichts aus mir. Sonst koennten Sie sich jetzt
nicht so pomadig eine Zigarre anzuenden. Schoener Freund! Glauben Sie denn,
dass sie mit dem Grafen, diesem neunmal gehoernten Kerl, gluecklich sein
wird?"

"Das kann ich nicht beurteilen."

"Das muessen Sie beurteilen koennen! Sie muessen wissen, dass solche
sogenannten Mesalliancen nie zum Glueck fuehren, dass dieses Weib im Hause
ihres graeflichen Gatten als Eindringling entweder gar nicht zugelassen
oder _sub_ Luder behandelt werden wird, dass der Mann ihrer ueberdruessig
sein wird, wenn ihre Schoenheit verblueht, dass sie dann im Elend sitzen
wird."

"Das kann schon alles so kommen, es kann aber auch anders sein. Es kommt
ganz auf den Mann an. Prophezeien kann niemand, hoechstens unsere alte
Wahrsagerin unten in Waltersburg."

"Wollen Sie mich verspotten? Sich ueber mich lustig machen? Ist das Ihre
Freundschaft?" Er war wuetend.

"Lieber Stefenson, Sie sind jetzt sehr aufgeregt. Was immer ich auch jetzt
sagen moechte, wuerde Ihnen nicht gefallen. Warten wir also ab, bis Sie sich
etwas beruhigt haben, und dass Sie dann ganz auf mich rechnen koennen,
wissen Sie ja doch!"

"Ich werde mich nie beruhigen", sagte er. "Ueber das komme ich nicht weg!"

Wohl zehn Minuten vergingen, waehrend deren Stefenson im Zimmer auf und ab
schritt. Manchmal blieb er stehen, sprach leise mit sich selbst oder
fuchtelte mit seinen langen Armen durch die Luft. Endlich fragte er:

"Was ist das mit der Wahrsagerin in Waltersburg, die Sie erwaehnten?"

"Ah, Stefenson, das war doch nur Scherz. Es wohnt da unten im alten
Zollhaus, kaum dreihundert Meter unter unserem Grundhof am Waltersburger
Weg, ein Weib, das schon uralt war, als ich noch in kurzen Hosen ging. Sie
nennt sich nach ihrem Beruf Sibylle. Wie sie eigentlich heisst, wie alt sie
ist, weiss kein Mensch. Fuer fuenfundzwanzig Pfennig prophezeit sie den
Buergern, Bauern und Koechinnen die Zukunft."

"Und stimmt es, was sie sagt?"

"Ja, das weiss ich nicht. Ich hab mich um das alte Fernrohr in die Zukunft
nicht gekuemmert. Als Jungen haben mal Joachim und ich fuenfundzwanzig
Pfennig zusammengeschossen und uns weissagen lassen. Da hat sie gesagt,
wir wuerden bald eine maechtige Tracht Pruegel bekommen. Und das ist auch
eingetroffen. Es kam naemlich heraus, dass wir die fuenfundzwanzig Pfennig
zur Sibylle getragen hatten, und wir bekamen Pruegel dafuer."

Ich wusste, dass Stefenson aberglaeubisch war. Viele sonst sehr kluge
Menschen sind es. Stefenson fing an einem Freitag kein Geschaeft an, es
beunruhigte ihn, wenn eine Katze ueber seinen Weg lief, und er hatte immer
ein altes Hufeisen auf seinem Schreibtische liegen. Er stammte ja auch aus
Amerika, wo der Aberglaube zu Hause ist. Jetzt fuehlte er das Beduerfnis,
sich ein wenig zu rechtfertigen, und sagte:

"Es ist durchaus falsch, alle Hellseherei von vornherein als Unsinn zu
erklaeren. Es koennen da Naturkraefte wirken, die wir nicht kennen."

"Gewiss - gewiss!"

Er versank wieder in tiefe Traurigkeit.

"Vor vier Tagen habe ich ihr einen Brief geschrieben, habe sie gebeten,
sie moege doch von ihrem Groll ablassen. Wenn sie es schon nicht einsehen
wolle, dass ein Mann, der sein ganzes Lebensschicksal an eine Frau ketten
wolle, zu deren gruendlichster Pruefung berechtigt sei, so solle sie halt
denken, dass es mir doch auch Spass gemacht habe, mal in den Ferien vom Ich
eine unerkannte Rolle zu spielen, und dass ich doch eigentlich als Knecht
Ignaz um sie gedient habe wie Jakob um die geliebte Rahel. Sehen Sie, von
diesem Brief glaubte ich, er sei eigentlich zu deutsch, zu sentimental.
Aber es war mir so ums Herz, und so schickte ich ihn ab. Der Brief wird
gerade zu ihrer Verlobung zurechtgekommen sein."

Es schuettelte ihn vor Schmerz und Zorn.





                        DER FUCHS UND DIE SIBYLLE


Es war Abend, als ich am Grundhof vorbeischlich und mich an der Reihe
windbruechiger Weiden, die am alten Waltersburger Weg stehen, hinab zum
Hause der Sibylle schlaengelte. Das kleine Anwesen sah schaebig und
unordentlich aus. Die Tuer stiess einen graemlichen Quieker aus, als ich
eintrat. Der Hausflur war finster, aber in dem daranstossenden Zimmer,
dessen Fenster mit buntem Kattun verhaengt waren, brannte eine kleine
Lampe. Die "Sibylle" erhob sich und kam mir entgegen. Mit krummem Ruecken,
auf einen Stock gestuetzt, hob sie ihr verrunzeltes Gesicht, das in dem
trueben Lichte der kleinen Lampe ganz gespenstisch aussah, zu mir empor.

"Wird er kommen?" fragte sie.

"Ich weiss es nicht. Aber ich hoffe es; denn ich habe es ihm kraeftig
eingeredet. Ich gehe einstweilen in die Nebenstube und passe auf. Halten
Sie sich genau an unsere Abmachungen."

"Jawohl!" nickte das Weib.

Ich musste eine Stunde lang warten und gab den Plan, den ich gefasst hatte,
beinahe auf. Noch zweimal hatte Stefenson heute von der Wahrsagerin
angefangen, und ich hatte ihm einige sehr merkwuerdige Faelle erzaehlt, in
denen die Voraussagungen der Sibylle in verblueffender Weise eingetroffen
waren. Nun kam er doch nicht. Schon wollte ich meinen Lauscherposten
verlassen, da sah ich den alten Fuchs um die Wegkruemmung treten und
vorsichtig umherspaehen.

"Er kommt!" sagte ich zu der Sibylle durch die Tuer. "Nun machen Sie Ihre
Sache gut."

Fuenf Minuten spaeter hoerte ich nebenan Stefenson eintreten.

"Guten Abend", sagte er etwas verlegen. "Ich komme mal zu Ihnen. Sie
brauchen sich deswegen nicht etwa einzubilden, dass ich auf Ihren Quatsch
etwas gebe; aber ich habe von Ihnen gehoert, und da will ich mal einen
Versuch machen - der Wissenschaft halber, verstehen Sie?"

Die Sibylle ruehrte sich nicht. Sie sah greulich aus. Die Gestalt war in
ein geflicktes Umschlagetuch gehuellt, vor Stirn und Augen hatte sie einen
gruenen Lichtschirm, ueber dem der graue Scheitel struppig herausragte. Das
alte Weib betrachtete ihre ausgebreiteten schmutzigen Karten und sagte
kein Wort.

"Nun?" mahnte Stefenson ungeduldig.

Keine Antwort.

"Ja, wollen Sie nun gefaelligst mit mir sprechen?" brauste der Amerikaner
auf.

"Scheren Sie sich hinaus!" kraechzte die Alte.

"Wa-as?"

"Hinausscheren sollen Sie sich!" wiederholte der haessliche Rabe.

"Das ist stark!" sagte Stefenson verbluefft. "Nun bleibe ich natuerlich
hier!"

Er schob sich den wackligen Stuhl, der an der Wand lehnte, zurecht und sah
mit stoischer Ruhe zu, wie das alte Weib ihre Karten mischte und legte,
ohne ihn auch nur im geringsten zu beachten. Ich vergnuegte mich an meinem
Guckloche koeniglich.

Endlich stand Stefenson auf, legte auf die Tischkante eine Muenze und sagte
mit erzwungener Hoeflichkeit:

"Madame, ich moechte gern durch Ihre Kunst meine Zukunft erfahren."

"Warten Sie!" schnarrte der Rabe.

Und Stefenson wartete. Sibylle betrachtete indes unverwandt ihre Karten.
Endlich schien sie fertig zu sein. Sie warf einen Blick auf das Geldstueck
und sagte: "Auf zwanzig Mark kann ich nicht herausgeben. Es kostet
fuenfundzwanzig Pfennig."

"Behalten Sie nur das Goldstueck", erwiderte Stefenson. Da schnipste sie
mit dem Finger die Muenze vom Tische hinab auf den Fussboden und kreischte
wuetend:

"Fuenfundzwanzig Pfennig kostet es!"

Stefenson kramte in einer Westentasche und legte fuenfundzwanzig Pfennig
auf den Tisch.

"Stecken Sie das Goldstueck ein!" befahl die Alte. Stefenson leuchtete mit
Streichhoelzern gehorsam den Fussboden ab, bis er die Goldmuenze fand, und
steckte sie ein. Darauf mischte Sibylle die Karten, liess Stefenson dreimal
abheben und sagte:

"Sie sind neunundvierzig Jahre alt!"

Stefenson lachte aergerlich.

"Neununddreissig bin ich."

"So sehen Sie nicht aus!"

Darauf wurden die Karten auf den Tisch gebreitet.

"Richtig - erst neununddreissig", sagte die Wahrsagerin.

"Am 14. April geboren."

"Das stimmt!" rief Stefenson verbluefft.

"Es stimmt alles, was ich sage", knurrte die Alte.

"Sie haben weder Vater noch Mutter, Bruder noch Schwester. Sie sind nicht
aus diesem Lande, Sie sind ueber das Wasser gekommen."

Stefenson setzte sich staunend auf den Stuhl.

"Sie sind sehr reich", fuhr die Alte fort, "und werden immer reicher
werden; aber Sie haben Unglueck in der Liebe."

"Ja", murmelte Stefenson.

"Ihre Braut heiratet einen anderen."

"Ist das wahr?"

"Ja. Aber Sie sind selbst schuld; Sie haben Ihre Braut schlecht behandelt
und sie betrogen."

Stefenson stoehnte leise. Die Alte fuhr fort:

"Wenn Sie sich mit dem neuen Braeutigam Ihrer Braut duellieren, werden Sie
ihn toeten."

"A-ah!"

"Ja, aber es wird Ihnen schlimm ergehen, weil er ein vornehmer Herr ist,
und das Maedchen wird doch einen anderen nehmen."

"Wird sie gluecklich werden?" fragte Stefenson.

"Sie wird mit jedem Manne gluecklich werden, den sie nimmt. Nur mit Ihnen
waere sie ungluecklich geworden."

"Das ist nicht wahr!" rief Stefenson.

"Das ist ebenso wahr, als dass Sie nach einem Jahre eine reiche
Amerikanerin heiraten werden."

"Schwindel!" rief Stefenson erbost. "Ich werde nie eine andere heiraten.
Sie schwafeln da einen ungeheuren Bloedsinn zusammen!"

"Scheren Sie sich hinaus!" kreischte der Rabe wuetend und klappte die
Karten zusammen.

"Ich bitte, dass Sie weitersprechen", beruhigte sich Stefenson gewaltsam.

Die Alte aber erhob sich und humpelte der Nachbartuer zu.

"Bleiben Sie da", rief Stefenson; "ich habe doch fuenfundzwanzig Pfennig
bezahlt."

Sie gab keine Antwort, verschwand hinter der Tuer und schob den Riegel vor.

In diesem Augenblick sprang ich im Nebenzimmer aus dem Fenster hinaus in
den Garten, ging ums Haus herum und trat durch den Flur in die
Vorderstube.

Als Stefenson und ich uns sahen, prallten wir voreinander zurueck.

"Sie - Doktor?"

"Sie - Stefenson?"

Er lachte ausserordentlich verlegen. Leise sagte er: "Aber wissen Sie - nur
der Wissenschaft halber ..."

"Ja - ich natuerlich auch nur der Wissenschaft halber. Waren Sie schon
dran?"

"Ja. Und es hat merkwuerdig gestimmt. Jetzt ist die Alte da hinein und hat
sich abgeriegelt. Aber ich warte, bis sie herauskommt; ich will noch mehr
erfahren."

"Wenn es Sie nicht stoert, warte ich mit."

Ich sah, dass ihm mein Erscheinen gar nicht recht war, aber ich setzte mich
auf den Tisch und liess die Beine herabbaumeln. Eine halbe Stunde verging;
es wurde langweilig. Ein paarmal hatte Stefenson an die Tuer der anderen
Stube geklopft, aber keine Antwort erhalten. Endlich hoerten wir drin ein
Gekrabbele.

"Sind Sie noch da?" kraechzte die Sibylle.

"Jawohl!" antwortete Stefenson.

Ein Scharren kam von nebenan, dann sagte die Alte:

"Ich werde Ihnen fuer Ihre fuenfundzwanzig Pfennig jetzt noch zeigen, wie
Ihre kuenftige Frau aussieht, und dann scheren Sie sich endlich fort."

"Ich will nichts wissen von einer kuenftigen Frau, ich bleibe ledig!"
widersprach Stefenson. "Kommen Sie lieber heraus und geben Sie mir noch
auf einige Fragen Auskunft."

"Nein!" brummte der Rabe. "Sie werden nur noch Ihre kuenftige Frau sehen!"

Die Tuer sprang auf, und in ihrer Oeffnung stand Eva Bunkert in ihrer ganzen
strahlenden Schoenheit. Stefenson fasste sich an den Kopf.

"Eva!"

"Ja, ich bin's!" sagte das Maedchen, blieb stehen und lachte.

"Wie ist das moeglich? Wie ist das nur moeglich?" Stefenson machte den
Eindruck verdattertster Hilflosigkeit. Da sprang ich vom Tisch herunter,
brach in Gelaechter aus und schrie jubelnd:

"Wir haben einen alten, sehr alten Fuchs gefangen. Horrido!"

Eva hatte gluehrote Wangen. Sie trat auf den wie angewurzelt dastehenden,
staunenden Stefenson zu, reichte ihm die Hand und sagte mit warmem Ton in
der Stimme:

"Mein Lieber, Sie werden mir wegen dieser Komoedie nicht zuernen. Eine
kleine Strafe wenigstens hatten Sie fuer Ihre Ignazmaskerade doch wohl
verdient."

"Ich verstehe nichts - nichts von allem", stammelte Stefenson. Da griff
ich ein.

"Also, lieber, alter Fuchs, ich will Ihnen alles kurz erklaeren, was jetzt
Ihr in eine Wolfsgrube gefallener Verstand doch nicht von selber findet!
Die Sibylle, die Sie befragt haben, war niemand anders als Fraeulein Eva
selbst."

"Oh - oh - und die wirkliche Sibylle?"

"Sitzt in der Dachkammer und hat uns gegen Geld und gute Worte ihr
Amtslokal mal voruebergehend ueberlassen. Ist das nicht gut?"

Er sagte nicht, dass das "gut" sei. Ganz foermlich wandte er sich an Eva.

"Mein gnaediges Fraeulein, es ist ja recht, recht liebenswuerdig, dass Sie mit
mir zu scherzen belieben; aber ich darf wohl einigermassen erstaunt sein,
da ich erst heute morgen in der Zeitung -"

Ich griff wieder ein.

"Die 'Neustaedter Umschau' war die zweite Wolfsgrube, in die Sie glitten,
verehrter Fuchs, oder vielmehr die erste. Denn die Notiz habe ich
geschrieben, habe sie in die 'Umschau' lanciert, aber nicht etwa in die
ganze Auflage, sondern nur in die beiden Exemplare, die bei Ihnen und bei
mir abgegeben werden. Da ist eben fuer diese zwei Nummern im Satzspiegel
eine kleine Aenderung gemacht worden."

"So ist wohl alles gar nicht wahr?"

"Nein, es ist nicht wahr", sagte Eva und wurde in dem Masse roeter, als
Stefenson bleicher wurde. Ich fuerchtete mit einem Male, der Scherz koenne
noch schief ausgehen, und sagte deshalb:

"Nanu, Stefenson, spielen Sie bitte nicht etwa die gekraenkte Unschuld. Da
waeren Sie gerade der Rechte dazu. Was haben Sie uns genarrt! Mit der
Ignazgeschichte und mit Ihren Umschau-Artikeln, auch als Journalist Brown.
Ihr Suendenregister ist in dieser Hinsicht so gross, dass unsere kleine List
eine aeusserst gelinde Strafe ist."

"Und - und der Graf Simmern - und der herzogliche Kammerherr?"

"Himmel, Stefenson, sind Sie heute schwer von Begriffen, diese Simmerns
existieren doch gar nicht."

"Ah - so ist das gewesen? Die Anzeige war gefaelscht, und die Wahrsagerin
waren Sie selbst. - Es - es ist ja sehr witzig! Gnaediges Fraeulein, Sie
haben die alte Sibylle ausgezeichnet gemimt. Ich glaube, Sie sind eine
grosse Schauspielerin."

Es war mir, als ob in Evas Augen eine geheime Angst traete. Ich sagte:

"Nun sehen Sie, ob ein Mister Stefenson in den Ferien vom Ich in die
Tracht eines Bauernknechtes kriecht oder ob eine Opernsaengerin mal in das
Habit einer Wahrsagerin schluepft, bleibt sich ganz gleich. Das ist doch
selbstverstaendlich."

Seine Augen irrten umher.

"Ich fuerchte, die wirkliche Sibylle wird sich in der Bodenkammer erkaelten.
Man sollte sie jetzt herunterrufen."

Die Stimmung wurde frostig. Ich sah, dass Evas rote Wangen verblichen. In
diesem Augenblick humpelte die wirkliche Sibylle ins Zimmer. Sie lachte
albern und blinzelte verlangend mit den Augen.

"Na, Sibylle", sagte Stefenson, "Sie werden ja von den Herrschaften schon
bezahlt sein; da haben Sie auch von mir noch ein Trinkgeld."

Er legte ein Fuenfzigpfennigstueck auf den Tisch. Die Alte fauchte
unzufrieden; mir ging die Laune aus. "Gehen wir hinaus!" sagte ich. Ich
half Eva den Mantel umlegen und fuehlte, wie das Maedchen erregt war.
Schweigend stiegen wir den Berg hinauf. Ich hatte einen maechtigen Groll
auf Stefenson. Er selber haenselte alle Welt, aber einen Scherz gegen seine
eigene hohe Person vertrug er nicht. Da hatte mir nun in all den Wochen
die schoene Eva brieflich ihren Liebeskummer geklagt, ich hatte ihr langsam
den Zorn gegen Stefenson, den sie der Ignazmaskerade wegen hegte,
ausgeredet, sie hatte endlich den Brief mit der Stelle von Jakob, der um
Rahel dient, erhalten, war dadurch geruehrt, heimlich in Waltersburg
angekommen und hatte sich in der Wohnung ihres Vaters, unseres jetzigen
Baurats, versteckt. Liebesselig und voller Sehnsucht. Ich, der das Maedchen
selbst geliebt hatte, war mit mir fertig geworden, guter Laune zu sein und
ihr zu einem unschuldigen Racheplan gegen den Geliebten zu helfen. Nun
scheiterte alles am Hochmut dieses Hansnarren.

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Wir waren kurz vor dem Grundhof, da blieb Stefenson ploetzlich stehen und
fing unbaendig an zu lachen. Es war schon gar kein Lachen mehr, es war ein
Kollern.

"Also", sagte er, "nun haben sie den Fuchs gefangen, und da sie ihn in der
Falle haben, machen sie beleidigte Gesichter, weil der Gefangene knurrt,
was doch selbstverstaendlich ist. Lieber Doktor, Freund und Menschenkenner,
bitte, gehen Sie mal freundlichst voran bis zur Lindenherberge und
erwarten Sie uns im Poetenwinkel. Wir kommen langsam nach."

Ich ging voran, und als die beiden anderen im Poetenwinkel eintrafen, sah
ich in ihnen ein glueckliches Paar.

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Es war noch nicht spaet, wir waren im Poetenwinkel allein, die Feriengaeste
noch alle beim Abendbrot. Als wir mit dem allerbesten Wein, den der
Herbergsvater besass, angestossen hatten, sagte Stefenson so ganz nebenher
zu mir:

"Dass der Kerl von der 'Umschau' zwei Mark fuer die Zeile der gefaelschten
Verlobungsnotiz von Ihnen genommen hat, war unverschaemt. Eine Mark waere
auch genug gewesen."

"Woher wissen Sie den Preis?"

"Na, ich war doch drueben in der Redaktion."

"In der Zeitung? Wann? Heute nachmittag?"

"Ja, natuerlich! Ich witterte etwas und wollte wissen, woher die 'Umschau'
die grosse Neuigkeit habe, und da kriegte ich mit Hilfe einiger
Ueberredungskunst und einigen Papiergeldes den ganzen schoenen Schwindel
heraus."

"Das ist infam!" rief ich.

"Er hat alles gewusst", sagte fassungslos die schoene Eva.

"Jawohl, alles!" schmunzelte Stefenson. "Dann, als ich von Neustadt
zurueckkam, ging ich gleich wieder zu unserem Herrn Doktor, und als mir der
so ganz geschickt und ganz und gar unauffaellig suggerierte, ich solle doch
durchaus mal zu der alten Sibylle gehen, da sagte ich mir: Hm, da ist was
dahinter! Da werden die Schlauberger mit dir wohl noch was vorhaben. Und
ich ging zu der alten Sibylle."

"Er hat mich sofort erkannt", klagte Eva. "So schlecht habe ich gespielt."

"Du hast herrlich gespielt!" rief Stefenson. "Du bist eine grosse
Kuenstlerin. Die Sprache - zum Fuerchten; das Aeussere - zum Schlechtwerden.
Zum Beispiel diese borstigen Warzen an Kinn und Hals. Ich habe nie eine
schrecklichere Theaterhexe gesehen."

"Es ist aus mit meiner Buehnenlaufbahn", sagte Eva. "Das ist die
furchtbarste Kritik, die ich bekommen konnte. Ich kann ihm nie, nie was
vormachen!"

"Nein", sagte Stefenson mit grosser Befriedigung, "und weil ich jetzt weiss,
dass du mir nie etwas vormachen kannst, heirate ich dich. Ich heirate dich
mit grosser innerer Ruhe und mit sehr grossem Vergnuegen!"

Dass uns aber auch diesmal der alte Fuchs uebertoelpelt hatte, aergerte mich
so, dass mir der gute Wein nicht mehr schmeckte.





                                  ADVENT


Es ist nun still geworden bei uns. Stefenson ist nach Amerika hinueber, um
in Eile seiner kuenftigen Frau ein Heim zu bereiten. Diesmal ist er
wirklich abgereist; ein Vertrauensmann von mir hat ihn in Hamburg an Bord
gehen sehen. Eva wohnt zwar bei ihrem Vater, haelt sich aber allermeist im
Forellenhof auf, der ihre zweite Heimat geworden ist. Der Bauer Barthel
hat seit dem Abenteuer seiner Verhaftung an Reputation etwas eingebuesst und
steht jetzt ganz unter dem Regiment der dicken Susanne; aber der alte
Friede ist wiedergekehrt.

Nur ein wenig still ist es. Methusalem und Emmerich, die lustigen
Burschen, haben auch laengst schweren Herzens von uns Abschied nehmen
muessen, um in ihr buergerliches Leben zurueckzukehren, und Piesecke ist vom
Forellenhof fortgezogen. Er wohnt jetzt in der Waldschoelzerei. Er sagte
mir, "er habe an Barthel und Susanne mit der Zeit ein Haar gefunden" und
wolle auch Eva aus dem Wege gehen. In Wirklichkeit hegt sein
leichtbewegliches Herz bereits eine neue Sehnsucht, und diese Sehnsucht
wohnt in der Waldschoelzerei. Sie heisst Agathe.

"Lieber Herr Doktor", sagte er dieser Tage zu mir, "wenn mich die kleine
Agathe will, dann moechte ich sie heiraten und mit ihr immer hier bei Ihnen
im Heim bleiben. Vielleicht kann ich mich mit etwas Kapital beteiligen und
eine kleine Stellung, so als Subdirektor oder aehnlich, bekommen. Ich
moechte nicht wieder fort von hier; die grosse Welt hat allen Reiz fuer mich
verloren."

"Wir wollen abwarten und ueberlegen, lieber Piesecke."

"Ich soll immer abwarten, nie handeln", sagte er betruebt.

"Sie haben eben in Ihrem frueheren Leben etwas zu viel gehandelt, lieber
Freund. Deshalb sind Sie ja jetzt in den Ferien."

Da fuegte er sich. -

Mit dem schweizerischen Namen "Heimwehfluh" ist eines unserer kleinen
Anwesen benannt, das in einer Waldecke so abseits vom Wege liegt wie die
Genovevenklause. Auf der Heimwehfluh wohnt jetzt Kaethe mit ihrem Kinde.
Die Frau ist blass und von zartester Gesundheit; aber ich habe nur mit Muehe
durchsetzen koennen, dass sie eine Bedienerin annahm. Sie wollte mit Luise
ganz allein sein.

Das Maedchen ist viel ruhiger geworden. Wohl hindert es die Mutter nicht,
zu anderen Kindern zum Spielen zu laufen, ja sie draengt es oft dazu, aber
das Kind bleibt am liebsten daheim. Dort ist es in einem ewig sonnigen
Paradies der Mutterliebe. Die Mutter dichtet Geschichten um Geschichten,
die Mutter spielt so schoen, wie niemand spielen kann, die Mutter macht
selbst das Lernen zur Lust.

Kaethe und das Kind sind noch die einzigen Kameraden, die ich hier habe.
Sie stoeren mich nicht. Ich weiss, dass sie im Frieden sind und dass sie mir,
wenn ich frage, wie es ihnen geht, immer nur die eine Antwort geben
werden: "Es geht uns gut!" Es ist schoen, Menschen zu begegnen, die sagen,
dass es ihnen gut gehe; es ist wie ein herzstaerkender Blick auf ein
heiteres Gelaende, der sich bei einer so lieben Antwort auftut.

Im Forellenhof wird jetzt viel geschneidert, gestrickt, gebastelt. Eva
schafft an ihrer Ausstattung, und alles Weibsvolk ist ganz naerrisch, ihr
dabei zu helfen. Es ist sehr heimlich in der grossen Bauernstube. Der Wind
zieht um die Giebel oder pfeift auf dem Schornstein wie auf einer grossen
Floete, der Regen knistert am Fenster, das Feuer flackert im Herd, die alte
Uhr geht freundlich ihren Weg hin und her mit ihrem Schlenkerbein.
Manchmal erzaehlt eine der Frauen eine Geschichte, manchmal rattert eine
Naehmaschine, manchmal spielt Vater Barthel auf der Ziehharmonika, oft
kommt einer von den "Mannsvoelkern" in die Stube, schuettelt sich wie ein
Pudel, waermt sich am Ofen und sagt etwas Nettes oder etwas Dummes, ueber
das gelacht werden kann. Was bei der Hausarbeit herauskommt, kann ich
nicht beurteilen. Eva wird eine sehr reiche Frau sein, aber vielleicht
sind ihr einmal diese mit recht verschiedenartigem Talent im Ferienheim
gestickten Monogramme und Schneidereien lieb und wert ...

Ich bekam eben einen Eilbrief von Methusalem aus Muenchen:






      "Lieber Doktor!

Unser Freund Stefenson (wo haette ich den Heimtuecker in dem langen Ignaz
vermutet!) hat mich von Amerika aus mit der ehrenvollen Aufgabe betraut,
die aeusseren Feierlichkeiten seines Hochzeitsfestes in Regie zu nehmen.
Trotz meines hohen Alters will ich die Aufgabe uebernehmen. (Notabene: Was
sagen Sie als Mediziner dazu, dass ich mit neunhundertachtundneunzig und
dreiviertel Jahren noch einen Weisheitszahn kriege?) Also uebernehmen! Die
bewilligten Mittel sind generoes. Man koennte damit alle Einwohner eines
deutschen Herzogtums drei Tage lang freihalten. Ich werde mit einem
Bruchteil des Geldes auskommen, und das Fest wird dennoch glaenzend sein.
Mein Freund Emmerich, bekanntlich Gesanglehrer an einer Taubstummenanstalt
und auch sonst ein beruehmter Musiker, uebernimmt den musikalischen Teil.
Das Fest soll am ersten Weihnachtsfeiertag im Rahmen eines grossen
deutschen Weihnachts- und Weihespieles stattfinden. Es ist allerhoechste
Zeit, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Erwarten Sie mich also schon
morgen; sagen Sie Frau Susanne, dass ich vor Sehnsucht nach ihr brenne,
durch welch schoene Redewendung sie erinnert sein soll, mein Zimmer gut zu
heizen, und bewegen Sie Freund Piesecke, in den intimeren Festausschuss
einzutreten.

                                                  Ihr getreuer Methusalem.

Nachschrift! Ich habe heute aus Freude, so bald nach dem geliebten
Waltersburg zurueckkehren zu koennen, bereits fuenf Purzelbaeume in meinem
Bett geschlagen. Ich finde das zwar unpatriarchalisch, aber es musste sein!

                                                              Methusalem."






Frau Susanne strahlte, als ich ihr Methusalems baldige Ankunft
verkuendigte, und rannte spornstreichs nach dem Kohlenkasten. Sie kann
ihren aeltesten Sohn nicht lieber haben als diesen Maler, der sie doch
staendig aergert und ueber den sie staendig schimpft.

Mit Piesecke dagegen hatte ich Schwierigkeiten.

"Ich lehne ab, dem Festausschuss beizutreten", sagte er kalt, als ich ihm
Methusalems Brief vorgelesen hatte. "Denn erstens, dieser Stefenson, der
mich als Knecht Ignaz gemisshandelt hat, verdient von mir keine
Gefaelligkeit, und diese Eva auch nicht. Was aber Methusalem und Emmerich
anbelangt, so habe ich mich einmal mit ihnen eingelassen und die
traurigsten Erfahrungen mit ihnen gemacht."

"Lieber Piesecke", sagte ich, "Sie werden sich das noch ueberlegen. Was
Stefenson anlangt, so sind Sie eine viel zu grosse Natur, um nachtraegerisch
zu sein. Und mit Methusalem und Emmerich duerfen Sie sich ruhig verbinden.
Ich gebe zu, dass sich die beiden in der Waltersburger Schlacht feig und
schaebig benommen haben. Waehrend Sie kaempften, hat der eine gezeichnet, der
andere seine Hymne gesungen. In den Kampf eingegriffen haben sie beide
nicht, obwohl es ihre Pflicht war. Sie sind eben keine Helden. Ein Fest
aber ist keine Schlacht; da werden die zwei ihren Mann stellen. Im uebrigen
gebe ich Ihnen zu bedenken, dass, falls Sie sich fernhielten, Fraeulein
Agathe aus der Waldschoelzerei den schweren Verdacht schoepfen koennte, Sie
haetten Ihren Gram um die verlorene Eva immer noch nicht verwunden."

"Oh", rief da Piesecke, "den hab ich gruendlich verwunden. Aber Sie haben
recht, der Verdacht laege nahe. Also mache ich mit!"

Schon am naechsten Morgen kehrten unter ungeheurem Hallo Methusalem und
Emmerich nach dem Ferienheim zurueck. Eine Stunde spaeter fand die erste
"Geheime Sitzung des intimeren Festausschusses", bestehend aus Methusalem,
Emmerich und Piesecke, statt. Ich hatte bescheiden angefragt, ob ich eine
beratende Stimme im Ausschuss haben duerfte, dieses war aber abgelehnt
worden.

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Was hatten wir fuer einen schoenen Heiligen Abend! Auch ueber die Festtage
war unsere Anstalt mit Gaesten gut besetzt, aber die Leute waren alle kurz
vor dem Christabend etwas stiller geworden. Ich merkte, wie viele an
Heimweh litten. Durch einen besonderen Anschlag war rechtzeitig
bekanntgegeben worden, dass jeder Feriengast ein Paket nach Hause senden
und ein solches von Hause erbitten solle. In den letzten Tagen trafen
viele solche Liebesgaben bei uns ein. Sie wurden in der Direktion
aufgestapelt. Wie nun der Abend kam am 24. Dezember, dieser heilig-suesse
Abend, an dem alle Herzen anders gehen als sonst, ritt auf schneeweissem
Ross Knecht Ruprecht von Haus zu Haus. Hinter ihm fuhren in einem mit
Silber, Gold und Tannengruen geschmueckten Schlitten vier Engelein, von
denen eines die kleine Luise war, dann kam ein Blaeserchor, zuletzt
stampften Zwerge und Waldgeister durch den Schnee, die schleppten alle
Pakete auf den Schultern und taten, als ob sie schwer daran zu tragen
haetten.

Vor jedem Bauernhof wurde haltgemacht. In der grossen Stube brannte der
Christbaum; Knecht Ruprecht trat ins Zimmer und sagte seinen
Weihnachtsgruss, die Engelchen sangen ein Lied, der Blaeserchor blies vor
dem Hause einen Choral, und die Zwerge und Waldgeister schleppten Pakete
herbei - Gruesse aus der Heimat.

Da hat keinem von unseren Feriengaesten die Weihnachtsstimmung gefehlt.

Auch ich hatte meine Weihnachtsfreude. Am Nachmittag erhielt ich ein
Kabeltelegramm von der Mutter aus Rio:

"Sehne mich nach dir. Gruesse von Joachim und mir an dich, Luise, Kaethe und
die Heimat. Eure Mutter."

Frieden auf Erden! Ich ging nach der Heimwehfluh. Kaethe sass am Fenster,
spaehte nach dem Lichtschein der Fackeln, die den Schlitten begleiteten,
darin ihr Kind sass, und hoerte auf die alten Weihnachtslieder, die aus dem
Tale klangen.

Ich gab ihr das Telegramm. Sie las es und wurde zum ersten Male wieder ein
wenig rot im Gesicht.

"Schenke es mir zu Weihnachten", bat sie.

"Ich habe es dir ja gebracht."

Ich blieb bei ihr, wollte Luises Rueckkehr abwarten.

Da sagte sie im Laufe des Abends:

"Ich weiss wohl, dass es nicht mehr allzu lange mit mir dauern kann. Aber
sage mir, ob ich uebers Jahr zu Weihnachten noch leben werde."

"Bestimmt, Kaethe."

Da trat ein Laecheln auf ihre Zuege.

"Das ist noch eine lange Zeit zum Gluecklichsein!"





                            HOCHZEIT UND ENDE


Stefensons Hochzeit fand am spaeten Nachmittag des ersten Christfeiertages
in aller Stille in der Waltersburger Kirche statt. Nur Evas Vater und ich
waren als Trauzeugen gegenwaertig. Wir waren nicht ueber den Marktplatz,
sondern auf einem Umweg nach der Kirche gefahren. So war das von
Methusalem angeordnet worden. Auf demselben Wege, den wir gekommen, mussten
wir auch wieder nach Hause fahren. Ich merkte, dass Stefenson verwundert
war. Die heilige Handlung in der Kirche hatte ihn geruehrt, und er hatte
wohl erwartet, dass es von der Kirche direkt nach dem Marktplatz zu einer
stimmungsvollen grossen Weihnachts- und Hochzeitsapotheose gehen wuerde.

Wir fuhren aber nach dem Heim zurueck, und zwar nach dem "Rathaus", und
wurden dort im grossen Saal von zahlreichen Feriengaesten erwartet. Das
Brautpaar wurde mit Heilrufen empfangen und zu seinen Ehrensitzen
geleitet. Ein schoenes Maedchen mit roten Rosen im Haar ueberreichte den zwei
Gluecklichen einen goldenen, mit Wein gefuellten Pokal, das
Hochzeitsgeschenk des Heimes, und sprach dazu Verse, die ein im Heim
anwesender Dichter geschaffen hatte:

   "Alles Wuenschen geht zur Ruh:
   Du bist ich, und ich bin du!
   All dein Schmerz und Leid ist mein,
   All mein Gut und Glueck sind dein!
   Wo dein Fuss geht, ist mein Ziel,
   Was zum Dienst dir, ist mein Spiel;
   Deine Blumen pflanze ich,
   Deine Taenze tanze ich;
   Ich will deinen Kummer klagen,
   Du sollst meine Kraenze tragen;
   Ich kann nimmer muede sein,
   Ehe du nicht schlummerst ein;
   Ja, mein Gott gruesst mich von fern,
   Strahlt auf dich ein goldner Stern."

So sprach der Dichter in den Ferien vom Ich zu dem Brautpaar.

Schoene Lieder wurden gesungen, die Musikmeister Emmerich eingeuebt hatte.
Ansprachen wurden gehalten von unserem Direktor, von je einem Vertreter
der Kurgaeste wie der Angestellten, schliesslich sprach auch ich ein paar
Freundesworte.

Stefenson war bewegt, als er fuer die Liebe, die er erfuhr, dankte, als er
sagte, er habe in diesem deutschen Tale den Frieden gefunden, den er
drueben im Lande der ruecksichtslosen Dollarjagd niemals gekannt hatte. Hier
habe er nach einem Leben voll Aufregung, Ueberarbeit und gelegentlichen
wilden Genuessen nicht nur Ferien, sondern Feierabend gemacht. Er wisse
jetzt, da er die Frau seines Herzens gefunden habe, dass ein hoeheres Glueck
ihm Gott nicht mehr geben koenne, und so wolle er drueben in Amerika seine
Beziehungen klug und vorsichtig zu loesen suchen und dann ganz nach
Deutschland ziehen, das ja doch seine wahre Heimat sei.

                                    *

"Und nun", kommandierte Methusalem, "grosser Festkorso auf den
Weihnachtsberg."

Draussen war es stockdunkel; die Strassenbeleuchtung war ausgeschaltet; aber
Fackeln und Laternen leuchteten phantastisch, und der Schnee schimmerte.
Wohl fuenfzig Schlitten hielten da. Dem Zuge voran leuchtete eine riesige,
ballonartige Laterne, die an hohen Stangen getragen wurde. Auf der einen
Seite zeigte die Ballonhuelle das liebliche Bild der "Hanne vom
Forellenhof", auf der anderen eine scheusslich anzusehende, aber genial
gezeichnete Karikatur Stefensons. Ein Meisterstueck Methusalems.

Vom Berg herab kam uns viel Volk entgegen; die Leute trugen Laternen mit
transparenten Bildern: Methusalem hatte sich selbst verewigt, als
tausendjaehrigen Greis voller Guete und Abgeklaertheit, Emmerich war von
einem Mueckenschwarm fliegender Noten, Violinschluessel, Kreuzen,
Aufloesungszeichen und Fermaten umgeben, die dicke Susanne strahlte in
zinnoberrotem Licht und schimpfte fuerchterlich, als sie ihr Konterfei sah,
Barthel als gefesselter Verbrecher war zu sehen, Levisohn mit einer
riesigen Reklametrompete, Piesecke als Gott Mars in furchtbarer Ruestung,
schliesslich auch mein etwas ins Sentimentale karikierter Kopf, den ein
Kranz von heulenden, bellenden, hochnaesigen, sich Floehe schabenden Dackeln
lieblich umrahmte. Lauter Meisterwerke des liebenswuerdigen Greises und
Vergnuegungsleiters Methusalem.

Als wir der Weihnachtsburg naeher kamen, erstrahlte sie in farbigen
Lichtern, Boellerschuesse hallten ueber Berg und Tal, und ein Chor blies vom
grauen Turme herab:

   "O du froehliche, o du selige,
   Gnadenbringende Weihnachtszeit."

Gleich hinterher aber:

   "Wenn Weihnachten ist,
   Wenn Weihnachten ist,
   Dann kommt zu uns der heil'ge Christ;
   Bringt jedem eine Muh,
   Bringt jedem eine Maeh,
   Bringt jedem eine wunderschoene Schnaetteraettaettae!"

Unter den Klaengen dieser grossen Hymne der Froehlichkeit zogen wir in die
Weihnachtsburg ein.

Der grosse mit Tannenreis ausgeschmueckte Saal der Weihnachtsburg fuellte
sich mit Menschen; Braeutigam und Braut waren zunaechst nicht zu sehen. Nach
etwa einer halben Stunde aber erschienen beide auf einer kleinen Empore.
Sie hatten ihre hochzeitlichen Kleider abgetan und waren in phantastischen
Kostuemen, er als Winterkoenig, sie als Koenigin. Regie Methusalem!

Mit donnerstimmigem Heilruf wurde das Brautpaar begruesst. Holdselig
laechelnd gruesste die Braut in den Saal; steif und ungelenk verneigte sich
Stefenson. Er fuehlte sich als Winterkoenig sichtlich unbehaglich. Der Thron
stand auf einer amphitheatralisch ansteigenden Buehne. Ich selbst war als
"Kammerherr" neben Stefenson plaziert.

Scheinwerfer warfen auf uns wechselnde Lichter. Atemlos stand das
schlichte Bergvolk. Alle Maerchen- und Himmelstraeume schienen vor ihm
erfuellt. Feierliche Weisen erklangen, und dann sprach nicht der
Winterkoenig Stefenson, wie alle vermutet hatten, sondern Herr Methusalem
sprach, der die Tracht eines mittelalterlichen Notarius angelegt hatte. Er
entfaltete ein Pergament und verkuendete: "Edles Gefolge des Koenigs und der
Frau Koenigin! Ich als Kanzellarius Seiner Majestaet Koenig Stefensons des
Ganzgrossen und Hochdero majestaetischer Gemahlin Hanne der Einzigen
verkuende, damit es maenniglich erfahre, feierlich, oeffentlich und
unwiderruflich folgendes:

Wir, Stefenson der Ganzgrosse und Hoechstmeine erlauchte Gemahlin Hanne,
wollen, dass dieser glueckliche Tag ein Andenken hinterlasse. Darum machen
wir fuer Waltersburg eine Stiftung von hunderttausend Mark mit der
Bestimmung, dass alljaehrlich ein Drittel der Stiftungszinsen alten
beduerftigen Eheleuten, ein zweites Drittel den Waltersburger Schulkindern
zugute komme; das dritte und letzte Drittel aber ist zu
Hochzeitsgeschenken fuer die in jedem Jahr Heiratenden bestimmt, von
welcher Stiftung sich keines, auch nicht das wohlhabendste Brautpaar
ausschliessen soll, auch wenn es nur ein Blumenstraeusschen annimmt; den
aermeren aber soll ein guter Happen fuer den Nestbau gegeben werden."

Eine brausende Welle des Beifalls donnerte durch den Saal.

Ich sah verwundert auf Stefenson und fluesterte ihm zu:

"Wissen Sie etwas von dieser Stiftung?"

"Kein Wort! Der Kerl verschenkt mein Vermoegen."

Mir wurde doch etwas schwuel. Oh, dieser Methusalem - dieser Regisseur!

Methusalem fuhr fort:

"Stefenson fragt nicht nach Ehre und Ruhm, nicht nach Beifall und Dank.
Nur Liebe und Vertrauen will er. Auf diesem goldenen Untergrunde will er
mit euch leben und schaffen fuer das Gedeihen seiner Gruendung, fuer den Ruhm
Waltersburgs, fuer das Heil der Menschheit. Nun wisst ihr vielleicht alle,
dass unter den vielen Geplagten, die in der harten Schule des Lebens muede
und krank geworden, hier in dieses schoene Tal kommen, um Ferien zu machen,
einer daherhumpelte, von langer, langer Reise, auf der er Arbeit und Muehe
in ertraeglichem Masse, Verkennung und Not in Ueberfuelle, echtes Glueck und
wahre Freude aber wenig fand. Dieses Mannes Leben war lang, er war
Methusalem. Hier in Waltersburg aber fand Methusalem Freude und Friede.
Methusalem ist der Leiter dieses Festes, Methusalem ist aller Weltweisheit
und Welterfahrung voll, darum soll auch die Stiftung, die Stefenson heute
macht, nicht Stefenson-Stiftung, sondern Methusalem-Stiftung heissen."

Das Volk staunte.

"Auch das noch!" sagte Stefenson neben mir.

"Ja, es ist frech; ausser den fuenftausend Mark, die Methusalem neulich fuer
Susannes Bild erhielt, hat er sicher nicht einen roten Heller. Und macht
eine Methusalem-Stiftung von hunderttausend Mark!"

Da erhob sich Stefenson zur Rede. Tiefe Stille.

"Meine lieben Waltersburger, von allem, was Methusalem an meiner Statt
hier gesagt hat, muss ich nur einem widersprechen, das betrifft die
Stiftung."

Bestuerzung. Schweigen.

"Methusalem, mein bevollmaechtigter Hochzeitskanzler, hat sich in einem
Irrtum befunden, den ich berichtige. Die Stiftungssumme betraegt naemlich
nicht einhunderttausend Mark, sondern dreihunderttausend Mark!"

Erst Stille. Dann knallartig losbrechender, rasender Tumult. Die Braut
stand auf, der Braeutigam sprach auf sie ein, waehrend die Leute laermten;
die Augen der glueckseligen Braut glaenzten, sie schmiegte sich fest an den
Arm des starken Mannes. Methusalem stand mit eigentuemlichem, fast
weinerlichem Laecheln daneben. Stefenson verschaffte sich wieder Gehoer.

"Buerger von Waltersburg! Nur die Stiftungssumme hatte ich zu berichtigen,
alles andere bleibt, wie es der weise Methusalem angeordnet hat, die
Verteilung der Zinsen wie auch der Name: Methusalem-Stiftung."

Da fing Methusalem, der durchtriebene Methusalem, der aussah, als sei er
fuenfunddreissig Jahre, und doch nach seiner eigenen Angabe
neunhundertneunundneunzig war, an richtig zu heulen. Und zwar nicht so wie
ein tausendjaehriger Mummelgreis, sondern wie ein Mann der Dreissiger
gelegentlich mal heult.

         -------------------------------------------------------

Nach meiner Mutter Haus hatte Methusalem, der Leiter des Festes, die
Koffer des Brautpaares schaffen lassen. Dort kleidete sich das Paar, als
sich der Trubel verlaufen hatte, zur Reise an. Dann fahren sie noch heute
mit dem Nachtzuge davon.

Wir waren in der Wohnstube der Mutter. Ein paar nahestehende Freunde waren
da.

Zum Abschied sagte Stefenson zu mir:

"Es gibt kein besseres Band, das Freundschaft bindet, als das gemeinsame
Schaffen an einem erfolgreichen Werke. So werden wir zwei immer gute
Freunde sein. Wir wollen 'du' zueinander sagen wie Brueder!"

Ich schlug in die dargereichte Hand.

"Wann kommst du wieder?"

"Ich weiss es noch nicht; ich weiss nicht, wie und wann ich drueben loskomme.
Aber loskommen werde ich. Was ich dann tue, kann ich noch nicht sagen.
Vielleicht tauchen eines Tages zwei Feriengaeste bei euch auf, irgendein
Herr Schulze mit Frau, und vielleicht kommen dir diese Gaeste bekannt vor.
Ich werde nie anders denn als Gast im Ferienheim einkehren; ich will diese
meine Lieblingsschoepfung mir nicht zum Verwaltungsbezirke, nicht zum
Arbeitsgebiete werden lassen, sondern hier soll mir eine Ferienzuflucht,
eine glueckliche Heimat fuer immer bewahrt sein."

Eva hoerte ihm zu und war ihm dankbar fuer diese Worte. O ja, diese beiden
passten zu einer Ehe, der starke Mann und das schoene, froehliche Weib.

"Du freilich, lieber Freund, du hast hier keine Ferien; du hast hier deine
Arbeitsstaette. Und wenn du einmal ausspannen willst, dann kommst du zu
uns, dann fahren wir mit dir, der dann der Stille entronnen ist, dorthin,
wo die Welt laut und bunt ist. Dort machst du dann Ferien von deinem
stillen Ich, und wenn du nach Hause zurueckkehrst, wird dir das alltaegliche
Leben wieder schmackhaft sein."

"Ja, so wollen wir es halten!"

"Nun denn, so waeren wir wohl fuer diesmal hier fertig."

Stefenson zog ein Notizbuch heraus und blaetterte darin. Sein Gesicht bekam
wieder die alte Geschaeftsmiene.

"Halt, da ist noch etwas zu erledigen. Ich habe mir mal als Knecht Ignaz
von dem Schuhmacher Roehricht die Stiefel besohlen lassen. Er hat auf die
Rechnung geschrieben: Sohlen und zwei Absaetze zwei Mark und fuenfundachtzig
Pfennig, hat aber nur einen Absatz zu machen gehabt. Ich habe ihm daher
fuenfundzwanzig Pfennig abziehen wollen, und wir haben so lange gestritten,
bis ich inzwischen verhaftet wurde und dann alles das andere kam. So steht
der Posten noch offen. Ich bitte, erledige das, lieber Freund! Aber nicht
zwei Mark und fuenfundachtzig Pfennig, sondern nur zwei Mark und sechzig
Pfennige, hoerst du wohl? Ein Knecht kann nicht fuenfundzwanzig Pfennig
umsonst hergeben. Vergiss es nicht! Roehricht heisst der Mann, Hintermarkt
15, drei Stiegen."

Ein vergnuegtes Lachen toente aus der Ecke von meiner Mutter Sofa.

"Was lachen Sie denn, Piesecke?"

"Ja, Pardon, Herr Stefenson, aber erst dreihunderttausend Mark verschenken
und dann wegen fuenfundzwanzig Pfennig - so in der Abschiedsstunde - das -
das ist - Pardon - merkwuerdig!"

"Gar nicht merkwuerdig, lieber Piesecke. Weil ich immer die Rechnungen auf
die Fuenfundzwanzig-Pfennig-Bilanz geprueft habe, kann ich mal gelegentlich
dreihunderttausend Mark verschenken."

"Sehr - sehr kaufmaennisch! Sehr lehrreich!"

"Jawohl! Aber nicht fuer Sie! Fuer Sie waere das zu unfuerstlich."

Wenig fehlte, so waeren auch in letzter Stunde die alten Gegner, der
rechnende Kaufmann und der leichtfertige Fuerstensohn, noch aneinander
geraten. Die dicke Susanne waelzte sich zwischen beide und loeschte mit
einer Flut von Abschiedstraenen den entstehenden Brand.

         -------------------------------------------------------

Sie sind alle fort. In tiefer Stille liegt der Marktplatz. Ich oeffne das
Fenster. Die Luft ist milder geworden. Am hocherhobenen Arm des heiligen
Baptista haengt ein glitzernder schwerer Eiszapfen wie ein Schwert. Am
Himmel stehen zwischen dem Gewoelk ein paar freundliche Sterne. Im
Schneemantel schaut der Heilige herueber zu mir. Suchen seine Augen die
kleine, feine Frau, die sonst so oft zu ihm hinuebertraeumte?

Sie ist in weiter Ferne, bei dem, den ihre Sehnsucht suchte in all den
alten Tagen. Das Haus ist leer. Ich sehe mich in der grossen Stube um, und
es ist mir auf einmal bange zumute wie einem Kinde, das nach Hause
gekommen ist, wenn Vater und Mutter nicht da sind. So schliesse ich das
Fenster. Unschluessig bleibe ich noch ein Weilchen stehen, dann ziehe ich
die Uhr auf, fuehle noch einmal an den Ofen. Endlich loesche ich die Lampe
aus und tappe die Treppe hinab ...

Ich habe jetzt grosse Ferien vom Ich. Mutter und Bruder sind fort, der
Freund mit der Frau fort, die ich geliebt habe, auch Methusalem und die
anderen lustigen Kaeuze verschwinden bald wieder. Ich stehe ganz frei und
ganz allein auf dem Marktplatz von Waltersburg. Schliesslich ist der alte
Baptista jetzt noch mein einziger, staendiger Freund hierzulande.

Ob die anderen wiederkehren werden? Wer kann es wissen? Wie lange die
stille Frau auf der Heimwehfluh sich noch ihres Kindes freuen wird, ein,
zwei, drei Jahre ...? Ob dann, wenn sie Ferien macht fuer immer, die kleine
Anneliese, die jetzt als Schullehrerin in einem verlassenen Gebirgsdorfe
lebt, doch noch Joachims Frau werden und uebers Meer zu ihm ziehen wird?
Und ob dann die Mutter heimkehren wird in ihre schoene alte Stube? Lauter
Fragen ohne Antwort. Das Leben bringt nichts so leichthin zum Abschluss wie
ein Theaterstueck oder ein Buch; es ist nie am Ende, es beginnt immer von
neuem.

So gehe ich von diesem Marktplatze hinweg, steige den Berg hinauf zu
meinem Werk.

Eine koestliche Siedlung ist da entstanden auf leeren Halden, im oeden
Walde. Hundert Fenster blitzen in goldigem Lampenlicht, Singen und Lachen
kommt aus den Bauernhoefen. Alle Leute, die mir begegnen, gruessen mich oder
rufen mir freundlich zu. Hier bin ich nicht allein. Bei meiner Arbeit bin
ich zu Hause.

In der Wueste sah ich einmal einen Mann mit gefuellten Wasserschlaeuchen am
Brunnen der Oase stehen, als sich unsere halbverschmachtete Karawane
fiebergluehend auf sie zuschleppte. Da dachte ich, es muesse schoen sein, mit
gefuellten Wasserschlaeuchen Verdurstenden entgegenzusehen. Ich will so sein
wie jener Mann. Alle, die zu mir kommen von der heissen Strasse des Alltags,
will ich laben aus dem kuehlen Brunnen, den ich grub.

Dann wird es mir so gut ergehen, dass ich nichts anderes vom Leben mehr
verlangen will; denn es ist die groesste Lust des Lebens, anderen die Last
des Lebens zu erleichtern.






                       BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT


Das Inhaltsverzeichnis wurde von der letzten Seite an den Beginn versetzt.

Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. Einzelne Woerter in Antiqua
(bis auf den Titel "Dr." und roemische Zahlen) und gesperrte Woerter sind
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Korrektur offensichtlicher Druckfehler:

      Seite 27: doppeltes "freue" entfernt.
      Seite 43: "Stefensohn" in "Stefenson" geaendert.
      Seite 75: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Die Luise habe
      ich flottgemacht.").
      Seite 91: "mit" in "mir" geaendert.
      Seite 97: "philantropische" in "philanthropische" geaendert.
      Seite 101: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "des Magistrats
      von Waltersburg stellen")
      Seite 103: doppeltes "und" entfernt (vor "in einer glaenzenden
      Erfassung")
      Seite 118: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Das haben").
      Seite 128: "umqartieren" in "umquartieren" geaendert.
      Seite 145: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "bis um
      sieben.")
      Seite 164: "Xantippen" in "Xanthippen" geaendert.
      Seite 170: "reckt" in "reckte" geaendert.
      Seite 238: "Widersehen" in "Wiedersehen" geaendert.
      Seite 243: "Rauberhoehle" in "Raeuberhoehle" geaendert.
      Seite 244: "Apothese" in "Apotheose" und "den" in "der" (nach
      "Vertreter") geaendert.
      Seite 254: "ueberzeugenste" in "ueberzeugendste" geaendert.
      Seite 261: "Hentschel" in "Henschel" geaendert.
      Seite 309: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Wieso
      Komoedie?")
      Seite 347: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "staerken
      wuerde.")
      Seite 377: "Lewinsohn" in "Levisohn" geaendert.

Nicht korrigiert wurden Varianten wie "Chicago"/"Chikago",
"debutieren"/"debuetieren", "Annelies"/"Anneliese" oder "anderen"/"andern".





***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FERIEN VOM ICH***



                                 CREDITS


May 23, 2009

            Project Gutenberg TEI edition 1
            Norbert H. Langkau, Stefan Cramme and the Online Distributed
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Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael Hart, the owner of the
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                                   1.F.


                                  1.F.1.


Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable effort to
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efforts, Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works, and the medium on which they
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                                  1.F.4.


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                                  1.F.5.


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                               Section  2.


           Information about the Mission of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}


Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} is synonymous with the free distribution of electronic
works in formats readable by the widest variety of computers including
obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the
efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks
of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance
they need, is critical to reaching Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~}'s goals and ensuring
that the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} collection will remain freely available for
generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation was created to provide a secure and permanent future for
Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} and future generations. To learn more about the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations
can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at
http://www.pglaf.org.


                                Section 3.


   Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation


The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of
Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service.
The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541.
Its 501(c)(3) letter is posted at
http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf. Contributions to the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full
extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr.
S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North
1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information
can be found at the Foundation's web site and official page at
http://www.pglaf.org

For additional contact information:


    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org


                                Section 4.


  Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive
                                Foundation


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in machine readable form accessible by the widest array of equipment
including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are
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                                Section 5.


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